Vorbilder der Deutschen:Holt sie vom Sockel!

Käßmann, Guttenberg, Wulff, Hoeneß - eines nach dem anderen zerbröseln unsere Vorbilder. Die Dekmalsturz-Industrie rüttelt nach jeder Verfehlung begeistert am Sockel. Vielleicht sollten wir uns mal fragen, ob wir unseren Idolen nicht zu viel aufbürden.

Von Hilmar Klute

Am Ende seines Lebens war er plötzlich ein Vorbild für Hunderttausende, und das nur, weil er ein schmales Buch geschrieben hatte, in welchem stand, dass man sich nicht alles gefallen lassen soll. Und wenn man ihm begegnete in diesen sehr späten Jahren seines fünfundneunzig Jahre dauernden Lebens, dann spürte man bei Stéphane Hessel eine beinahe kindliche Verlegenheit angesichts seiner seltsamen Apotheose.

Denn eigentlich sei er ja kein sehr moralischer Mensch, sagte er. Manchmal habe er sogar zwei Freundinnen gleichzeitig gehabt und musste sich daher ein raffiniertes Täuschungssystem zurechtlegen; immer wieder lüge er Leute an, nur um sich deren Sympathie zu erhalten. Er nannte das Diplomatie respektive, was noch eleganter klingt: sérenité, weil er die Ausgeglichenheit zwischen sich und dem Gegenüber wichtiger fand als die Krittelei an den Lebensweisen anderer.

Stéphane Hessel sagte: Empört euch gegen das, was skrupellose Staatenlenker, verantwortungslose Banker und bedenkenfreie Stadtplaner mit euch machen wollen. Aber lasst den anderen sein privates Leben so führen, wie er es für richtig hält und seid um Himmels willen großzügig in Toleranzgeschäften und geizig im Aussenden bürgerlicher Moral.

Ein freundlicher, schlanker, lächelnder alter Mann war er, ein Causeur mit der Lässigkeit des Weltbürgers, der zuhören konnte und gleichzeitig so bei sich war, dass man sich wünschte, er würde öfter mit uns sprechen. Mit uns, wohlgemerkt! Nicht zu uns wie das kalte Orakel Helmut Schmidt, der uns die Fernsehbuden vollqualmt, dessen Übellaunigkeit viele als Souveränität missverstehen, der den Deutschen aber nach wie vor als größtes lebendes Vorbild gilt.

Unverkrampftes Vorbild

Stéphane Hessel, der deutsche Franzose, der Résistance-Kämpfer und Diplomat, der Gedichte von Rilke, Apollinaire und Auden auswendig sagen konnte, und der wusste, dass man nur dann ein rundes Leben geführt hat, wenn man seine Fehler und Charakterschwächen als Teil dieser Rundung begreift - er hätte uns Deutschen eine Zeitlang ein unverkrampftes, welterklärendes Vorbild sein können.

Aber komischerweise sehen unsere Vorbilder alle irgendwie anders aus, sie sind simpler gestrickt, weniger komplex beschaffen und in ihrer Wirkungszeit als Vorbilder frei von Widersprüchen. Sie sind rundum perfekt und kantenlos bis zu dem Zeitpunkt, da irgendeiner den Blick in die vor Jahren abgepinnte Doktorarbeit wirft oder eine Behörde die Kontoausdrucke durcharbeitet. Dann erweisen sich diese Vorbilder als untauglich, und wir müssen sie leider zum Teufel jagen, weil sie sich mit irgendetwas beschmutzt haben und uns Gutgläubige gleich dazu.

Wollen wir noch einmal die Galerie der jüngsten Vorbild-Desaster abschreiten?

Da war eine Bischöfin, die das rücksichtsvolle Miteinander lehrte, das protestantische aufeinander Achtgeben, und die dann mit Leben gefährdenden 1,54 Promille im Blut in der Innenstadt von Hannover von einer Polizeistreife aus der Fahrbahn gewunken wird. Dann gab es den Bundesminister, der ehrlicher und unverfälschter daherkommen wollte, als man es von Politikern gewohnt zu sein schien; ein Mann, der mit jener Mehrheit der Bevölkerung im Bunde war, die sich nach einem neuen Politikstil sehnte, irgendwas mit Coolness und Gradlinigkeit. Und der sich am Ende eine unüberschaubare Textmenge aus seiner Doktorarbeit um die Ohren schlagen lassen musste - er hatte fast alles darin abgeschrieben. Schließlich hatten wir einen Bundespräsidenten, der einen juvenilen Schwung ins Amt bringen wollte, der kleine Kinder und eine junge Frau ins Schloss Bellevue einziehen ließ und den Verführungen der Scheckbuchsociety dermaßen erlegen war, dass er gar nicht mehr erkannte, was Amtswürde bedeutet und was richtig und falsch ist. Zuletzt verloren wir einen Fußball-Manager als Vorbild, der hemdsärmelig gegen soziale Ungerechtigkeit anschimpfte, für eine Paritätsgesellschaft eintrat und sich am Ende selbst anzeigte, weil er Millionen Euro Steuern am Finanzamt vorbeigewirtschaftet hatte.

Deutschland, deine Denkmalsturz-Industrie

Sobald derlei Verfehlungen ruchbar werden, möchten wir unsere Vorbilder am liebsten keimfrei entsorgen. Der Staat möge sich bitte um den lügenhaften Minister Guttenberg kümmern, die Kirche die trinkfreudige Theologin Käßmann anderen Aufgaben zuführen, und die Staatsanwaltschaft soll sich den Hoeneß zur Brust nehmen. Den medial und bald auch präjudikativ dünngeprügelten Bundespräsidenten Wulff tröten wir zum Abschied mit unseren Vuvuzelas nieder, den Jerichotrompeten unserer gerechten Empörung.

Gefallene Vorbilder nehmen in unseren Gesellschaften eine besondere Funktion ein. Ihnen ist etwas geschehen, das so grotesk ihrer zugewiesenen Rolle widerspricht, dass ihnen und dem Publikum zunächst einmal der Atem wegbleibt. Aber wenn wir uns wieder gefasst haben, rechnen wir alles klein, was wir an diesen Leuten bewundert haben. Wir wollen diese Vorbilder nicht mehr, wir schicken sie zum Teufel, weil sie leider genau so sind wie wir: bemüht, sich anständig durchs Leben zu bewegen und dabei ständig verführbar, verführt, am Ende gescheitert - an den eigenen Ansprüchen oder den der anderen. Ach, könnten wir uns nur ein Vorbild zimmern wie der Bildhauer Pygmalion aus Ovids Metamorphosen, an dem wir so lange feilen, bis es uns perfekt erscheint, und dann erst lassen wir es ins Leben tanzen.

Wenn jemand sehr lange das Amt des Vorbilds oder der moralischen Instanz eingenommen und in diesem Amt gewissermaßen konkurrenzlos gewirkt hat, dann ruft eine vermeintliche Verfehlung des Heroen eine ganze publizistische Denkmalsturz-Industrie in Gang. Bei Günter Grass, dem Langzeit-Korrektiv der schuld- und geschichtsvergessenen deutschen Gesellschaft, war das zum ersten Mal der Fall, als er seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS einräumte.

Ungleich heftiger, sagen wir ruhig: lustvoller ging die Abräumarbeit vonstatten, als Grass in dieser Zeitung sein Gedicht "Was gesagt werden muss" publiziert hatte, in welchem er seiner Befürchtung Ausdruck verlieh, der Staat Israel könne Atomwaffen gegen Iran zünden - eine Volte, die ihm als Antisemitismus ausgelegt wurde. Die Statue Grass war schon längst vom Sockel gestürzt und in ihre Einzelteile zerstoben, aber diese Einzelteile wurden immer noch mit ganzer Kraft durch den Staub gezogen. Manchmal sieht es so aus, als seien Vorbilder erst dann interessant, wenn sie zerlegt worden sind.

Gestörtes Sauberkeitsempfinden

Das gilt insbesondere dann, wenn Menschen mit besonders geleckten Biografien und Karrieren auf den Plan treten wie der amerikanische Vier-Sterne-General und spätere CIA-Chef General David Petraeus, der vornehmlich für seine eisenharte Disziplin und seine logistische Brillanz im Afghanistan-Einsatz bekannt war. Ausgerechnet er hatte sich auf eine Affäre mit der Militärforscherin und Elite-Soldatin Paula Broadwell eingelassen. Politisch und militärisch gesehen hatte die Liaison überhaupt keine Folgen, es wurden keine Geheimnisse verraten und das Land wurde nicht geschwächt; dafür aber das Sauberkeitsempfinden derer gestört, die der Ansicht sind, Integrität müsse sich in allen Lebensbereichen einer öffentlichen Figur widerspiegeln.

Das Tugendgebot, ein inzwischen international angewendetes Gesetz, kann einer noch so wichtigen Integrationsfigur den Garaus machen - im Weißen Haus trat man zu Krisengesprächen zusammen, als Genevieve Cook, eine frühere Freundin von Barack Obama ihre olfaktorischen Erinnerungen an die Liebesnacht mit dem späteren Vorbilds-Präsidenten zu Papier brachte: "Läuferschweiß, Deodorant, Zigarettenqualm, Rosinen . . ."

In jüngster Zeit haben ohnehin solche Vorbilder Konjunktur, die Sauberkeits- und Reglementierungsbewegungen anführen, Männer wie Sebastian Frankenberger, den Heiner Geißler das Vorbild einer politisch resignierenden Jugend genannt hat. Offenbar hat diese ihren Glauben an die Politik in dem Moment zurückbekommen, als Frankenberger das bayernweite Nichtraucherschutzgesetz gegen die Qualmer durchgesetzt hat, eine Art Karlsbader Beschluss für die Reformhaus-Gesellschaft.

Kleiner Kreis der Vorbild-Kandidaten

Sicher, es ist ein Elend: Einerseits wollen wir die eine oder andere Leitfigur. Andererseits beginnen wir zu verstehen, dass bei der hohen Messlatte, die an Integrität, Tugendhaftigkeit und Gradlinigkeit gelegt wird, die Personaldecke für mögliche Vorbild-Kandidaten denkbar dünn wird.

Jeder von uns sollte sich mal spaßeshalber vorstellen, er wäre ganz plötzlich ein Vorbild für ganz viele Deutsche. Möglicherweise wegen einer guten Sache, die er gemacht hat oder wegen einer Äußerung, die als sehr wohltuend für unser Gemeinwesen empfunden wird, möglicherweise sogar aufgrund einer privaten Entscheidung, in der sich viele Menschen wiedererkennen.

An dieser Entscheidung wird er gemessen - aber nicht nur. Seine neue Vorbildrolle muss auch in seinem sonstigen bisherigen Leben aufgehen, und dann schaut man sich das mal genauer an und findet so manches daran eher unvorbildlich: nein, ich habe nicht jeden nebenbei verdienten Betrag beim Finanzamt angegeben, ja, ich habe aus strategischen Gründen gelogen, gewiss, ich habe schon einmal einen fremden Gedanken für meinen eigenen ausgegeben, weil er so klug war und ich ihn gerne selbst gedacht hätte.

Weil viele wissen, dass jedes Vorbild ein Vorleben hat, in dem viele Entscheidungen und Taten aus Unreife, Unbedachtheit und anderen menschlichen Schwächen zustande gekommen sind, gibt es inzwischen das wohlfeile Entlarvungsprogramm. Digitale Wadenbeißer, die frühe Veröffentlichungen von angesehenen Leuten nach Plagiaten abscannen. Joschka Fischer hat dem Debattenmagazin Cicero einmal erklärt: "Ich habe mein Leben so geführt, dass ich den hohen moralischen Standards, die neuerdings an öffentliche Ämter durch die Medien angelegt werden, nicht mehr gerecht werde."

Vorbild mit peinlicher Rückseite

Wird es also nicht endlich Zeit, dass wir unsere armen Vorbilder entlasten, indem wir sie entlassen - in den Ruhestand, in die Freizeit und, wenn nötig, in den Strafvollzug? In einer Gesellschaft, die immer weniger Verbindlichkeiten kennt, in der kaum einer nur einen Beruf, einen Lebenspartner und eine Familie bis zum Ende unterhält, in einer solchen Gesellschaft können vorbildliche Eigenschaften kaum in einer einzigen Person gefunden werden.

Man kann Christian Wulff natürlich für seine Tölpelhaftigkeit verlachen und seine Taktlosigkeit im Umgang mit Verbindlichkeiten anprangern. Man kann aber auch im Reden über seine "Verdienste" die blöde wortkaspernde Ironie weglassen und ihm attestieren, dass er zumindest ein bisschen dazu beigetragen hat, dass auch Muslime von Deutschland als von ihrer Heimat reden können. Niemand muss den braven CDU-Innenexperten Wolfgang Bosbach zur Politik-Ikone erheben, aber dass der bis dahin so loyale Parteimann im September 2011 aus Überzeugung gegen die Erweiterung des ESM-Rettungsschirms und damit gegen die Entscheidung der Regierung stimmte, zeigt, dass auch ein Mensch mit einem mehr oder minder geschlossenen Weltbild ins Zweifeln geraten und entsprechend beherzt handeln kann.

Natürlich gibt es Eigenschaften von Menschen, herausragende Leistungen, dramatische Entscheidungen, die vorbildlich sind. Muss man deshalb gleich den ganzen Menschen zum Denkmal machen? Wir sind längst dabei, unser Vorbild eklektisch zu gestalten, wir können Angelina Jolies Mut zur Offenheit bewundern, ohne ihre Entscheidung, sich die Brüste entfernen zu lassen, für beispielgebend zu halten. Man kann den Schritt des VW-Chefs Martin Winterkorn, auf eine Bonus-Auszahlung in Höhe von 20 Millionen Euro zu verzichten, als ersten Schritt weg von der Maßlosigkeit begrüßen, ohne sofort die neue Bescheidenheit von Vorstandschefs zu feiern. Wir können Papst Franziskus für seine freundliche Art und seine Abneigung gegen Klerikalpomp mögen, ohne rückhaltlose Bewunderer seines Pontifikats zu sein.

Stéphane Hessel, der oft in Deutschland war und immer rechtzeitig wieder abgereist ist, ehe wir ihn uns als Vorbild krallen konnten, hat im Frühjahr 2012, ein Jahr vor seinem Tod, der Welt ein Interview gegeben. Auf die Frage, wen er heute für ein Vorbild halte, nannte er den grünen EU-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit. Der ist im Frühjahr 2013 der jüngste Fall eines geschleiften Denkmals. Ohne Cohn-Bendit hätte Deutschland, hätte auch Frankreich eine andere, vielleicht unentspanntere Gesellschaft. Ohne das dämliche Zeug, das er vor vierzig Jahren über Kinder und Erotik geschrieben hat, wäre Cohn-Bendit heute noch ein angesehener Politiker - radikal und frisch im Denken und dabei konservativ der europäischen Idee verpflichtet.

Jetzt wird er wohl auf lange Zeit der Mann mit dem Hosenlatz bleiben. Bis irgendwann mal eine kluge Generation dahinterkommt, dass Vorbilder auch eine dumme, dunkle, peinliche Rückseite haben können, ohne dass die klugen und mutigen Taten davon berührt sein müssen. Das eine vom anderen trennen zu können, wäre schon vorbildlich.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: