USA:In drei Tagen zum echten Weihnachtsmann

USA: Nach einer Stunde auf der Eislaufbahn braucht unser Autor eine Verschnaufpause.

Nach einer Stunde auf der Eislaufbahn braucht unser Autor eine Verschnaufpause.

(Foto: Stremmel)

Mundwasser, Tanztraining, Rechtsschutzversicherung inklusive Klausel für sexuelle Belästigung: In den USA bekommen Weihnachtsmänner eine Ausbildung. Unser Autor hat mitgemacht.

Von Jan Stremmel

Verdammt. Hat die Sechsjährige mit den rosa Haarspangen das gerade wirklich gesagt? "Ein Einhorn", sagt sie noch mal lauter und guckt mir direkt in die Augen. "Ich wünsche mir nur ein Einhorn zu Weihnachten, ein echtes." Mir wird heiß unter dem Polyesterbart. Was sage ich jetzt?

Ich sitze auf einem überdimensionierten roten Plüschthron in der Mitte eines Einkaufszentrums in der amerikanischen Provinz, rechts von mir eine Warteschlange mit zwanzig Kindern, die sich ebenfalls auf meinen Schoß setzen wollen, und spiele fieberhaft mögliche Antworten im Kopf durch. Erstens: "Klar, kein Problem!" Für das Mädchen bin ich schließlich der Weihnachtsmann. Sollen die Eltern doch die Enttäuschung ausbaden, wenn am Weihnachtsmorgen kein Einhorn unterm Baum steht. An den Weihnachtsmann glaubt dieses Kind dann allerdings wohl nie mehr.

Zweite Möglichkeit: "Sorry, das geht nicht. Wünsch dir was anderes." Eine der wichtigsten Regeln, die man mir eingebläut hat, lautet schließlich: Nichts versprechen, niemals! Und schon gar keine Haustiere. Aber eine derart brutale Absage vom Weihnachtsmann? Sicher weint das Mädchen dann, auf meinem Schoß, während in der Schlange zwei Dutzend Kinder zuschauen. Wie rede ich mich da bloß raus? Sie blinzelt erwartungsvoll. Gott, dieser Job ist eine Zumutung.

Der Markt ist umkämpft, die besten Weihnachtsmänner kassieren 500 Dollar die Stunde

Dabei hatte ich eigentlich erwartet, dass er ein Traum sei. Die Idee war, ein paar Tage als Santa Claus in den USA zu jobben, also dort wo die Vorweihnachtszeit so leidenschaftlich gefeiert wird wie nirgendwo sonst. Wo könnte man mehr lernen über Konsum und Kitsch, Trash und Tradition, als in einem Praktikum als amerikanischer Mall-Santa? Die Sache hat sogar einen ernsten Hintergrund, der US-Weihnachtsmann steckt nämlich in der Krise: Weil Amazon den Einzelhandel austrocknet, leisten sich immer weniger Kaufhäuser eigene Weihnachtsmänner, hatte ich gelesen. Die Gagen sinken, der Markt ist umkämpft. Ich habe also eine offizielle Weihnachtsmannschule besucht und bin nun ein Wochenende im Advent Hilfsweihnachtsmann in einem Einkaufszentrum im Bundesstaat New York. Für ein Erinnerungsfoto mit Santa zahlen Eltern hier 19 Dollar. Wollen die ihr Geld zurück, wenn das Mädchen auf meinem Schoß gleich in Tränen ausbricht?

Die Charles W. Howard Santa Claus School ist die älteste Weihnachtsmannschule der USA, gegründet 1937. Sie liegt in einem Kleinstädtchen namens Midland in Michigan, zwei Highwaystunden von Detroit. Auf dem Gelände einer Baufirma, inmitten von Kränen, Baggern und Pfützen, parken im Morgengrauen ältere Geländewagen vor einem langen Schuppen. Männer in ihren Sechzigern steigen aus. Die meisten mit langen weißen Haaren und Bart, einer geht am Rollator.

Der Gründer der Schule, Charles Howard, war seinerzeit der bekannteste Weihnachtsmann der USA: Er trat bei der berühmten Thanksgiving-Parade auf, die das Kaufhaus Macy's jedes Jahr in New York veranstaltet. Seine Idee war es, einen Kanon an Regeln zu erstellen, an den sich Santa-Claus-Darsteller weltweit halten sollten. Jeden Oktober bietet die Schule seither einen dreitägigen Lehrgang an. In diesem Jahr kommen mehr als 200 Schüler, ein neuer Rekord. Voraussetzung sind ein Motivationsschreiben und 520 Dollar Kursgebühr.

Das Geld ist gut angelegt. Als Weihnachtsmann lässt sich in den USA ein bescheidenes Rentnerleben finanzieren. Bis zu 20 000 Dollar verdient ein Santa pro Saison. Besonders beliebte Weihnachtsmänner kassieren bis zu 500 Dollar die Stunde. Kein schlechter Nebenjob für dicke bärtige Männer.

Joe Valent ist stellvertretender Schulleiter; sein Vater führt die Schule seit den Achtzigern ehrenamtlich. Als Haustiere hält die Familie zwei Rentiere namens Comet und Cupid. Valent ist, wie ich, 32 und trägt, wie ich, keinen Bart. Solche wie uns nenne man prosthetic beard Santas - Santa mit Bartprothese. Was nicht ideal sei, erklärt er, "aber meine Frau küsst mich sonst nicht mehr". Wir betreten den Schuppen.

Kurs zu "Santas Erscheinungsbild und Hygiene"

Der erste Kurs an diesem Morgen: Rentier-Schlittenfahren. Ein Holzschlitten ist in zwei Meter Höhe auf ein Fahrgestell aufgebockt, davor hängen zwölf Stoff-Rentiere in einer langen Deichsel. Weihnachtsmänner in den USA rollen zur Adventszeit auf solchen Dingern durch Kleinstädte. Also muss jeder Schüler aufsteigen und mit den Zügeln in der Hand "Ho, Ho, Ho, Merry Christmas" brüllen. Joe Valent steht daneben und gibt Tipps: "Mehr winken, weniger am Zügel reißen. Und lächeln!" Ohne Kostüm und Bart fühlt es sich endlos lächerlich an.

Mittags wuchtet Joe Valent eine Palette mit weißen Fläschchen von der Ladefläche seines Pick-ups und schleppt sie auf einen würfelförmigen Bau im Ortszentrum zu. Die Theoriestunden finden im Hörsaal des Kulturzentrums statt. Ein Kurs behandelt "Santas Erscheinungsbild und Hygiene". Rauchen, schmutzige Fingernägel oder Schweißgeruch seien Tabus für einen ordentlich ausgebildeten Weihnachtsmann, sagt Joe Valent. In den weißen Fläschchen ist Mundwasser.

Was sagt man einem Kind, das sich seinen Papa aus dem Gefängnis wünscht?

Der Theorieteil enthält einen Vortrag über Nikolaus von Myra, den heiligen Bischof, von dem der Weihnachtsmannbrauch stammt; Dias von einer Grönlandreise, damit wir wissen, wie der Nordpol ungefähr aussieht, an dem wir angeblich wohnen; Tipps, wie man auch als älterer, übergewichtiger Santa mit wenig Kraftaufwand tanzt: "Viel aus den Armen und der Hüfte machen. Bloß nicht in die Knie gehen, da seid ihr sofort erschöpft!" Die Schule ist auch ein Überlebenstraining für Männer, die richtig schlecht in Form sind.

USA: Diesjährige Absolventen der Santa School mit Ehefrauen.

Diesjährige Absolventen der Santa School mit Ehefrauen.

(Foto: Stremmel)

Dann geht es um psychologisch schwierige Kinderwünsche. "Beispiel: Ein Kind wünscht sich von euch, dass sein Vater zu Weihnachten aus dem Gefängnis kommt." Stille in den Sitzreihen, einige machen sich Notizen. Kinder, erfahren wir, akzeptierten fast jede Antwort. Man müsse sie nur mit Ernst vortragen und dürfe sich nicht in Widersprüche verstricken. Bei unerfüllbaren Wünschen helfe folgendes Argument: "Als Weihnachtsmann bin ich nur für Spielzeuge zuständig." Ergänzt durch den sehr amerikanischen Zusatz: "Aber ich bete heute Abend für deinen Vater / deine tote Großmutter / deinen kranken Bruder." Im Hörsaal glitzern einige Augen feucht.

Der Lehrplan der Schule sei im Grunde seit 80 Jahren unverändert, erklärt mir Joe Valent. "Nur die Spielzeuge ändern sich ständig." Er selbst verbringt jeden Herbst mindestens ein Wochenende auf Recherche in einem Spielzeuggeschäft. "Wenn ein Kind dir sagt, es möchte Olaf zu Weihnachten, musst du wissen: Das ist der Schneemann aus 'Die Eiskönigin'." In der Pause fachsimpeln die Weihnachtsmannschüler angeregt über die Charaktere aus dem neuen "Star Wars"-Film.

Meine Mitschüler sind selbst für amerikanische Verhältnisse schockierend freundlich. Jeder, wirklich jeder stellt sich mir vor. Nicht alle sind Anfänger. Die erfahrenen Santas verteilen Visitenkärtchen, sie haben separate Karten für Kinder ("Adresse: Nordpol") und Kunden ("buchbar für Hochzeiten und TV-/Web-/Radio-/Printwerbung"). Die Schule ist auch eine Art Fachtagung für ältere Herren, die es "lieben, mit Kindern zu arbeiten", wie hier ausnahmslos jeder sagt.

Man schämt sich für das ganz leichte Unwohlsein, das man bei diesem Satz spürt. Aber es ist wohl nicht ganz unbegründet: Wer in den USA beruflich als Weihnachtsmann arbeitet, sollte dringend eine Rechtsschutzversicherung abschließen, sagt der Schulleiter. Eine Klausel, die Klagen wegen sexueller Belästigung einschließt, koste zwar 900 Dollar extra, aber er empfehle sie. "Passt immer auf, wo ihr eure Hände habt. Am besten gut sichtbar auf der Schulter des Kinds."

Real beard Santa mit Glatze

All das schwingt ungut im Kopf nach, als ich ein paar Wochen später (und natürlich ohne Rechtsschutzversicherung) in einem fensterlosen Getränkelager in den Eingeweiden des Einkaufszentrums in mein Kostüm steige. Ich assistiere Dan, einem fünfzigjährigen real beard Santa. Er macht den Job seit zwölf Jahren, wohnt während der Saison vier Wochen im Hotel und trägt unter der Zipfelmütze eine rasierte Glatze - "die Hitze ist sonst unerträglich".

Und ja, das Überlebenstraining in der Schule war wichtig. Der Mall-Job ist eine echte Mangel. Ich muss im Kostüm Schlittschuhfahren, während ein Dutzend Kinder mich über die Eisfläche jagt und die Eltern alles mit dem Handy filmen. Ich turne durch den Indoor-Klettergarten und muss dabei so oft "Frohe Weihnachten" rufen, bis der Satz sich so feierlich anfühlt wie eine Durchsage in der Bahn. Zum Schluss kommt die größte Ehre: Ich sitze eine Stunde lang für Familienfotos und ein Gespräch mit den Kindern auf dem Thron. Die Fotos verschenken Amerikaner als Weihnachtskarte. Immerhin: Ich schwitze jetzt weniger. Bis das Mädchen mit den Haarspangen kommt: "Ein Einhorn!"

Ich gucke rüber zur Mutter des Mädchens, weiß sie von diesem Wunsch? Sie beißt sich auf die Unterlippe und grinst mir zu. Ich erinnere mich an die Vorlesung: Kinder akzeptieren fast alles! "Das ist aber ein sehr schöner Wunsch", sage ich also endlich, während mir ein Schweißtropfen in die Augenbraue rinnt. Das Mädchen nickt. "Aber weißt du was", ich setze eine Pause - "ich muss ja alle Geschenke im Schlitten vom Nordpol hierher bringen." Das Mädchen nickt. Soweit habe ich sie überzeugt. "Und auf dem Schlitten ist es sehr kalt. Deshalb kann ich leider keine Tiere mitnehmen. Auch keine Einhörner." Sie nickt. Und sagt dann die wunderbarsten Worte, die eine Sechsjährige je zu mir gesagt hat: "Ach so. Klar. Okay." Dann macht es Klick. Das Foto ist gemacht, die Mutter lächelt, und zumindest für ein Mädchen mit rosa Haarspangen ist Weihnachten dieses Jahr gerettet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: