Umgang mit Demenz:"Eine männliche Reaktion"

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Der Tod von Gunter Sachs hat uns die wahre Volkskrankheit vor Augen geführt: die Angst vor einem unzulänglichen Leben und Altern ohne Würde. Eine Expertin erklärt, wie wir Demenz heute begegnen sollten - und warum Angehörige gegen den Todeswunsch Betroffener oft machtlos sind.

Violetta Simon

Der Fotograf und Lebemann Gunter Sachs hat sich in seinem Schweizer Chalet in Gstaad erschossen, weil er an der "ausweglosen Krankheit 'A' leide", wie er in seinem Abschiedsbrief schreibt. Mit dem Suizid wolle er dem "Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben" entgegentreten. Sachs ist kein Einzelfall: Immer mehr ältere Menschen, vor allem Männer, nehmen sich das Leben. Laut statistischen Erhebungen sind offiziell 1,2 Millionen Deutsche von Demenz betroffen - dabei sind die nicht diagnostizierten Fälle in frühen Entwicklungsphasen noch nicht berücksichtigt. B is 2050 soll sich die Anzahl der Betroffenen verdoppeln. Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Berlin, vom bundesdeutschen Dachverband der Alzheimer-Selbsthilfe-Vereine, engagiert sich seit 1990 für den offenen Umgang mit der Krankheit.

Immer mehr Menschen erkranken an Demenz - und immer mehr von ihnen können die Vorstellung eines geistigen Verfalls nicht ertragen und nehmen sich das Leben, vor allem Männer. (Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Können wir bei Demenz von einer Volkskrankheit sprechen?

von Lützau-Hohlbein: Ja, wobei wir sagen müssen, dass es vorwiegend ältere Menschen betrifft. Hauptgrund für die voraussichtliche Verdoppelung der Fälle ist die zunehmende Lebenserwartung.

sueddeutsche.de: Diese "Volkskrankheit" trifft auf eine Gesellschaft, die sich Jugend, Vitalität und Selbstbestimmtheit auf die Fahnen geschrieben hat. Können Sie sich vorstellen, dass es Menschen gibt, die Verständnis für die Entscheidung von Gunter Sachs empfinden?

von Lützau-Hohlbein: Ja. Uneingeschränkt. Ich habe selbst erlebt, dass Menschen in meinem Umfeld so reagiert und gesagt haben: "Wenn ich den Mut hätte, es zu tun, ich würde es auch tun."

sueddeutsche.de: Wie kommt es zu so einer Reaktion?

von Lützau-Hohlbein: Sachs führte ein inszeniertes Leben und konnte sich einfach nicht vorstellen, weiterzuleben, wenn er darüber keine Kontrolle mehr hat. Es ist auch eine ziemlich männliche Reaktion, der die Ansicht zugrunde liegt: "Ich kann und muss etwas tun." Diese Krankheit hat jedoch ganz viel mit Aushalten zu tun - und das ist keine männliche Stärke.

sueddeutsche.de: Selbstbestimmtes Leben und Sterben ist ein wichtiges Thema in unserer Gesellschaft. Haben Sie selbst bereits Erfahrungen gemacht, dass jemand, bei dem die Krankheit stark fortgeschritten ist, sein Leben beenden möchte?

von Lützau-Hohlbein: Meine Schwiegermutter, eine sehr starke Frau, war ebenfalls dement. Sie sagte immer: "Kinder macht euch keine Sorgen, ich habe genug Tabletten gesammelt, ich bring mich um."

sueddeutsche.de: Wie reagiert man auf so eine Aussage?

von Lützau-Hohlbein: Man hört nicht hin und blendet es aus. Oder man sagt: Bevor du das ernsthaft erwägst, reden wir noch mal darüber.

sueddeutsche.de: Und, konnten Sie es verhindern?

von Lützau-Hohlbein: Wenn sie es noch geschafft hätte, hätte sie es vielleicht getan. Aber sie war wahrscheinlich in einer ähnlichen Situation wie Walter Jens, von dem seine Frau gesagt hat: "Der Zeitpunkt, seinem Leben ein Ende machen zu können, den hat er im wahrsten Sinne des Wortes verpasst."

sueddeutsche.de: In seinem Abschiedsbrief schreibt Sachs: "Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten". Wie stellt man sich diesem geistigen Verfall, wenn nicht durch Suizid?

von Lützau-Hohlbein: Ich denke, dass wir als Gesellschaft erkennen sollten, dass unser Leben nicht nur durch den Intellekt, sondern auch durch die Gefühlswelt bestimmt wird und all die Dinge, die damit einhergehen. Wir sollten die Voraussetzungen dafür einfordern, indem wir sagen: Intellekt ist wichtig, aber der Mensch besteht aus mehr.

sueddeutsche.de: Dann muss sich der Umgang mit Demenz verändern?

von Lützau-Hohlbein: Wir sollten Menschen mit kognitiven Defiziten einfühlsamer begegnen. Wir wissen, dass Emotionen bis zum Schluss ganz wichtig bleiben, sie sind der einzige Bereich, über den man den Patienten noch bis zum Schluss erreichen kann. Gerade im fortgeschrittenen Stadium, wenn der Verlust der Sprache eintritt, funktioniert die Kommunikation über emotionale Zuwendung - Streicheln, Dasein, Spüren, dass der andere da ist. Auch die Darstellung in der Öffentlichkeit sollte sich entsprechend ändern. Mittlerweile sind die Menschen aber schon viel offener im Umgang, sind eher bereit, darüber zu reden. Das ist eine ähnliche Bewegung, wie wir sie im Umgang mit Behinderten erleben: Wenn wir offen damit umgehen, wird das Leben für alle Betroffenen leichter.

