Vorzeitiger Rollentausch in der Familie:Kinder pflegen Eltern

Sind Eltern krank, drehen sich die Rollen um: Kinder werden zu Erwachsenen, die Mama und Papa pflegen. Aus Angst und Scham wird die Situation oft verschwiegen. Doch es gibt Hilfe.

Wenn Mama oder Papa krank sind, ist das für Kinder schlimm. Sie sorgen sich um ihre Eltern. Häufig kommt noch eine weitere Belastung hinzu: Sie helfen dem kranken Elternteil, entlasten und unterstützen ihn. "Wenn jemand in der Familie chronisch krank ist, nimmt das Einfluss auf die gesamte Familie", sagt die Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing-Blau von der Universität Witten-Herdecke.

Begleiter auf dem letzten Weg

Was tun, wenn die Eltern nicht mehr können? Aus dem Teufelskreis von Angst, Scham und Schweigen kommen viele Familien aber nicht heraus.

(Foto: ag.ddp)

"Der Alltag verändert sich und muss reorganisiert werden." Metzing-Blau leitet seit 2004 eine Studie, die das Leben von Kindern chronisch kranker Eltern beleuchten soll. "Die Kinder füllen die Lücken, die entstehen", sagt sie. Kann Mama nicht mehr kochen, weil es zu anstrengend ist, übernehmen das die Kinder, sofern Papa nicht in der Nähe ist. Aber auch, wenn Mama oder Papa nicht mehr alleine gehen können und nachts auf die Toilette müssen, sind Kinder zur Stelle.

Besonders schwierig ist die Situation für Alleinerziehende. "Kein Elternteil tut das freiwillig, sich von seinem Kind pflegen zu lassen", sagt Metzing-Blau. Sie und ihr Team haben mit 81 betroffenen Kindern und Eltern gesprochen. Ihr Fazit: Oft wachsen Familien ungewollt in die Pflegesituation hinein, auch deshalb, weil qualifizierte Beratungen fehlen. "Viele Familien haben keine angemessene Unterstützung von außen", sagt Metzing-Blau.

Zwar helfen Krankenkasse, Pflegeversicherung und Sozialamt, wenn es um die Bewilligung von Pflegegeldern geht. Aber nur eine 24-Stunden-Betreuung wäre auch beim nächtlichen Toilettengang zur Stelle - und die gibt es in den meisten Fällen nicht. Außerdem kümmern sich Pfleger nicht um die Kinder. Sie sind nicht Ansprechpartner für Sorgen und Belastungen, helfen nicht bei den Hausaufgaben oder spielen mit den Kindern Fußball.

Genaue Zahlen darüber, wie viele "kleine Pfleger" in Deutschland leben, gibt es nicht. Viele betroffene Familien leben unauffällig im Verborgenen, meist aus Scham und Angst vor übereifrigen Behörden. "An die Kinder, die extrem in die Pflege eingebunden sind, kommen wir gar nicht ran", sagt die Pädagogin Kathrin Hornung vom Hamburger Modellprojekt "SupaKids".

"Viele Eltern haben Angst, dass das Jugendamt kommen und ihnen die Kinder wegnehmen könnte." Diese Sorge sei in den meisten Fällen zwar unbegründet. Aus dem Teufelskreis aus Angst, Scham und Schweigen kommen viele Familien aber nicht heraus.

Das Projekt "SupaKids" will das ändern. Es entstand im Rahmen der Studie an der Uni Witten-Herdecke. In Zusammenarbeit mit der DRK-Schwesternschaft Hamburg bietet es seit rund einem Jahr eine Anlaufstelle für Familien und vor allem für die Kinder. Anonym und kostenlos hilft es Betroffenen. Der Nachwuchs kann bei diversen Freizeitaktivitäten entspannen und "einfach mal Kind sein".

Außerdem gibt es Gesprächsangebote, die die Kinder praktisch und psychologisch unterstützen sollen, um mit der Krankheit oder der Behinderung ihrer Eltern zurechtzukommen. "Für Kinder ist der Umgang mit der Krankheit der Eltern auch deshalb schwierig, weil sie in ihrem Umfeld oft deswegen gehänselt werden", sagt Hornung. Vor allem Jugendliche schämen sich oft für die Krankheit der Eltern und sprechen das Thema in ihrem Freundeskreis gar nicht erst an. Wenn auch zuhause nicht darüber gesprochen wird, gibt es für die Kinder meist niemanden, dem sie sich mit ihren Sorgen und Ängsten anvertrauen können.

"Man macht die Situation nicht besser, indem man nicht darüber redet", versucht Hornung den Familien immer wieder klar zu machen. "Offenheit ist ganz wichtig." Das propagiert auch der Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern in Hannover. Geschäftsführerin Kerstin Blochberger sagt: "In der Öffentlichkeit fehlt größtenteils noch das Verständnis für das Problem." Chronisch kranke oder behinderte Eltern erfahren eher Vorwürfe als Unterstützung. Wie könne man einem Kind das antun? Man habe doch vorher gewusst, dass man im Rollstuhl sitzt oder depressive Anfälle einem das Leben schwer machen.

Wer dennoch wagt, um Hilfe zu bitten, hat oft einen langen Weg vor sich. "Das ist ein Gang durch die Institutionen und ohne einen Anwalt an der Seite erreicht man häufig nichts", sagt Blochberger. Ihr Verband fordert, Betroffenen zumindest für schwierige Phasen eine Elternassistenz zur Seite zu stellen. So sei es für Blinde vor allem in den ersten Jahren schwierig, sich um die durch die Wohnung flitzenden Kleinkinder ganz alleine zu kümmern.

Rheumatiker dagegen bräuchten nur hin und wieder - wenn die Schmerzen Überhand nehmen - Hilfe. Und ein an Multipler Sklerose erkrankter Vater, der im Rollstuhl sitzt, könnte einmal die Woche vom Beckenrand aus zuschauen, wie die Elternassistenz mit seinen Kindern im Schwimmbad spielt. In der Realität ist die Elternassistenz derzeit aber noch der Ausnahmefall. Meist organisieren Familien ihre Hilfen ganz alleine.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: