Vergewaltigung:Wenn alle vor Grauen verstummen

überleben

Entblößt und entwürdigt: Eine junge Frau wird vergewaltigt. Die Tat verletzt auch ihre Seele (Symbolbild)

(Foto: crsphoto/photocase.de)

Eine junge Frau wird vergewaltigt. Die Tat verletzt auch ihre Seele. Heute empfindet sie das Leben wieder als schön - von einfach war nie die Rede.

Protokoll: Lars Langenau

"Ich war ein Teenager wie viele andere auch, zierlich, blond, große blaue Augen. Hübsch, sagt man wohl, obwohl mir das nicht bewusst war. Etwas rotzig, etwas motzig, Gymnasiastin, zehnte Klasse, 16 Jahre alt. Ich sollte Jura studieren, das war der Wunsch meiner Mutter; ich wollte Journalismus studieren, und Politikwissenschaften oder Soziologie. Ich las Sartre und Dürrenmatt und trug Chucks, hatte noch keinen Führerschein und demonstrierte gegen Atomkraftwerke. Noch herrschte Kalter Krieg und Berlin war eine geteilte Stadt. Hessen war Grenzgebiet zur DDR, die amerikanischen Soldaten zu unserem Schutz da. Es ist ein Segen, dass bei uns die Amerikaner sind, sagte mein Vater oft. Nur 120 Kilometer weiter östlich verlief der Eiserne Vorhang.

Und dann kam der Freitagabend im späten April 1988, der alles veränderte. Ich war unterwegs mit Freunden, wie an so vielen Abenden - aber dieser endete in einer Tragödie. Nichts würde jemals wieder so sein, wie es vorher war. An diesem Abend sprach mich ein Mann an, der doppelt so alt wie ich war. Er war US-Soldat und gab mir seine Telefonnummer. Ich warf sie weg. Und ging weiter.

Vielleicht hat er in diesem Moment begonnen, mich zu hassen, dieses Mädchen, das ihn abgewiesen hatte. Ich merkte nicht, dass er beobachtete, mit wem ich sprach, wie viele Zigaretten ich rauchte, mit wem ich den Club verließ. Niemand von uns merkte, dass er uns zu einer Party folgte, vor dem Haus wartete, und uns schließlich bis zu einer Kneipe hinterherging. Dort stand er plötzlich wieder vor mir. Ich war ziemlich betrunken, es war spät. Ich wunderte mich, was er dort machte, in dieser Rock-Kneipe, die amerikanische Soldaten eigentlich nicht aufsuchten.

"Mir gefällt nicht, wie er dich ansieht"

'Lass uns ein Taxi rufen', sagte ich zu meiner Freundin. Es war viel zu spät, wir würden uns zu Hause reinschleichen müssen, in der Hoffnung, dass es unsere Eltern nicht merkten. Dann hielt ein Auto vor uns und er öffnete die Beifahrertür. 'Steigt ein', sagte er, 'ich fahr euch nach Hause.' 'Mir gefällt nicht, wie er dich ansieht', warnte meine Freundin. 'Ach Quatsch', sagte ich, 'außerdem sind wir zu zweit.' Ich wollte nur nach Hause.

Er setzte meine Freundin vor ihrem Haus ab und bog nur 500 Meter weiter in einen Waldweg ein. 'Was soll das?', fragte ich, als er den Motor abstellte. Dann traf mich seine Faust im Gesicht. 'Halt's Maul, du Nutte', schrie er. Seine Hände legten sich um meinen Hals. Und drückten zu. Er riss mir meine Kleider in Fetzen und vergewaltigte mich. Und würgte mich. Und vergewaltigte mich. Und schlug zu. Und noch mal. Ich dachte, ich sterbe. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein.

Serie "ÜberLeben"

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlbenissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen - vom Nachbarn über Obdachlose bis zu Prominenten. Warum sind wir das, was wir sind? Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Wenn Sie selbst ihre Geschichte erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

Doch ich überlebte. Es war gegen fünf Uhr morgens, als ich in mein Elternhaus torkelte: die Klamotten in Fetzen an mir herunterhängend, ab dem Bauchnabel splitternackt, geschunden, blutend. Ich weckte meinen älteren Bruder auf, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Er schrie: 'Das Schwein bringe ich um!' Von dem Tumult wurde meine Mutter wach. Sie hatte Angst vor dem, was mein Bruder in Rage tun würde, das war ihr anzumerken. Sie rief die Polizei an, die ihr sagten, ich solle auf keinen Fall duschen oder mich auch nur waschen, alle Kleidungsstücke, die ich noch am Leib trug, in eine Tüte packen und sofort mit mir vorbeikommen. Mechanisch gab sie die Anweisungen an mich weiter. Auf der Polizeistation brach Hektik aus, Gewaltverbrechen sind in meiner Heimatstadt selten, ich wurde vernommen: Wer, was, wann, wo?

Als wäre nie etwas passiert

Man bestellte eine Fotografin ein, eine junge Frau, nur wenig älter als ich. Als sie mich sah, entblößt und entwürdigt, stammelte sie, das könne sie nicht und lief aus dem Raum. Ich hörte, wie der Kriminalhauptkommissar sie anherrschte, sie solle sich zusammenreißen. Mit zitternden Händen nahm sie die Bilder auf, die später den Geschworenen vor Gericht vorgelegt werden würden.

Die Ermittler beschlossen schnell, meinen Fall an die amerikanischen Streitkräfte zu übergeben, so wurde ich dorthin gebracht und die Vernehmungen begannen erneut. Wer ist dieser Mann, was können Sie zu ihm sagen, kennen Sie ihn, hat er vorher Kontakt zu ihnen aufgenommen. Ich sagte ihnen, dass er mir seine Telefonnummer gegeben hatte, früher am Abend, und mit einem Wink wurden Militärpolizisten ausgeschickt, danach zu suchen. Sie kamen zurück mit einem Bierdeckel, auf den der Mann seinen Namen und Telefonnummer geschrieben hatte, etwas durchgeweicht vom leichten Nieselregen, aber gut leserlich. 'Ist das der Mann', fragten sie. 'Ja', sagte ich. Ich las seinen Namen zum ersten Mal. Sofort bereitete man die Verhaftung vor.

Niemand kam auf die Idee, dass ich Hilfe brauchen könnte

Vor dem amerikanischen Militärgericht wurde er im Herbst desselben Jahres zu einer lebenslänglichen Haftstrafe wegen Entführung, dreifacher Vergewaltigung und versuchten Mordes einer Minderjährigen verurteilt - und sofort nach der Urteilsverkündung in einen Hochsicherheitstrakt verlegt. Noch bei der Anhörung hatte er gedroht, mich umzubringen, wenn er mich jemals wieder in die Hände bekommen würde.

Wie lebt man damit, wie überlebt man eine solche Erfahrung, wenn man nicht mehr ganz Kind ist, aber noch keine Frau? Wenn man noch gar nicht gefestigt ist, und wenn alle vor Grauen verstummen?

Es begann eine Zeit der Isolation, ich baute hohe Mauern auf, um mich zu schützen, aber auch um meine Wunden zu verbergen. Der Schulunterricht rauschte an mir vorbei. Während sich meine Mitschüler auf Klausuren vorbereiteten, wurde ich auf einen Prozess vorbereitet.

Die Vernehmungen setzten mir zu, bis ich nicht mehr konnte und die Dolmetscherin anrief. Ich wolle das alles nicht mehr. Sie rief mich zurück, um mir von dem amerikanischen Captain, der als Staatsanwalt die Anklage vorbereitete, auszurichten, ich möge bitte durchhalten. Er würde Tag und Nacht an dem Fall arbeiten und man würde mich zur Schonung künftig zu Hause vernehmen. Ich möge tapfer sein. Und ich war tapfer.

Ich hätte die elfte Klasse wiederholen müssen, aber ich hatte keine Kraft dazu. Niemand kam auf die Idee, dass ich Hilfe brauchen könnte. Schweigen war das Beste, da war sich meine Familie einig. Es wurde nie wieder erwähnt. Bis heute nicht. 'Schade, dass du nicht Jura studiert hast', sagte meine Mutter neulich, 'du wärst eine brillante Juristin geworden.' Ich lachte. Ja, sicher. Als wäre nie etwas passiert.

Die Angst war das Schlimmste

Die ersten zwei Jahre waren die schlimmsten, ich erinnere mich an sie als die düsteren Jahre, gequält von abrupten Erinnerungsschüben, Ängsten, Schlaflosigkeit und Depressionen. Die Angst war das Schlimmste, sie begleitete mich auf Schritt und Tritt.

In meiner Familie gab es keine Depression, keine Schwäche, und krank war man nur, wenn man nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Da es kein Mitleid gab, war auch kein Raum für Selbstmitleid. Und vielleicht ist es genau das fehlende Selbstmitleid, das mir half, zu überleben. Ich war ein Opfer, und wollte keines sein.

Nur wenige Menschen drangen überhaupt zu mir durch. Ich kämpfte um Normalität. Wie durch ein Wunder blieb meine Sexualität unbeeinträchtigt, das ist wohl eher selten. Vielleicht wollte ich mir das auch nicht nehmen lassen und so war es mir möglich, Beziehungen einzugehen, ohne mich offenbaren zu müssen. Doch die Nähe, die eine intime Beziehung mit sich bringt, war kaum auszuhalten und ist auch heute noch schwierig für mich.

Der Wendepunkt kam mit 30, als ich Blut in meinem Urin bemerkte. Ich suchte meinen Arzt auf, der eine übergangene Blasenzündung diagnostizierte, die zu einer Nierenbeckenentzündung geführt hatte. 'Sie müssen Schmerzen haben, im Nierenbereich', sagte er. 'Merken Sie das nicht?' Ich spürte es nicht. Er stand auf und legte seine kühle Hand auf meine Stirn. 'Sie haben Fieber.' Auch das hatte ich nicht wahrgenommen - und das erschreckte mich. Ich wusste, ich brauchte Hilfe und rief den Psychologen an, den mir eine Freundin empfohlen hatte.

Nun begann eine intensive therapeutische Arbeit. Ich lernte, mich selbst zu spüren, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, überhaupt Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Schmerz zu spüren und nach ihnen zu handeln, Emotionen einzuordnen und letztendlich Mauern niederzureißen. Das Trauma zu verarbeiten. Die Heilung hatte begonnen. Heute arbeite ich als Kundenbetreuerin in einem großen Unternehmen und empfinde das Leben als schön - von einfach war nie die Rede."

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Michaela E., 43, Hessen

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