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In Bildern.

sueddeutsche.de: Kennen Sie Prominente, die sich engagieren oder als Betroffene zu ihrer Krankheit stehen?

Engagiert sich seit 1990 für einen offenen Umgang mit Alzheimer: Heike von Lützau-Hohlbein, Erste Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Berlin. (Foto: N/A)

von Lützau-Hohlbein: Die Deutschen sind da sehr zurückhaltend. Als positives Beispiel fällt mir Ronald Reagan (1994, fünf Jahre nach seiner Amtszeit wurde bei dem ehemaligen US-Präsidenten Alzheimer diagnostiziert; Anm. d. Red.) ein, der an die Öffentlichkeit gegangen ist und sagte: Ich habe diese Krankheit, ich verabschiede mich, und es ist wichtig, dass ihr uns wahrnehmt. So weit sind wir bei uns nicht, und ich weiß nicht, ob wir da je hinkommen. Es ist wichtig, dieses Thema aus der Tabuzone herauszuholen.

sueddeutsche.de: Gibt es nicht ein Video mit Roberto Blanco, in dem sich der Sänger - sichtlich verwirrt - plötzlich auf der Bühne eines Heavy-Metal-Konzerts wiederfindet?

von Lützau-Hohlbein: Das ist absolut sehenswert, und es zeigt im Grunde genau die Problematik, indem es die Frage aus Sicht des Betroffenen stellt: "Wo bin ich hier gelandet, hier läuft irgendetwas falsch." Ich würde mir wünschen, dass das normaler für uns wird, wenn wir es mit dieser Krankheit zu tun bekommen.

sueddeutsche.de: Angenommen, es ist soweit: Ich bemerke erste Symptome, habe das Gefühl, "im falschen Film" zu sein - was kann ich tun? Vielleicht will ich die Krankheit ja gar nicht wahrhaben.

von Lützau-Hohlbein: Wenn die letzte Alternative ein Pflegeheim ist, in das wir alle nicht wollen, ist das auch kein Wunder. In jedem Fall erst mal zum Arzt, denn es gibt behandelbare Formen der Demenz. Und es gibt meist eine lange Phase vor der Pflege. Außerdem sollte man sich alternative Versorgungsmöglichkeiten suchen, wie zum Beispiel Wohngruppen, die nicht das Stigma des Pflegeheims haben. Noch besser ist eine Versorgungssituation in unserer häuslichen Umgebung, die es uns erlaubt, weiter zu Hause leben zu können.

sueddeutsche.de: Aber dazu braucht man auch die Familie, die sich um einen kümmert - wieder eine gesellschaftliche Form, die es so nicht mehr gibt: Kinder gehen in andere Städte, alle verstreuen sich über den Kontinent.

von Lützau-Hohlbein: Angehörige muss ja nicht immer Familie heißen, das können auch Nachbarn sein oder Freunde. Nehmen Sie Henning Scherf, der schon zeitig eine alternative Wohnsituation gewählt hat (Bremens Altbürgermeister, SPD, entschied sich Mitte 40 für das Zusammenleben mit Freunden in einem alten Bremer Stadthaus; Anm. d. Red.). Wir müssen den Begriff "Angehörige" ausweiten. Das setzt voraus, dass wir uns bereits in jüngeren Jahren bewusst mit dem Alter auseinandersetzen. Man sollte sich überlegen: Wie will ich später leben? Ich denke jedoch, dass unsere Gesellschaft da noch nicht so weit ist. "Alter als Aufgabe" - das hat etwas zu tun mit Haltung. Wenn wir wissen, dass eine Demenz wahrscheinlicher wird, je länger wir leben, dann müssen wir das entsprechend berücksichtigen.

sueddeutsche.de: Klingt vernünftig, aber sind wir so? Obwohl wir alle sterben müssen, regeln wir keine Patientenverfügung, keine Organspende, kein Testament.

von Lützau-Hohlbein: Nein, wir sind nicht so vernünftig. Aber diese Anforderungen kommen auf uns zu. Wenn wir weniger abstrakt denken und uns klar machen, was Demenz bedeutet und welche Konsequenzen die Krankheit hat, dann heißt es genau das: langfristig Planen.

sueddeutsche.de: Nun hat Gunter Sachs sich sicher nicht mit dem Gedanken an "alternative Lebensformen im Alter" auseinandergesetzt. Hätte ihm denn keiner irgendwie helfen können?

von Lützau-Hohlbein: Ich kann mir vorstellen, dass seine Frau versucht hat, ihm zu helfen. Aber dass er in seiner Persönlichkeit so stark war, dass er bei seiner Meinung blieb: "Ihr könnt mir viel erzählen, das wird sicher alles ganz furchtbar." Es gibt Menschen, die sind so stark in ihrer Persönlichkeit und ihrem Willen, die erreicht man nicht. Man kann ihnen nur Unterstützung anbieten. Was derjenige daraus macht, haben Angehörige nicht in der Hand.

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