Ungewöhnliche Liebesbeziehungen:"Normalität ist eine Frage der Moralvorstellungen"

Ist es pervers, wenn ein Vater die Ex-Freundin seines Sohnes heiratet? Wenn eine Frau mit ihrem Bruder ins Bett geht? Wenn eine Mutter ihren Schwiegersohn begehrt? Paartherapeut David Wilchfort über die Probleme emotionaler Bindungen, Verwandtschaften in Schweizer Alpendörfern und Elektrakomplex.

Violetta Simon

In Sachen Lust und Liebe lernt die Gesellschaft noch immer dazu, nach und nach fallen Tabus. Dennoch gibt es Beziehungen, die nach allgemein geltender Meinung nicht sein dürfen, weil sie "nicht normal" sind. Nach Ansicht des Paartherapeuten David Wilchfort existiert Normalität aber nur in unseren Moralvorstellungen. Ein Gespräch über ungewöhnliche Beziehungskonstellationen.

"Ball der Künste" in München, 2007

Die Ex-Freundin des Sohnes zu heiraten, wie im Fall von Bryan Ferry, ist nicht pathologisch, sagt Paartherapeut Wilchfort.

(Foto: Andreas Heddergott)

Süddeutsche.de: Dass ältere Herren Beziehungen mit jungen Frauen haben, ist nicht neu. Doch der britische Sänger Bryan Ferry hat kürzlich ausgerechnet die Ex-Freundin seines Sohnes geheiratet - ist das normal?

David Wilchfort: Daran ist nichts Pathologisches. Normalität hat nur mit unseren Moralvorstellungen zu tun. Es gibt viele Kulturen, in denen die moralische Regel gilt, dass ein Mann die Frau seines verstorbenen Bruders ehelicht, um sie abzusichern. Auch Eheschließungen zwischen Verwandten sind nicht ungewöhnlich. Ich kenne zahlreiche Fälle, in denen Cousins miteinander verheiratet sind, und in den kleinen Alpendörfern der Schweiz ist jeder mit jedem verwandt. Die Verbindungen entstehen einfach dadurch, dass man sich häufiger begegnet.

Süddeutsche.de: Ein Musikstar dürfte aber nicht darauf angewiesen sein, zu heiraten, wer ihm gerade über den Weg läuft.

Wilchfort: Natürlich stehen bei so jemandem die Mädchen Schlange. Aber Prominenten fällt es oft schwer, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Indem er die Freundin seines Sohnes immer wieder sah, wurde sie reizvoll für ihn. Ich hatte mal einen bekannten Popsänger in Behandlung. Ich konnte nicht glauben, wie unsicher dieser Mann war. Er war einer von denen, auf die die Mädchen in der Hotelhalle warten - auf der Bühne extrovertiert, im alltäglichen Leben aber viel zurückhaltender. Ich könnte mir vorstellen, dass sich ein solcher Mensch mit einer Frau sicherer fühlt, bei der er spürt, dass sie ihn persönlich meint.

Süddeutsche.de: Dann ist es also kein Zufall, wenn sich ein junge Frau in den Vater ihres Freundes verliebt?

Wilchfort: Keineswegs. Womöglich will sich jemand gar nicht trennen und findet im Vater den Ersatz für den Sohn. Es gibt genügend Beispiele in der Literatur, dass ein Mann beispielsweise die Schwester heiratet, weil ihm die Angebetete nicht zugänglich ist. Wo es leichter ist, zuzugreifen, da greifen wir hin.

Süddeutsche.de: Was ist in einer solchen Vater-Sohn-Konstellation das Motiv des Vaters? Will er dem Sohn beweisen, dass er noch immer der Stärkere, Attraktivere - und Potentere - von beiden ist?

Wilchfort: Das ist ein verbreiteter Glaube unter Laien. Patienten sagen manchmal, dass sie den Eindruck hätten, ihr Vater oder ihre Mutter rivalisiere mit ihnen. Meist stecken dahinter individuelle Bedürfnisse, die aber im Grunde nicht in der Rivalität begründet sind. Zum Beispiel will der Vater einfach nur testen, wie jung er noch ist - auch wenn das nach außen hin wie ein Konkurrenzkampf aussieht.

Süddeutsche.de: Macht es aus moralischer Sicht einen Unterschied, ob Vater und Sohn oder Mutter und Tochter miteinander in Konkurrenz stehen?

Wilchfort: Diese Unterschiede sind rein kulturell und entstehen durch Tabus der Gesellschaft. Früher hieß es: Wenn ein junger Mann viele Frauen hat, ist er ein toller Hecht. Hatte eine Frau mehrere Partner, war sie eine Hure. Auch heute noch ist der Intimkontakt zwischen älteren Frauen und jungen Männern mit einem Tabu belegt, wenn auch schwächer als früher.

