V:Videoüberwachung

V: undefined

In seinem dystopischen Roman "1984" musste sich George Orwell noch vieles von dem ausdenken, was heute längst Realität ist.

Von Joachim Käppner

In George Orwells dystopischem Roman "1984" von 1949 waren es die "Teleschirme", welche sogar "Gedankenverbrechen" der Bürger Ozeaniens entdecken können. In Fritz Langs Filmklassiker "Die 1000 Augen des Dr. Mabuse" (1960) versucht ein Superverbrecher mithilfe einer gigantischen Überwachungsanlage, die Welt nach seinen Wünschen zu manipulieren. Der Albtraum staatlicher Totalüberwachung hat schon zahlreiche Bücher und Filme voller dystopischer Szenarien entstehen lassen, manche, wie "1984", gehören zum Kanon der Weltliteratur.

Was das alles mit der Bundestagswahl zu tun hat? Eigentlich eine Menge.

George Orwell musste sich die Technologie, die den Menschen unterwirft, noch ausdenken. Heute muss niemand mehr seine Fantasie bemühen. Die Technologie der Kontrolle ist, in beträchtlichen Teilen jedenfalls, bereits Realität. Nein, Gedanken lesen kann der Staat noch nicht. Aber er kann am S-Bahnhof Berlin-Südkreuz Gesichtserkennungskameras aufbauen, die individuelle Züge aus der Masse der Passanten herausfiltern. Dort lässt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Systeme von drei Herstellern zur Gesichtsidentifizierung an 300 Freiwilligen testen. Die Vorstellung: Bald könnten solche Geräte die Gesichter gespeicherter Terroristen erkennen und Alarm schlagen, etwa im Fall flüchtiger islamistischer Attentäter. Ebenfalls in Berlin haben die Union und die beiden Polizeigewerkschaften ein Volksbegehren angestoßen, das eine drastische Ausweitung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum der Stadt erreichen soll. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich im Wahlkampf für mehr Kameras ausgesprochen. An deutschen Plätzen, Innenstädten und Bahnhöfen gibt es nur einen Bruchteil der gut zwei Millionen Videokameras, die Großbritannien mit dem CCTV-System einsetzt.

Wenn die 1000 Augen des Dr. Mabuse plötzlich Wirklichkeit werden

Die hiesige Debatte ist dabei geprägt von unversöhnlichen Standpunkten weltanschaulicher Art. Für die einen, wie die Initiatoren des Berliner Volksbegehrens, lauert die Gefahr überall, obwohl die Bundesrepublik eines der sichersten Länder der Welt ist und die Kriminalitätsrate fast nirgendwo der gefühlten Unsicherheit entspricht. Für die anderen ist so gut wie jeder Versuch, neue Technologien auch polizeilich zu nutzen, etwa zur Abwehr der doch konkreten terroristischen Bedrohungen, schon der Anfang vom Ende des Rechtsstaates. Die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk sieht durch das Volksbegehren "elementare Grundrechte unserer demokratischen Gesellschaft zur Disposition gestellt".

Was solchen Aussagen beider Seiten zu oft fehlt, ist eine nüchterne Abwägung der Chancen und Risiken sowohl herkömmlicher wie auch "intelligenter" Überwachungstechnologie. Innere Sicherheit ist von Natur aus geprägt vom Konflikt zweier konkurrierender Rechtsgüter, der persönlichen Freiheit und dem Schutz der Bürger durch den Staat, es sollte um eine feine, an den Grundwerten orientierte Balance gehen und nicht um ein grobes Für und Wider. Der Alarmismus auf beiden Seiten, der sich in der Berliner Debatte aufs Prachtvollste entfaltet hat, macht die nötige Abwägung noch schwerer. Zu den kuriosen Volten gehört es, dass viele Nutzer von Smartphones zwar mit begründetem Misstrauen auf Kontrollvorhaben des Staates sehen, aber keinerlei Problem damit haben, ein nagelneues Smartphone zu nutzen, das ebenfalls mit Gesichtserkennung arbeitet, dies aber zum Wohle digitaler Großkonzerne - deren Machtanspruch stetig wächst.

Videos öffentlicher Kameras haben schon mehrfach in Europa islamistische Täter identifiziert, auch in Bonn jene Männer, die einen, glücklicherweise nicht explodierten, Sprengsatz mitten im Hauptbahnhof platzierten. Es kann an etlichen Orten sinnvoll sein, das Kamerasystem auszudehnen und effizienter zu machen. Berlins rot-rot-grüner Senat experimentiert derzeit mit zwei mobilen Videostationen, welche die Polizei flexibel einsetzen kann, ohne gleich Hunderte Kameras über Berlin zu verteilen. Andererseits gibt es das Phänomen, dass es nie genug ist, dass immer neue angebliche Sicherheitslücken identifiziert werden, die nur mit einem weiteren Ausbau des Kontrollnetzes zu schließen seien, der durch den digitalen Fortschritt immer leichter und schneller wird. Gesichtserkennungssysteme wie jene vom Berliner Südkreuz ließen sich, Geld und Willen vorausgesetzt, in nicht ferner Zukunft an vielerlei Stellen im Land installieren. Dann wären die 1000 Augen des Dr. Mabuse plötzlich Wirklichkeit. Aber will man das wirklich? Leider hat es der Wahlkampf bislang versäumt, darauf konkrete Antworten zu geben.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: