ÜberLeben:Ingrid Steeger: "Ich habe gelernt, zu gehorchen"

ÜberLeben: Ingrid Steeger wird am 1. April 70.: Eliza Doolittle ist meine Gefährtin, mein Ein und Alles und meine beste Therapeutin. Vor ihr muss ich nichts verbergen, mich nicht verstellen und nicht schauspielern

Ingrid Steeger wird am 1. April 70.: Eliza Doolittle ist meine Gefährtin, mein Ein und Alles und meine beste Therapeutin. Vor ihr muss ich nichts verbergen, mich nicht verstellen und nicht schauspielern

(Foto: Stephan Rumpf)

Sie hatte einen Bekanntheitsgrad in Deutschland von 98 Prozent, mehr als die Hälfte der Männer hätte für sie ihre Frau stehen lassen: Doch das Leben von Ingrid Steeger war alles andere als wunderbar. Aus der Serie "ÜberLeben".

Protokoll von Lars Langenau

Ich wäre gerne Archäologin geworden: Steine freipinseln, das wäre was für mich gewesen. Bei mir selbst die Schichten der Vergangenheit freizulegen, fiel mir lange schwer. Vor ein paar Jahren habe ich meine Biografie veröffentlicht. Jede Nacht erst in Bonn im Theater gespielt, dann geschrieben. Der Prozess des Schreibens war schrecklich, denn es brach alles noch einmal auf. Alles, was in meiner Kindheit und danach schiefgelaufen ist, alle Verletzungen und Wunden. Doch diese Aufarbeitung war notwendig für mein Überleben.

Zu dieser Zeit ist auch meine böse Mutter gestorben. Sie wurde 100 Jahre alt und hat doch nichts von ihrem Leben gehabt. Meine Schwester sagte immer: Böse Menschen können nicht sterben. Bei unserer Mutter traf das zumindest sehr lange zu. Ihr ganzes Leben hatte sie uns gezeigt, dass wir nicht gewollt waren. Versöhnt haben wir uns nie, aber zum Ende ihres Lebens hatte ich Mitleid mit ihr. Da war sie dement und so wund gelegen, dass man sie nicht anfassen konnte.

Die Wohnung meiner Eltern in Berlin-Moabit war ausgebombt, nach dem Krieg lebten wir alle zusammen in einem Zimmer. Für meine Mutter waren unsere Lebensumstände eine Schande, wie für sie alles eine Schande war. Nach außen wahrte sie den Schein. Doch drinnen war die Hölle.

Als jüngstes Kind schlief ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr bei meinen Eltern im Bett. Was sich zwischen den beiden abspielte, hatte mit Liebe nichts zu tun. Ich wurde hin und her geschoben, damit mein Vater sich seinen Willen mit Gewalt holen konnte. Da habe ich gelernt, dass der weibliche Körper nicht den Frauen selbst gehört.

Ich wurde so erzogen, dass ich zu gehorchen habe - und niemand bin. Vor meiner Mutter konnte ich mich nur in einer Ecke neben einem Schrank verstecken, in der mich ihre Schläge mit dem Kleiderbügel nicht erreichten. Bei meinem Vater mussten wir Flusen und Krümel vom Teppich aufsammeln. Natürlich fand er bei der Inspektion immer etwas, und meine Schwester und ich wurden wieder windelweich geprügelt. All das haben wir stumm ertragen. Vielleicht noch schlimmer aber als die Schläge war, dass man bei uns zu Hause nicht redete. Doch wenn man ein Kind ist, denkt man, das alles sei normal.

Die Serie "ÜberLeben"

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen und wie Menschen aus Krisen wieder herausfinden. Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de.

Süßigkeiten habe ich gehasst

Ich bin extrem schmal, selbst in den Wechseljahren änderte sich das nicht. Mit Mitte, Ende 20 fand mich mein Entdecker, der Klimbim-Regisseur Michael Pfleghar, zu dünn. Wir waren ein paar Jahre zusammen, auch wenn er unsere Beziehung nach außen leugnete. Jedenfalls zwang er mich damals, jeden Tag ein Stück Torte zu essen. Ich habe es gehasst.

