Umgang mit Stress:Modell Mensch, bedingt krisentauglich

Ich hab' die Krise, und gleich kriegen Sie se - Der Mensch versteht sich in harten Zeiten kaum auf Gelassenheit. Ein Fehler der Evolution?

Werner Bartens

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Ich hab' die Krise, und gleich kriegen Sie se - Der Mensch versteht sich in harten Zeiten kaum auf Gelassenheit. Ein Fehler der Evolution?

Der Säbelzahntiger ist seit 10000 Jahren ausgestorben. Trotzdem muss die Raubkatze aus dem Pleistozän immer wieder herhalten, um das Verhalten moderner Büromenschen zu erklären. Denn was Homo sapiens in der Steinzeit auf Trab gehalten hat, scheint auch heute noch als evolutionäres Muster unsere Reaktionen zu bestimmen. Zumindest in der Krise.

Ob der Arbeitsplatz bedroht ist oder der Partner nervt - oft verhält sich unser Körper so, wie man es gerade nicht brauchen kann. Er rebelliert, verliert sich in sinnlosen Aktionen, wird nervös. Akuten Problemen begegnet der menschliche Organismus zwar angemessen. Ist die Lage jedoch chronisch schwierig, kann man den Körper vergessen. Die Stressreaktion ist auf Dauerbetrieb geschaltet und schwächt Organe und Immunabwehr, statt sie zu stärken. Ein perfider Mechanismus: Das, was in der Not hilft, um Gefahren auszuweichen und Schmerzen zu verhindern, zermürbt auf Dauer und macht krank. Krisensicher ist die Krise nur für Ärzte und Therapeuten.

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Fight or Flight

Zurück zum Säbelzahntiger. Tauchte er vor einem Steinzeitmenschen auf, aktivierte der jene Alarmanlage, die Mediziner als sympathisches Nervensystem bezeichnen. Das Nervengeflecht bereitet den Organismus automatisch auf Kampf oder Flucht vor - Fight or Flight. Bei drohender Gefahr wird der Herzschlag erhöht, die Lunge geweitet, die Verdauung eingestellt. Die Muskeln sind angespannt, der Stoffwechsel läuft auf höchstem Umsatz. Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Kortison helfen jetzt, das Letzte aus den Organen herauszuholen. In glücklichen Steinzeitmomenten gelang es so, dem Säbelzahntiger zu entkommen oder ihn gar niederzuringen.

Nach erfolgreichem Kampf oder geglückter Flucht aktiviert der Körper den Gegenspieler des sympathischen - das parasympathische - Nervensystem. Es ist das Regulationssystem der Kontemplativen, die satt und selbstzufrieden vor sich hin dösen. Ihr Blutdruck ist unten, der Puls verlangsamt. Ruhe kehrt ein, einzig die Verdauungsorgane glucksen vor sich hin. So ungefähr fühlt es sich im Liegestuhl am Pool an.

Bis er diese Entspannung wieder erleben konnte, musste Joe Simpson viel erdulden. Mit seinem Freund Simon Yates bestieg der Brite 1985 erstmals die Westwand des 6344 Meter hohen Siula Grande in den Anden. Während des Abstiegs stürzte Simpson, sein Knie splitterte, der Schienbeinknochen bohrte sich in das Gelenk. Yates wollte Simpson vorsichtig abseilen, doch der stürzte erneut, diesmal über einen Felsvorsprung. Er hing frei am Seil, nach einer Stunde musste der Freund, der ihn hielt, entkräftet und verzweifelt die Verbindung kappen.

Simpson überlebte wieder - diesmal schwer verletzt in einer Gletscherspalte. Er konnte einen Ausgang finden. Mit zerschmettertem Bein, halb erfroren, kroch er Richtung Basislager. Er wog nur noch 40 Kilogramm und halluzinierte, als er nach sieben Tagen entdeckt wurde. Unter dem Titel "Touching the Void" (Sturz ins Leere) schrieb er einen Bestseller über sein besonderes Krisenerlebnis.

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Säbelzahntiger im Büro

Der zivilisatorische Firnis, den mancher für gutes Benehmen hält, verhindert, dass Angestellte heute auf Krisen so resolut reagieren wie ihre Vorfahren auf steinzeitliche Bedrohungen oder ein Bergsteiger auf das vermeintlich sichere Ende. Wenn Vorgesetzte mit Kündigung oder Gehaltskürzung drohen, rennen selbst unbeherrschte Mitarbeiter selten davon. Sie sitzen da mit Schnappatmung, manche bellen weidwund zurück. Nur selten wehren sie sich handgreiflich. Dabei wäre das vermutlich gesünder.

Die Stresshormone im Blut machen ihnen nämlich zu schaffen. Sie wollen ihr Werk verrichten, sind zum Kampf bereit. Stattdessen begibt sich der Mensch auf den zerknirschten Rückzug. Die geballte Aggression ist aber vorhanden. Die Energie kann nirgendwo hin - und richtet sich daher auf ein sehr naheliegendes Ziel: auf einen selbst. Angst und Unruhe halten jetzt das Alarmsystem weiter auf Trab. Sorge vor Jobverlust, Ärger mit dem Partner, Intrigen im Büro - die Anlässe sind vielfältig, der Körper reagiert nach Schema F, fight or flight. Die Zivilisation führt aber dazu, dass wir weder Vorgesetzte vermöbeln noch vor ihnen fliehen. Stattdessen rutschen wir nur unruhig auf dem Schreibtischstuhl herum.

Stresshormone und Stressreaktionen führen nun zu typischen Beschwerden: Reizdarm, Reizhusten, gereizter Rücken. Burn-out, Tinnitus, Migräne, Verdauungsbeschwerden, Schwindel, Herzrasen. Die Ursachen sind meist: Angst, Unruhe, Unzufriedenheit. Der Klassiker für Psychosomatiker ist das Früherwachen. Um halb vier morgens schreckt der geplagte Mensch aus dem Bett hoch und kann nicht wieder einschlafen. Die Angst vor den Schlafstörungen lässt das Alltagsgetriebe noch schneller rotieren.

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Der Stress der Manager

Dabei ist Stress nicht gleich Stress. Die Hypothese, dass der Herzinfarkt der Heldentod der Führungskräfte ist, die von einem Übermaß bürgerlicher Tugenden dahingerafft werden, hat sich erledigt. Das ehrgeizige Alpha-Männchen ist nur in Gefahr, wenn seine Leistungsbereitschaft ständig frustriert wird. Solange Stress Spaß macht, ist er gesund. Man kennt ja diese erfolgreichen Typen, die eine Abteilung leiten, eine glückliche Familie haben und nebenbei finnische Liebeslyrik übersetzen. Sie spornt Stress eher an.

Anders ist das bei denen, die trotz ewiger Mühen nicht vorankommen. Die immer wieder enttäuscht werden, übergangen. Sie fühlen sich nicht wertgeschätzt. Ihnen schlägt Stress auf Herz, Kopf und Knochen. Unfassbar, aber Depressionen können das Skelett schwächen! Unzufriedenheit entzieht den Knochen Mineralstoffe und macht sie brüchig. Der Unterschied zwischen angenehmem und nervigem Stress ist immens. So hat der unzufriedene Angestellte ein dreimal so hohes Risiko, einen Infarkt zu erleiden, wie sein gleichaltriger, aber zufriedener Chef.

Allerdings kann man sich Stress auch schönreden und mit Ersatzbefriedigungen abpuffern - das Gehalt, ein paar Statussymbole. Wer nicht wirklich zufrieden ist mit seiner Tätigkeit und seinem Alltag, aber trotzdem auf vollen Touren fährt, ist jedoch anfällig. Ärzte und Therapeuten kennen diese "Hamsterrad-Führungskräfte" zur Genüge. Ihr Leben ist durchorganisiert und scheint zu funktionieren, aber von der kleinsten Unregelmäßigkeit werden sie aus der Bahn geworfen. Ein Auffahrunfall, bei dem sie nicht verletzt werden, irritiert sie so sehr, dass sie zusammenbrechen und wochenlang nicht arbeiten können. Passungsstörungen nennen Psychosomatiker das.

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Der ratlose Banker

Natürlich gibt es derzeit viele Manager, die unter Stress leiden, da hilft keine Liebeslyrik. Da ist der Vorstand einer Bank, ein Ingenieur. Sein System ist aus dem Gleichgewicht. Er kann sich nicht - wie seine Kollegen - mit gutem Zureden beruhigen. Bisher hat ihm immer ein rationaler Zugang geholfen. Doch seine Form der Krisenbetrachtung führt den Banker tiefer in die Krise, weil seine Analyse des Finanzchaos ihn erst recht depressiv werden lässt. Keine Hoffnung, nirgends.

Jedenfalls nicht in seinem bisherigen Apothekerschränkchen. Er muss sich suchen, was ihm wirklich Halt gibt. Gerade in der Krise sind die sozialen Bindungssysteme wichtig. Familie, Freunde, Nähe - wer jetzt kein Nest hat, findet keines mehr. Doch woher plötzlich nehmen, wenn vorher nur die Arbeit zählte? Und diese Kumpels, mit denen man nur das Karriere-Quartett "Mein Haus, mein Gehalt, meine Frau, mein Auto" spielte, helfen in einer richtigen Krise nicht weiter.

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Im Jammertal

Es ist verpönt, dieses Sich-Herunterziehen. Jammern unter Gleichgesinnten hat kein gutes Image. Dabei ist es gemeinsames Mutmachen. Außerdem sieht man in depressiver Stimmung die Dinge realistischer. Depression bedeutet - neben vielen furchtbaren Symptomen - auch den Verlust der alltäglichen Selbsttäuschung. Das ist auf Dauer nicht schön, als Zwischenphase aber heilsam. Gemeinsames Schwarzsehen ist zudem meist nur vorübergehend, der Schulterschluss der Gepeinigten. Spätestens wenn Galgenhumor aufkommt, geht es aufwärts.

Man sollte nur herauskommen aus dem Jammertal. Wenn Probleme nicht sofort zu lösen sind, reagieren manche Menschen mit dem Totstellreflex. Sie sind wie gelähmt. Nicht gut. Aufgeplustertes Gerede nach dem Motto, lieber ein Problem als gar kein Gesprächsstoff, hilft auch nicht weiter.

Neidisch blicken wir auf die USA. Die Zuversicht, der Wille zum Wandel. In Deutschland sind Menschen nicht so. Sie wollen: Ruhe und Sicherheit. In den USA ist es üblich, dass Job, Haus und oft auch der Partner nicht sicher sind. Das ist Teil des Lebensentwurfs. Die Deutschen sind nicht derart krisenerfahren. Zudem waren Krisen in Deutschland oft gleichbedeutend mit nationalen Katastrophen. Wir haben also kaum verinnerlichen können, dass Krisen zum Leben gehören.

Sich auszuklinken ist keine Lösung. Ärzte nennen das: dissoziative Reaktion. Bei furchtbaren Erfahrungen ist es hilfreich, nichts zu spüren. Viele Kriegsteilnehmer und Missbrauchsopfer hätten nicht überlebt, wenn ihnen der Körper nicht ermöglicht hätte, Schmerzen nicht mehr zu merken. Doch wer einmal ausgestiegen ist, kann sich daran gewöhnen und womöglich künftig bei jeder Belastung aussteigen. Das ist typisch für Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung. Sie sind keiner Belastung mehr gewachsen und sei sie noch so harmlos.

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Sich durchbeißen

Für akute Krisen ist der Mensch eher gemacht als für chronische. In der Euphorie, im Leid. Jeder kennt das, wenn ein Stürmer beim Torschuss so schwer gefoult wird, dass die Sehnen reißen. Trotzdem kann er jubelnd abdrehen. Es dauert, bis er zusammenbricht und wahrnimmt, was gerade passiert ist.