Süddeutsche.de: Solche Beziehungen gibt es in der Tat nicht oft - zumindest nicht offiziell. Außer, man heißt Demi Moore oder Simone Thomalla.

Wilchfort: Was ich öfter beobachte, ist, dass Schwiegermütter über die Maßen von ihren Schwiegersöhnen begeistert sind. Sie halten selbst nach der Trennung der Kontakt weiter aufrecht und tadeln ihre Tochter: "Den kannst Du doch nicht gehen lassen!" Unbewusst steht dahinter eine libidinöse Anziehung und die Botschaft: "Diesen Mann hätte ich am liebsten selber." Die Mutter lebt dieses Begehren also durch ihre Tochter.

Süddeutsche.de: Welche Auswirkung kann eine Konkurrenz-Konstellation zwischen Kind und Elternteil auf die beteiligten Familienmitglieder haben?

Wilchfort: Wenn die Mutter der Braut den Bräutigam auch nach der Trennung noch toll findet, ist es für die Tochter oft eine ziemlich herbe Enttäuschung, von ihrer Mutter so im Stich gelassen zu werden. Auch der Sohn - wäre er etwa für den Vater verlassen worden - würde sich verletzt fühlen.

Süddeutsche.de: Dann ist also die Nähe, die diesen Kontakt und damit die Gelegenheit schafft, zugleich der Grund dafür, dass die Verletzung umso größer ist.

Wilchfort: Es tut mehr weh, weil Mutter oder Vater ja auch wichtige Bezugspersonen sind. Wenn der Mann mit der besten Freundin eine Affäre hat, weiß die Betrogene oft nicht was schlimmer ist: den Mann zu verlieren oder die Freundin. Genauso geht es dem Sohn, der seine Freundin an den Vater verliert - und damit beide.

Süddeutsche.de: Und zusätzlich wird man von Eifersucht zerrissen ...

Wilchfort: Sicher ist es problematisch, wenn der Partner zu einem anderen Familienmitglied "wechselt" - aber das ist nicht nur zwischen Verwandten so. Auch wenn die Freundin plötzlich mit einem guten Freund ausgeht, nagt das am Selbstwertgefühl.

Süddeutsche.de: Wie geht man mit so einer Situation um?

Wilchfort: So etwas muss angesprochen werden, alle Beteiligten sollten einen offenen Umgang miteinander anstreben. Die Tochter könnte beispielsweise zu ihrer Mutter sagen: Wenn du dich immer noch mit meinem Ex triffst, dann tut mir das weh. Optimal wäre, wenn alle Beteiligten ein Gespräch - vielleicht auch mit Hilfe eines Therapeuten - führen. Wenn alle gemeinsam bereit sind, die Schwierigkeiten ihrer Konstellationen anzuschauen, haben sie die besten Chancen, die Situation zu klären.

Süddeutsche.de: Es gibt es ein prominentes Gerücht, das der Bestseller-Autor Ian Halperlin in Umlauf brachte und 2009 in seinem Enthüllungsbuch "Brangelina: The Untold Story of Brad Pitt und Angelina Jolie" beschrieb: Angelina Jolie soll früher ein Verhältnis mit ihrem Bruder gehabt haben ...

Wilchfort: Die Konstellation "Bruder und Schwester" kommt viel häufiger vor, als man glaubt. Meist wird das für eine gewisse Zeit ausgelebt und hört abrupt auf, wenn einer heiratet.

Süddeutsche.de: Die populärste Beziehungskonstellation ist nach wie vor: junge Frau, älterer Mann. Gibt es in der Psychoanalyse einen Begriff dafür?

Wilchfort: Jung schuf dafür die Bezeichnung Elektrakomplex als Pendant zum Ödipuskomplex. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie (Elektra stiftete ihren Bruder an, die Mutter zu töten, um die Ermordung ihres Vaters zu rächen) und bezeichnet eine Fixierung der Tochter auf den Vater, verknüpft mit Hassgefühlen gegenüber der Mutter. Aus psychoanalytischer Sicht geht es darum, dass die junge Frau eine Vaterfigur sucht.

Süddeutsche.de: Kommen Beziehungen abseits der Normen häufiger vor als früher?

Wilchfort: Grundsätzlich denke ich, dass es heute keine Konstellation gibt, die es nicht gibt, weil unsere Tabus immer weiter fallen. Es gab schon immer die verschiedensten Vorstellungen und Wünsche, nur konnten sich die Menschen früher nicht so ausleben, da zum Beispiel Homosexualität unter Strafe stand. Heute können gleichgeschlechtliche Paare sogar heiraten, und mittlerweile gibt es auch Forderungen nach einer Legalisierung der Mehr-Personen-Ehe. Gut möglich, dass diese Idee in 20 Jahren umgesetzt wird.

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