Mein Großvater war Konditor, und wenn der mit was Süßem ankam, wusste ich schon, was er wollte. Mit sechs, sieben Jahren hat er mich vielfach sexuell missbraucht. Als ich meiner Mutter sagte, was mein Opa macht, setzte es wieder nur Schläge. Er war ihr Vater, und wir wurden am Wochenende oft zu ihm geschickt, dann gab es immer Marzipan. Bis heute kann ich den Geschmack und selbst den Geruch von rohem Marzipan nicht ab. Seine Berührungen empfand ich als ganz und gar widerlich, aber nicht als etwas Unrechtes. Später erfuhr ich, dass jeder in meiner Familie von seiner Neigung wusste. Da ihn nie jemand anzeigte, wurde er nie belangt.

Meine Welt als Heranwachsende in dieser Umgebung war die der großen Leidenden, der Welt der großen Dramen. Die Elenden von Victor Hugo wurde zu meiner Bibel. In der Schule traute ich mich nicht, laut vor den anderen zu sprechen, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Ich ging später auf eine Handelsschule und wurde Stenotypistin, aber das war furchtbar langweilig.

Meine Schwester und ich gingen Abend für Abend tanzen, um die Enge und Lieblosigkeit unseres Elternhauses zu vergessen. Irgendwann bekamen wir das Angebot, in Rolf Edens Playboy-Club als Gogo-Girls zu tanzen, und kurze Zeit später gewann ich da eher zufällig 1000 Mark als "Miss Filmfestspiele 1968". Das war mein Grundkapital für meinen Auszug, in mein erstes eigenes Zimmer und mein eigenes Bett!

Mein erstes Mal war eine Vergewaltigung

Es kamen kleinere Fotoshootings zustande und Rollen in Sexfilmchen, weil ich zugleich sexy und unschuldig wirkte. Dabei fand ich mich selbst nie schön, höchstens niedlich. Ich bin dann auch mal nackt über den Kaiserdamm in Berlin gelaufen oder fuhr nur mit Helm bekleidet auf einem Roller durch Stockholm. Nackte Brüste waren in den Sechzigern noch eine Sensation. Das mit den Filmchen machte ich etwa vier Jahre. Aus heutiger Sicht waren die so was von harmlos; für mich waren es damals nur Jobs, weil ich das Geld dringend brauchte. Aber nach dem Schulmädchenreport und ähnlichen Streifen wurde ich nur noch als Sexobjekt wahrgenommen.

Ernst nahm mich keiner. Wer war ich schon? Eine, die sich auszog. Mehr nicht. Mein Körper gehörte da schon lange nicht mehr mir. Ich bin so oft vergewaltigt und sexuell missbraucht worden, dass es mir egal war, wenn man meinen Po und meine Brüste sah. Mein Körper war stumm und gefühllos, als sei er ein Stück totes Holz.

Mein erstes Mal, mit 18 Jahren, war eine Vergewaltigung. Danach ist mir das noch drei weitere Mal bis zu meinem 21. Geburtstag passiert. Irgendwann dachte ich nur noch: Hinlegen, Hände hoch, dann stöhnen die Männer ein bisschen und gleich ist es vorbei. "Ich hatte Glück, es ging schnell vorbei", ist zu meinem Mantra geworden. Das Mantra einer vergewaltigten Frau.

All das hat mich geprägt: Mein ganzes Leben konnte ich mich nie gegen starke Männer wehren. Mit 40 hatte ich meinen ersten Orgasmus, aber danach auch nur noch zwei-, dreimal. Wenn ich verliebt war, empfand ich die körperliche Seite durchaus als schön, Sex hingegen sehr lange nicht.

Für Männer war ich ein Phantasieprodukt

Es wurde in den Klatschzeitungen immer geschrieben, dass ich viele Männer hatte. Doch das stimmt gar nicht. Allein mit Michael Pfleghar und Dieter Wedel fühlte ich eine Zusammengehörigkeit, aber geliebt haben auch die mich nie. Ich hatte immer die Hoffnung, dass das mit meinen Partnern schon funktionieren würde, wenn wir erst mal zusammen wohnen.

Doch auch meine letzte Beziehung ging schief. Erst dachte ich: ein Arzt aus Hamburg - wie toll. Dabei hoffte er bloß, mit Hilfe meiner Kontakte TV-Arzt zu werden. Als ich mit ihm darüber reden wollte, sagte er: "Zieh aus oder halte die Schnauze." Wenn ich nicht gut behandelt werde, gehe ich zuerst auf Abstand - und wenn sich nichts ändert, bin ich weg wie ein Torpedo. Ich war immer treu, doch vielen wurde es schnell langweilig mit mir. Für Männer war ich ein Phantasieprodukt, die haben sich irgendwas zurechtgesponnen, was ich nicht war.

Dabei wollte ich eigentlich nur geliebt werden, aber das hat nie so richtig geklappt. Außer mit meinen Hunden. So ein Hund ist wie ein Kind. Ich bin morgens schon um sechs Uhr auf den Beinen, und dann sind wir vier bis sechs Mal am Tag draußen. Alleinsein kann ich inzwischen gut aushalten. Ich bin ja nicht einsam, da ich immer meinen Hund dabei habe.

Der, den ich gerade habe, heißt Eliza Doolittle, mein erster Yorkshire-Terrier. Sonst hatte ich fast immer Dackel. Adelaine wurde vergangenes Jahr an meinem Geburtstag mit zwölf Jahren eingeschläfert. Eliza Doolittle, die damals neun Wochen alt war, bekam ich vom Theater in Kassel geschenkt. Seither sind wir unzertrennlich, sie ist meine Gefährtin, mein Ein und Alles und meine beste Therapeutin. Vor ihr muss ich nichts verbergen, mich nicht verstellen und nicht schauspielern.

Klimbim war Segen und Fluch zugleich

Ich habe mein Leben lang gehofft, wenn ich mich nur willfährig genug verhalte, werden Glück und Liebe von allein zu mir kommen. Der Regisseur Dieter Wedel etwa mochte und akzeptierte mich wie ich war, er ließ mich leben und stand selbst in den Medien zu mir. Ich nannte ihn Große Liebe, er gab mir Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Dabei war ich nur seine Zweitfrau. 14 Tage war er bei mir und 14 Tage bei seiner Freundin. Eigentlich war das gar nicht schlecht. Wenn er weg war, lebte ich mein eigenes Leben. Er war vielleicht neben meinem ersten Ehemann, Lothar Elias Stickelbrucks, und meinem späteren Freund, Jean-Paul Zehnacker, der einzige nette Partner, den ich hatte. Mit Stickelbrucks bin ich noch heute befreundet.

1973 kam der große Wendepunkt in meinem Leben. Völlig überraschend stieg ich bei Klimbim ein, einer für das deutsche Fernsehen völlig neuartigen Show mit Gaststars wie Jerry Lewis und Curd Jürgens. Alles war sehr professionell und groß aufgezogen. Ungefähr 3000 Mark bekam ich für eine Sendung, das war aufs Jahr gerechnet nicht besonders viel. Aber wir Hauptdarsteller waren damals unbekannt, und es hieß: Den Namen holt ihr euch von Klimbim - und das Geld von woanders.

Helfen tat mir gut

Klimbim war Segen und Fluch zugleich. Ich machte Werbung, Gastauftritte in Shows, gab Autogrammstunden. Plötzlich hatte ich ganz viele Freunde und jeder wollte etwas von mir, auch Geld. Ich war fast glücklich: Klein-Steeger wurde gebraucht. Also war ich da. Helfen tat mir gut. Bis heute ziehe ich Kraft daraus, anderen zu helfen, die schwächer sind als ich. Ich habe ein Helfersyndrom. Ich finde immer jemanden, um den ich mich kümmern kann. Und ich brauche meine Sorgenkinder. Im Haus helfe ich einer älteren Frau, die jünger ist als ich, mit dem Rollator und kaufe für einen Mann mit spastischer Lähmung ein. Ich habe mich auch mal um aidskranke Kinder und Waisen in Rumänien gekümmert, aber nach drei Jahren ging der Verein leider pleite.