Auch nach einem Unfall bewahrt das körpereigene Alarmsystem Menschen vor dem Schlimmsten. Die hochgepeitschten Adrenalin- und Kortison-Kaskaden dämpfen den Schmerz. Das körpereigene Endorphinsystem wird aktiviert und entlässt Opioide ins Blut, die sonst nur beim Runner's High, dem Orgasmus und anderen Höhepunkten freigesetzt werden.

Das kann in Extremsituationen sogar längere Durstrecken überwinden helfen. Es gibt die wahre Geschichte des 17-jährigen Mädchens, das sich an Heiligabend 1971 gemeinsam mit seiner Mutter auf dem Flug von Lima nach Iquitos befand. Die Maschine geriet in ein Gewitter und brach auseinander. Die Trümmer der Maschine kamen im Dschungel zu Boden.

Einzig das Mädchen überlebte den Absturz. Sein Schienbein war gebrochen, die Kreuzbänder gerissen. Mit einer solchen Verletzung kann man normalerweise keinen Meter laufen. Das Mädchen aber schleppte sich zehn Tage durch den Urwald, in Minirock und Sandalen. Es war schwer verletzt, ohne Nahrung, Tieren ausgeliefert. Es folgte einem Fluss, abgemagert und von Insekten zerstochen, bis es von Jägern entdeckt wurde.

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Der Kuschelfaktor

Lang anhaltende Probleme zermürben den Menschen, auch körperlich. Nicht jeder kann zum Überlebenskämpfer im Dschungel werden. Dabei kann man dem Körper mit bordeigenen Mitteln ein Schnippchen schlagen. Dopamin etwa gilt als Belohnungs- und Glückshormon. Wer zufrieden ist, oder sich wenigstens auf dem Weg der Besserung sieht, bei dem finden sich vermehrte Aktivitäten dieser Substanz. Das müsste sich doch nutzen lassen.

Oxytocin ist ebenfalls ein guter Kandidat für die Krise. Es wird bei Zärtlichkeiten und emotionaler Nähe ausgeschüttet und gilt daher als "Kuschelhormon", das für Verlässlichkeit, Treue und Sicherheit steht. Präriewühlmäuse zum Beispiel haben einen hohen Oxytocin-Spiegel und sind ihren Partnern deshalb monogam ergeben. Gegenteilig verhalten sich ihre Kollegen, die Bergwühlmäuse, die sich wild durcheinander paaren und kaum Kuschelhormon im Blut haben. Wird das Oxytocin der Präriewühlmäuse experimentell gehemmt, werden auch sie plötzlich promisk und sind nicht mehr verlässlich. In der Krise müsste es daher heißen - Oxytocin für alle!

Im Experiment hat das schon geklappt. An der Universität Zürich entwickelten Probanden, die in einem Planspiel Geld investieren sollten, mehr Vertrauen in ihre Spielpartner, nachdem sie Oxytocin in die Nase gesprüht bekamen.Im Tierversuch gibt es noch andere attraktive Ergebnisse: Ratten sind jedenfalls weitaus weniger anfällig gegen Stress, wenn sie viel geleckt werden.

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Die Lösung

Die Weichen gehen in sich. Kontemplation. Sie belegen Yoga-Kurse, meditieren, entdecken den Weg zu ihren Gefühlen. Manche erkennen, was ihnen wirklich wichtig ist und definieren ihre Werte und Ziele neu. Sie nutzen die Krise als kreative Phase und Chance, erzählen das auch allen. Diese plötzlich entdeckte Besinnlichkeit kann nerven, hilft aber meistens.

Die Harten verteilen schon mal eine gezielte Gerade oder sprinten um den Block. Manche werden zu Dauerläufern oder melden sich im Box-Studio an. Kann auch nutzen, ist aber manchmal schmerzhaft für die Umgebung. Zudem kann einem diese demonstrative Vitalität auf den Senkel gehen.

Und die Unentschlossenen? Sie schlagen weiter aufgeregt mit den Flügeln.

(Fotos: istock)

(SZ vom 29./30.11.2008)

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