Übergriffe in der Silvesternacht:Was die Opfer von Köln jetzt brauchen

Ursula Enders

Ursula Enders, Leiterin von "Zartbitter", Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch in Köln.

(Foto: privat)

Die Übergriffe in der Silvesternacht haben die Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen befeuert. Doch was ist mit den Opfern? Gespräch mit einer Traumatherapeutin.

Interview von Violetta Simon

Ursula Enders, Leiterin der Beratungsstelle Zartbitter in Köln, arbeitet seit 35 Jahren mit Opfern. Die Traumatherapeutin hält die Debatte in Bezug auf die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof für sinnvoll, auch in Bezug auf kommende Ereignisse wie den Karneval. Sie plädiert dafür, die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen für Mädchen und junge Frauen auch vor alltäglicher sexueller Gewalt im öffentlichen Raum nicht aus dem Blick zu verlieren.

SZ: Viele Frauen haben erst Tage später Anzeige erstattet. Die Betreuungsstellen rechnen damit, dass sich die Opfer erst in den nächsten Tagen und Wochen bei ihnen melden. Warum warten einige so lange, warum verschweigen manche ganz, was ihnen passiert ist?

Ursula Enders: Wenn sie den Täter nicht benennen können und aus Schock Teile des Tatablaufes ausgeblendet haben, kommen die Betroffenen oft zu der Überzeugung: Mir würde ohnehin niemand glauben. Zumal viele in der Vergangenheit erlebt haben, dass solche Vorfälle bagatellisiert werden. Außerdem: Wenn die Polizei derart hilflos reagiert, wieso sollten die jugendlichen Mädchen und Frauen sich anschließend dort melden? Dass inzwischen immer mehr Vorfälle zur Anzeige gebracht wurden, hat sicher mit der Berichterstattung in den Medien zu tun. Wenn bekannt wird, dass auch andere das erlebt haben, sehen die Betroffenen nicht mehr ein individuelles Versagen oder eine Schuld bei sich und fühlen sich ermutigt, sich selbst zu melden.

Versagen und Schuld - das klingt nach diesem unsäglichen Satz "Wer sich so anzieht, muss sich nicht wundern" ...

Ob man Opfer wird oder nicht, hängt nicht vom äußeren Erscheinungsbild ab. In der Regel suchen sich Täter vielmehr Gelegenheiten, die sich ihnen bieten und in denen Frauen schutzlos sind. Jeder Taschendieb achtet darauf, ob jemand ein leichtes Opfer ist - und genauso verhalten sich Sexualstraftäter. Deshalb macht es bei Vorfällen wie am Kölner Hauptbahnhof auch keinen Sinn, mit Betroffen über Selbstschutzmaßnahmen zu diskutieren. In Situationen sexueller Gewalt in Gruppen funktionieren diese Maßnahmen nicht, genau so wenig wie gut gemeinte Verhaltensregeln - sie verstärken nur die Schuldgefühle der Frauen.

Wie wirkt sich das auf ein Opfer aus, wenn der Täter nicht nur eine Person ist, sondern die Gewalt einer ganzen Gruppe sich gegen sie richtet?

In so einer Situation erleben die Opfer eine noch viel tiefere Ohnmachtserfahrung und das Gefühl, der übermächtigen Tätergruppe hoffnungslos ausgeliefert zu sein. Verstärkt wird dieser Eindruck oftmals dadurch, dass sich die Beteiligten durch Gesten und Bemerkungen gegenseitig anfeuern. Die Opfer verhalten sich, bei Gruppen ebenso wie bei Einzeltätern, unterschiedlich: Einzelne fangen an zu kämpfen, manche flüchten - was hier kaum möglich war. Andere erstarren oder passen sich quasi an - eine typische Reaktion auf Gewalthandlungen: Sie leisten keinen nach außen erkennbaren Widerstand, weil sie hoffen, so geht es schneller vorbei. Nach Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt brauchen viele Mädchen und Frauen erst einmal Zeit, ihre eigene Reaktionen zu verstehen und wieder handlungsfähig zu sein.

Was geht in den Mädchen und Frauen nach so einem Vorfall vor?

Sie fühlen sich häufig beschämt, erleben sich selbst als beschmutzt. Jemand hat ihre persönliche Grenze verletzt, sie erleben die Erinnerung daran oft so, als wäre die Berührung der grapschenden Hände noch spürbar. Ihr Gefühl der Hilflosigkeit wird massiv verstärkt, wenn die Betroffenen in der Situation schutzlos waren und keine Hilfe von denen bekamen, von denen sie sich Hilfe erhofft hätten.

Es ist ein Dilemma, wenn ein junges Mädchen oder eine Frau "nur" begrapscht wird und keinen Täter benennen oder die Tat nicht nachweisen kann. Ab wann ist man ein Opfer sexueller Gewalt?

Sprechen wir lieber von Betroffenen. Der Opferbegriff reduziert Frauen auf die Erfahrung der sexuellen Belästigung. Diese Menschen sind aber nur in dieser Situation Opfer. Auch deshalb scheuen sich manche vor einer Anzeige - aus Angst, die Umwelt könnte sie auf die Opfererfahrung reduzieren und sie nicht in ihrer ursprünglichen Kompetenz wahrnehmen.

Also: Ab wann ist man betroffen von sexueller Gewalt?

Jegliche Form von sexuellem Übergriff und Grenzverletzung ist sexualisierte Gewalt. Davon betroffen zu sein, bedeutet nicht, lebenslang an den Folgen zu leiden. Wenn man selbst jedoch die eigene Betroffenheit nicht ernst nehmen kann und auch die Umwelt das nicht tut, wenn also keine Möglichkeit besteht, die Ereignisse zu verarbeiten, entwickeln sich Langzeitfolgen. Das ist vergleichbar mit einer kleinen Wunde: Wenn sie nicht gereinigt wird, kann daraus mit der Zeit eine heftige Entzündung entstehen.

Können auch "kleinere" sexuelle Übergriffe traumatische Folgen haben?

Durchaus. Und jede Frau geht damit anders um. Manche reagieren extrem emotional, andere ganz sachlich, weil sie das Erlebnis von sich abspalten. Wie sich das langfristig auswirkt, ist davon unabhängig. Einige entwickeln keinerlei Symptome. Andere, die zunächst "gut funktionieren", leiden erst Monate später an den Folgen und bringen sie oft nicht mehr in Zusammenhang mit dem Erlebnis. Wie gut die Betroffenen ihre traumatische Erfahrung bewältigen, hängt auch davon ab, wie die Umwelt sie auffängt. Und ob sie angemessene Hilfe bekommen.

Was bedeutet in diesem Fall angemessene Hilfe?

Zum Beispiel Personen, die dem Opfer mit Empathie, aber auch mit der nötigen Distanz zur Seite stehen. Dabei ist es essenziell, dass Betroffene mit Informationen versorgt und aufgeklärt werden, um die eigene Reaktion besser zu verstehen. Außerdem brauchen sie Hilfestellung, um sich zu stabilisieren, wenn etwa Flashbacks (Anm. d. Red.: das erneute Durchleben eines traumatischen Ereignisses in der Erinnerung, ausgelöst durch einen Schlüsselreiz) oder heftige Stimmungsschwankungen auftreten.

Welche Bedeutung hat es, dass die Übergriffe von Männern mit Migrationshintergrund ausgingen, die eine andere Kultur und ein anderes Frauenbild haben?

Wenn Frauen von einer ihnen fremden Personengruppe angegriffen werden, kann das Gefühl entstehen, im eigenen Land schutzlos zu sein. Doch gerade jetzt ist die Gesellschaft gefordert, sich mit der Problematik alltäglicher sexueller Belästigung auseinanderzusetzen: Viele Frauen und junge Mädchen fühlen sich an öffentlichen Orten nicht sicher - wir von Zartbitter sind regelmäßig mit Fällen sexualisierter Gewalt konfrontiert. Die Täter sind keinesfalls nur Männer mit Migrationshintergrund, sondern überwiegend Deutsche. Es geht darum, diesen Skandal nicht als etwas Besonderes darzustellen, sondern klar zu machen, dass sexuelle Belästigung nicht mehr hingenommen wird, egal von wem. Das gilt natürlich ebenso für die Männer mit Migrationshintergrund, die bei uns ankommen. Sie müssen unsere Normen akzeptieren - und die müssen wir ihnen vermitteln.

Wie gelingt das?

Am besten dadurch, dass die Gesellschaft deutlich macht, dass wir immer und überall auf der Seite der Opfer stehen.

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