Jedenfalls musste ich mir für Klimbim die Haare blondieren. Ich war das böse Kind, die Horror-Gaby und die freizügige, süß-naive, aber etwas dümmliche Blondie. Vor lauter Aufregung japste ich bei den Proben nach Luft, was dann zu meinem Markenzeichen wurde: die "Hauchstimme". Mit meinen Rollen und dem Satz "Dann mach' ich mir einen Schlitz ins Kleid und finde das wunderbar", wurde ich zu Deutschlands "Ulknudel". Von einem Tag auf den anderen war ich ein Star - und musste lernen, damit klarzukommen. Die Boulevardzeitungen holten alte Nacktfotos von mir raus, und ich schämte mich in Grund und Boden.

Auch bei Klimbim musste ich immer wieder meinen Busen zeigen. Dabei habe ich das gehasst, wenn das ganze Studio plötzlich voll war und alle Redakteure ins Studio kamen. Alle dachten, ich sei dumm, dusselig und doof. Pfleghar sagte mir, was ich zu tun und zu denken hatte, und ich folgte bereitwillig. Er gab mir stets das Gefühl, nicht zu genügen und signalisierte mir, dass nur er wusste, was gut für mich war. In den fünf Jahren unserer Beziehung machte er mir nur ein einziges Geschenk: ein Lexikon. Dazu die Aufforderung, dass ich mir da ein paar Worte raussuchen sollte, die ich in Interviews verwenden sollte. "Dann wirkst du intelligent", sagte er.

Ich war lange auf der Suche nach intellektuellen Männern, weil ich nichts davon von zu Hause mitbrachte. Ich war Pfleghars Erfindung - und sein Spielzeug. Es war sehr mutig, dass ich mich von ihm getrennt habe. Er versuchte immer wieder, mich zurückzubekommen, aber seine Drogensucht war heikel. Drei Lines in einer halben Stunde waren üblich. Mir wurde schlecht davon, ebenso vom LSD, das er jedes Wochenende nahm. Aber ich hatte ja gelernt, zu gehorchen. Obwohl ich so eine Sehnsucht danach hatte, haben wir uns, bis auf den Sex, nie berührt. Wir waren auch nie Freunde. Am 23. Juni 1991 erschoss er sich in der Badewanne - "im Kokainrausch", hieß es in der Presse.

Ich bin froh, dass ich aus der Beziehung mit ihm noch einigermaßen heil rausgekommen bin. Die Jahre bei Klimbim waren wohl die Zeit, in der ich am meisten weinte. Ich habe lange dagegen angekämpft, dass man meine Ehrlichkeit mit Naivität verwechselte. Irgendwann war es mir egal. Meine Kollegin Elisabeth Volkmann sagte immer: "Ingrid, besser in einer Schublade als in gar keiner."

Das Wichtigste war für mich immer, den Menschen um mich herum zu gefallen und sie glücklich zu machen. Aber das bedeutet auch, dass ich unglückliche Menschen automatisch anziehe. Wenn ich in ein Taxi einsteige, weiß ich schon, dass mir gleich der Fahrer seine ganze Lebensgeschichte erzählen wird.

Ich möchte ein Erdmännchen werden

2001 reichte es mir. Irgendjemand muss der Polizei gesteckt haben, ich sei suizidgefährdet. Und so kamen sie nachts und brachten mich, obwohl ich mich mit Händen und Füßen wehrte, in die Psychiatrie nach Haar. Ich werde nie vergessen, wie der Polizist mir den Hörer aus der Hand riss, als ich noch einen Freund anrufen wollte. In Haar fragten sie mich, ob ich bleiben wolle. Ich sagte "Nein". Die Antwort: Dann bleibt das lebenslang in den Akten stehen, dass Sie suizidgefährdet sind. Das war ich von diesem Zeitpunkt an tatsächlich. Zumindest kurzfristig. Selbst wenn heute jemand bei mir klingelt oder an die Tür klopft, werde ich noch hysterisch.

Kaum war ich wieder zu Hause, klopfte zehn Minuten später die Bild-Zeitung an meine Tür, denen jemand gesagt haben muss, dass ich vom Dach springen wollte. Dabei habe ich so einen schlechten Orientierungssinn, dass ich da gar nicht hingefunden hätte. Am nächsten Tag hatte ich Probe, lag im Bett und lernte meinen Text. Also öffnete ich nicht und ging nicht ans Telefon. In dem Artikel stand in großen Lettern, dass ich in die Tiefe springen wollte. Dabei habe ich mich nur ausgeheult. Ich habe sogar die Polizei angerufen, dass die doch bitte alles klarstellen sollen. Aber bei der Pressestelle der Polizeit hat kein Journalist mehr angerufen: Die wollten einfach, dass ich auf dem Dach gestanden habe. Allen Journalisten, denen ich erzählte, wie es wirklich war, kümmerten sich nicht um die Wahrheit.

Es stand sogar mal in der Zeitung, dass ich meinen Grabstein in meiner Wohnung habe. Stimmt auch nicht: Das ist eine große, schwere Steinschnecke, ein Gartenstein, der auf dem Balkon steht. Einmal hat die Boulevardpresse behauptet, dass ich zu einer Wahrsagerin gehen würde oder mir selbst die Karten legen würde. So ein Blödsinn.

Ich wurde protestantisch getauft, war aber zu keiner Zeit gläubig. Zwar habe ich mich jahrelang mit Esoterik beschäftigt, aber Gott immer ausgeklammert, weil mir den bislang keiner erklären konnte. Ich glaube an die Wiedergeburt. Allerdings habe ich mich entschlossen, dass ich kein Elefant werden will. Die müssen immer arbeiten. Ich möchte viel lieber ein Erdmännchen werden, weil die so süß sind und aufeinander aufpassen.

Unter Menschen ist das nicht so. Ich unterscheide zwischen Bekannten, guten Bekannten, Freunden und guten Freunden. Von denen habe ich nur eine Handvoll, ein paar sind inzwischen gestorben. Unter Kollegen habe ich nur wenige Freunde, weil ich Schauspielern oft nicht traue. Sie sind eben Schauspieler. Als es mir schlecht ging, hat sich mein erster Ehemann gemeldet, aber viele haben sich tot gestellt.

Hartz IV hat mich wachgerüttelt

2004 gab es ein Revival von Klimbim auf der Bühne. Doch es währte nicht lange, dann starben Horst Jüssen sowie Elisabeth Volkmann und Peer Augustinski erlitt einen Schlaganfall. Wichart von Roëll ist heute neben mir der Einzige, der von der Truppe noch lebt. Jedenfalls wurde das Tournee-Aus für mich zur Katastrophe: Ich hatte Geldnot, meine Beziehung ging kaputt, ich musste umziehen. Ich schlitterte in eine handfeste Depression, war innerlich wie äußerlich eingefroren. Lebte nicht, sondern überlebte nur.

Ich ging vier Monate in eine Klinik, habe aber im Grunde keine Therapie gemacht. Ich wusste ja, was in meiner Kindheit passiert war und was ich als junge Frau erlebt hatte. Das musste mir keiner mehr erzählen. Deshalb habe ich eher den Arzt therapiert als der mich.

All das kostete abermals viel Geld. Meine Einnahmen wurden zu dieser Zeit umgehend vom Finanzamt gepfändet. Ich schob alles beiseite, auch die Post. Ich bin ein Mensch, der grundsätzlich nichts mit Papieren zu tun haben will. Das wurde mir zum Verhängnis, da ich auch keine Rechnungen mehr bezahlte, die Räumungsklage übersah und aus meiner Wohnung flog. Ich musste meine Lebensversicherung auflösen und hatte nichts mehr. Die Abwärtsspirale begann sich immer schneller zu drehen und riss mich mit.

Dass Ingrid Steeger Kult war, davon konnte ich nicht leben. Außerdem befand sich meine Seele unverändert in einer Art Wachkoma. 2010 bezog ich für vier Monate Unterstützung vom Amt. Das war ein Schock. Aber es war auch ein Segen, weil ich in der Zeitung lesen musste: "Ingrid Steeger verarmt, lebt von Hartz IV". Das hat mich wachgerüttelt und mir gezeigt, dass ich mein Leben endlich selbst in die Hand nehmen musste. Bereits vier Monate später konnte ich wieder voll für mich bezahlen und brauchte die Stütze nicht mehr.

Als ich 65 Jahre alt war, hatte ich in dem sehr erfolgreichen Theaterstück Gatte gegrillt erstmals in meinem Leben eine Rolle, die mich befriedigte. Eine rabenschwarze, makabre Komödie mit ernstem Kern, die ich zu gerne nochmals spielen würde, wenn denn ein Angebot dazu käme.

Heute bekomme ich eine kleine Rente und manage mich nach einigen Enttäuschungen inzwischen selbst. Auf die Bühne könnte ich nicht verzichten. Ich stehe da, weil ich es finanziell noch muss und dem Publikum Spaß bringen möchte. Mit jeder erfolgreichen Vorstellung habe ich das Gefühl, stärker und selbstbewusster zu werden.

In den vergangenen vier Jahren habe ich 570 Mal den Kurschatten in München, Berlin, Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Hamburg und sonst wo gespielt. Jeweils für zwei Monate in einer anderen Stadt. Dann wieder Sei lieb zu meiner Frau in Kassel. Ich spiele da, wo man mich will.

Im Grunde bin ich ein Stehaufmännchen

Ich bin immer den Männern gefolgt, zog nach Hamburg, München, Zürich, wohnte fünf Jahre bei Paris und in Kenia. München war immer mein Zufluchtsort. Aber jetzt will ich wieder weg: nach Kassel, Bremen - oder was weiß ich wohin. Weil ich etwas Neues brauche. Ich bin zwar 70, aber ein kleiner Floh.

Ich würde es heute niemandem mehr empfehlen, Schauspieler zu werden, weil es einfach zu viele davon gibt. Ich würde es ja selbst nicht mehr wollen. Auch möchte ich nicht mehr jung sein, dazu war mir mein Leben zu anstrengend. Und ich mag Männer, aber auch die können mir heute alle gestohlen bleiben. Seit fast neun Jahren bin ich absoluter Single, weil ich Angst davor habe, wieder Dinge zu machen, die ich eigentlich nicht machen möchte. Ich denke, ich bin erstmals in meinem Leben selbstbestimmt. Mit 70 glaube ich einfach nicht mehr an die große Liebe. Na ja, vielleicht wenn ich einen Schwulen kennenlerne, der mich heiratet, dann nehme ich den.

Ich habe fast alles gehabt, fast alles verloren und war in einem relativ hohen Alter gezwungen, noch einmal ganz von vorn anzufangen. "Wenn" und "hätte" habe ich weitgehend aus meinem Wortschatz gestrichen, sie stehen für eine unerfüllte Vergangenheit, die ich nicht mehr ändern kann.

Bei Google habe ich einen Satz gefunden: "Wer nie am Abgrund steht, dem wachsen keine Flügel." Er passt zu mir. Hinfallen kann man öfters, aber Aufstehen ist Pflicht. Im Grunde bin ich ein Stehaufmännchen. Muss ja. Was soll ich auch da unten liegen bleiben?

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

  • ÜberLeben "Tourette hat eben nichts mit 'Arschloch' zu tun"

    Jean-Marc Lorber hat das Tourette-Syndrom. Was er sich auf der Straße deshalb schon anhören musste und warum er ohne obszöne Worte auskommt.

  • Shufan Huo Die Not nach dem Trauma

    Durch Zufall gerät eine junge Ärztin in die Katastrophe auf dem Berliner Breitscheidplatz. Sie hilft sofort, wird selbst aber mit quälenden Gefühlen allein gelassen. Sie ist nicht die Einzige.

  • "Unsere gemeinsame Zeit war einfach vorüber"

    Trennungen tun meistens weh. Doch wie ist das, wenn man älter ist - und sich mit 60 noch einmal völlig neu orientieren muss? Eine Psychotherapeutin berichtet.

___________________________

Ingrid Steeger, 70, lebt in München und tritt hin und wieder noch auf Bühnen in Deutschland auf. Sie hat 2013 ihre Biografie veröffentlicht: "Und finde es wunderbar", erschienen bei Lübbe.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: