Übergewicht bei Kindern:Rund und ungesund

Europäische Adipositas-Tag

Brüste, wo (noch) keine sein dürften: Mehr als eine Million Kinder in Deutschland sind übergewichtig.

(Foto: dpa)

Eine Mutter beschreibt, wie sie ihre übergewichtige Tochter auf Zwangsdiät setzt. Für viele ist dieses Buch ein Skandal. Für Deutschland muss es ein Signal sein: 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche sind hierzulande zu dick - die Debatte darüber ist überfällig.

Von Charlotte Frank

Zu ihrer Vollkommenheit gelangt eine Erniedrigung ja erst, wenn sie vor Publikum vorgetragen wird. In einem Café zum Beispiel, an einer vollbesetzten Essenstafel oder - Gleichaltrige eignen sich besonders gut als Statisten der Demütigung - auf einem Kindergeburtstag.

"Bea, was machst du denn da?!", schreit die Mutter ins Partygetümmel, laut genug, um den Kinderlärm zu übertönen. Laut genug also, damit alle Eltern und Kinder mitbekommen, dass sich das kleine dicke Mädchen gerade an den Keksteller heranpirschen wollte und dabei von der Mutter ertappt worden ist. Wie dieses verfressene Kind daraufhin zur Sau gemacht wird und wie die Mutter ihm vorrechnet, wie viel Torte es an diesem Tag schon gehabt hat.

Eine Szene, in der die Erniedrigung zur Vollendung gelangt - Kinder, zumal die dicken, sind ja ohnehin leichte Opfer.

Eine Siebenjährige auf Zwangs-Diät

Man kann ihnen zum Beispiel, wie Beas Mutter, im Coffeeshop vor aller Augen den Kakaobecher aus der Hand reißen und in hohem Bogen in den Müll werfen. Man kann mit ihnen an einem vollbesetzten Tisch eine Diskussion über den nicht genehmigten Nachschlag führen, auch wenn sich das anfühlt, "als wären Scheinwerfer auf uns gerichtet". Man kann sie auch mal ohne Abendbrot ins Bett schicken, weil sie tagsüber zu feste reingehauen haben.

Darüber hat die New Yorkerin Dara-Lynn Weiss ein Buch geschrieben, das am 15. Juni bei Eden Books erscheint: "Wonneproppen", heißt es, das klingt knuddelig, nach flauschigen Tierbabys. Der Originaltitel ist da schon deutlicher: "The Heavy. A Mother, a Daughter, a Diet". - "The Heavy", erklärt Weiss, ist im Doppelsinn gemeint: "Man kann es auf die schweren Kinder beziehen, aber auch auf die harten Eltern." Im Buch beschreibt sie auf 240 Seiten, wie sie ihre siebenjährige adipöse Tochter Bea auf eine Zwangs-Diät setzt.

Als Bea nach einem Jahr acht Kilo abgenommen hat, stellt Weiss zwar fest: "Sie hatte nicht mehr das Gefühl körperlicher Unversehrtheit wie andere Kinder ihres Alters." Dennoch ist die Mutter zufrieden. So zufrieden, dass sie die Geschichte veröffentlicht: Zuerst, im April 2012, in der amerikanischen Vogue. Zum Artikel werden Hochglanzfotos der verschlankten Tochter in Designerkleidern abgedruckt. Ein Kind wie eine Puppe, im Arm einer attraktiven, schlanken Frau: Dara-Lynn Weiss. Wenige Monate später erscheint "The Heavy".

Der Aufschrei war gewaltig in den USA. Im feministischen Blog Jezebel.com brachte die Bloggerin Katie Baker die Stimmung auf den Punkt, als sie Weiss "eine der selbstsüchtigsten Frauen aller Zeiten" nannte. Im Internetmagazin Salon hieß es, das Verhalten der Mutter sei "verwerflich, verachtenswert, abscheulich". In der Huffington Post wandte sich selbst die Ärztin, die das von Weiss angesetzte Diätprogramm entwickelt hat, öffentlich gegen die "emotionale Bedrängung" der Tochter.

Es sind nur noch wenige Tage, bis "Wonneproppen" in Deutschland erscheint, und schon jetzt kann als sicher gelten: Auch hierzulande wird es Ärger geben. Vor zwei Jahren erst sorgte die "Tiger Mom" Amy Chua für aufgeregte Diskussionen, als sie in ihrem Buch "Die Mutter des Erfolgs" länglich erklärte, wie man kleine Mädchen mit drakonischer Härte zu Wunderkindern drillt.

Wertvolle Debatte

Brauchen Eltern jetzt wirklich das nächste Wehe-wenn-du-nicht-Buch, in dem eine "Diet Mom" schildert, wie sie ihre eigenen Gewichtskomplexe an ihrer Tochter aufarbeitet, die sie mit feldwebelhafter Disziplin auf Idealmaß trimmt?

Man kann von Dara-Lynn Weiss halten, was man will. Man kann über ihre Motive den Kopf schütteln, ihre Methoden verwerflich finden; man muss an das unsägliche Vogue-Shooting gar keinen weiteren Gedanken verschwenden. Aber die Antwort lautet: Ja. Wir brauchen ihr Buch.

Wir brauchen die Debatte darüber, wie unsere Gesellschaft zu einem weniger ratlosen Umgang mit übergewichtigen Kindern finden kann, die sie sehenden Auges hervorbringt. Wir müssen uns eingestehen, dass der Widerwille gegenüber der Diet Mom ein tiefer liegendes Unbehagen verbirgt: unsere Unbeholfenheit gegenüber dicken Kindern. Unsere Unfähigkeit, Regeln durchzusetzen, unverantwortlich selten. Dara-Lynn Weiss wiederum hat sie zu oft durchgesetzt und unverantwortlich öffentlich. Aber die Debatte, die sie damit anstößt, ist wertvoll.

Wie sollen Eltern mit Gewichtsproblemen Vorbild sein?

In Deutschland sind 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig und 750.000 weitere mehr als das: Sie sind adipös, ihr Körperfett hat krankhafte Ausmaße. Wie bei Bea aus "Wonneproppen", die zu Beginn des Buchs bei einer Größe von 1,32 Meter 42 Kilo wiegt. Solche Proportionen sind nicht nur psychisch, sondern auch physisch ungesund: Adipöse Kinder haben öfter orthopädische Leiden, sie haben ein hohes Bluthochdruck- und Diabetesrisiko, neigen zu Atembeschwerden und frühen Herz-Kreislauf-Problemen. Stoffwechsel und Hormonhaushalt können gestört werden. Und das sind nur Schlagworte aus dem Risikokatalog. Heute schon sind 15 Prozent der Deutschen zwischen drei und 17 Jahren übergewichtig.

Betrachtet man die Bevölkerung insgesamt, sieht es noch schlechter aus: Deutschland ist eines der Länder mit den schwersten Menschen Europas, fast ein Viertel der Erwachsenen ist adipös. Wie sollen Erwachsene, die ihr Gewicht selbst nicht im Griff haben, das Problem bei ihren Kindern beherrschen? Wie ein Vorbild sein? Ärzte beobachten, dass Kinder mit fettleibigen Müttern besonders gefährdet sind.

Man erkennt diese Kinder und Jugendlichen sofort: An Brüsten, wo noch gar keine sein dürften. An enormen Bäuchen, Hohlkreuzen und X-Beinen. An Gesichtern mit großen Wangen, die die Nase stets ein wenig nach vorne zu drücken scheinen. Man ist unangenehm berührt von diesen Kindern, wenn man sie auch noch bei McDonald's sitzen sieht, vor sich einen Burger, Pommes und die XXL-Cola.

Massives Unwissen

Ja, muss das denn sein? Können die Eltern da nicht ein bisschen achtgeben? Mal Nein sagen? Das grenzt ja an Körperverletzung!

Was sollen Eltern Adipöser denn jetzt tun? Auf der einen Seite wird ihnen Laxheit als Vernachlässigung ausgelegt, auf der anderen Seite Strenge als Drill. Dazwischen liegt nichts als massives Unwissen.

Wissenslücken lassen sich ja bekanntlich am besten mit Vorurteilen füllen, mit Halbweisheiten und Klugscheißerei. So können sich schon Mütter properer Einjähriger ungefragt vergiftete Komplimente anhören: Na, das kleine Moppelchen, das falle aber so schnell nicht vom Fleisch. So verdrehen auf Schlankheit konditionierte Erwachsene über den adipösen Teenager im Dönerladen die Augen, als könnte dessen dünner Freund nicht mindestens ebenso schlecht ernährt sein.

Ein Urteil zu übergewichtigen Teenagern erlaubt sich fast jeder - so wie sich fast jeder erlaubt, schwangeren Frauen auf den Bauch zu glotzen. Frei nach dem Motto: Was sichtbar ist, ist nicht intim. Es gibt wenige Leiden, die sich so schwer verbergen lassen wie Adipositas.

Es gibt auch wenige Leiden, die in so engem Zusammenhang zur gesellschaftlichen Herkunft stehen. Adipositas ist zur Armutskrankheit geworden: Nach Auskunft der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter (AGA) haben Kinder, die in Familien mit Migrationshintergrund aufwachsen, ein zweifach erhöhtes Risiko, übergewichtig zu werden. Bei Kindern aus prekären sozioökonomischen Verhältnissen ist das Risiko dreifach erhöht. "Adipositas wird mit sozialer Unterschicht gleichgesetzt", sagt die Berliner Ärztin und AGA-Sprecherin Susanna Wiegand.

So würden übergewichtige Kinder in der Schule öfter gemobbt. Später würden sie bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen benachteiligt. Sie bekommen schlechtere Jobs. Sie verdienen weniger Geld. Sie wachsen hinein in ein Leben voller Stigmata: Wer dick ist, ist arm. Wer dick ist, bewegt sich nicht. Wer dick ist, hat keine Selbstbeherrschung.

"Nachmittags bin ich am Computer oder sehe fern"

"Was isst du denn so am Tag?" - "Zum Frühstück gar nichts. In der Pause kaufe ich mir manchmal was am Kiosk."

"Und wie kommst du zur Schule?" - "Mit dem Bus, fünf Minuten. Ein Fahrrad habe ich nicht."

"Was sind deine Hobbys?" - "Nachmittags bin ich am Computer oder sehe fern."

"Wie lange?" - "So fünf Stunden."

Das ist ein Ausschnitt aus dem Erstgespräch zwischen Monika Komborakis und einer Patientin, zwölf Jahre alt, 85 Kilo schwer. Komborakis ist Kinderärztin am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Hamburg, das eines der renommiertesten Adipositas-Programme für Kinder und Jugendliche im Norden anbietet. Die Klinik hat dafür ein Team aus Ärzten, Ernährungsberatern, Physiotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeitern angestellt - Adipositas ist zu komplex, als dass Ärzte allein etwas dagegen tun könnten.

Es nutzt deshalb nichts, dieses Leiden isoliert als rein medizinische oder psychologische Herausforderung zu sehen. Übergewichtige Kinder und Jugendliche sind auch eine Herausforderung für die Politik.

Eltern, die keine Grenzen setzen

Ein Kind wird nicht von alleine adipös. Ein Kind wird adipös gemacht, von seinen Eltern, von seiner Umwelt. Natürlich: Der Mensch hat eine körperliche Veranlagung zu eher schlanken oder eher barocken Formen. Natürlich gibt es auch seltene Fälle, in denen Hormon- oder Stoffwechselstörungen Patienten übermäßig zunehmen lassen. Dennoch: Dafür, dass schon ein Grundschüler nicht bloß speckig ist, sondern adipös, muss mehr zusammenkommen als ungünstige Gene und ein kräftiger Appetit.

Zum Beispiel Eltern, die ihren Kindern kein Frühstück machen, weil sie schon zum ersten ihrer drei Jobs bei der Frühschicht sind. Das beobachten Monika Komborakis und ihre Kollegen immer wieder. Sie berichten von Alleinerziehenden, die nachts die schreienden Geschwister beruhigen mussten und deshalb nicht früh aufstehen.

Aber, sagt Komborakis, es gebe auch einfach viele Eltern, die keine Grenzen setzten und gerade mit Pubertierenden Erziehungskonflikte scheuten. Dabei hätten solche Auseinandersetzungen weniger mit Härte zu tun - als mit Verantwortung.

Ernährung ist mehr als Nahrungsaufnahme

Dafür, dass ein Kind adipös wird, sorgen ein hoher Medienkonsum und wenig Bewegung. Dafür sorgen Speisepläne voller Fertigprodukte und zuckriger Getränke - falls es überhaupt einen Speiseplan gibt und überhaupt gemeinsame Mahlzeiten mit festem Anfang und Ende. Viele sitzen stattdessen vor dem Fernseher oder dem PC und schieben sich Essen in den Mund, ohne das Schlucken zu bemerken, ohne den Geschmack zu genießen, ohne das Signal des Körpers zu spüren: Jetzt bin ich satt.

Ernährung ist mehr als Nahrungsaufnahme. Ernährung ist ein Stück Kultur. Wenn sie aber zum Auftauen von Pizza verkommt, wenn den Rezepten die Kreativität verloren geht und den Mahlzeiten die Struktur, wenn dadurch zuletzt ein Kind dick wird - dann steht dieses Kind nicht nur für schlechte Ernährung. Dann steht es für den Verlust einer Kultur, für soziale Abgehängtheit in Reinform. Dann sieht es schlecht aus, und jeder kann das sehen.

Doch das Problem zu erkennen, birgt noch lange keine Lösung. So gibt es in Deutschland zwar eine Vielzahl an Therapien für Adipöse, aber die Finanzierung ist miserabel. Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter hat ausgerechnet, dass ein Drittel der Programme nach zwei Jahren wieder eingestellt werden.

Auch zahlen Krankenkassen für die Behandlung oft erst beim Auftreten erster Folgeschäden. Adipositas an sich zählt nicht als Krankheit. Eher als Schicksal, mehr Erziehungs- als Gesundheitsproblem.

Sie ist aber alles zusammen - und um das Übergewicht in den Griff zu bekommen, reichen nicht ein paar Tipps von Ärzten und Ernährungsberatern. Um es zu bremsen, braucht es auch Eltern, die darauf achten, dass die Regeln eingehalten, die Programme durchgezogen, die Bildschirme ausgeschaltet werden. Es braucht ab und zu ein Nein. Notfalls ein deutliches.

"Ich weiß, dass mein Weg drastisch war. Aber es gab keinen anderen Weg als den drastischen", sagt die Autorin Dara-Lynn Weiss heute. Ihre Tochter Bea sei ein glückliches Kind gewesen, das sich ausreichend bewegte, Sport trieb und in einer heilen Familie ohne Junk-Food aufwuchs. "Ihr Problem war einfach, dass sie zu viel aß", sagt Weiss. Irgendwann mahnte die Kinderärztin immer lauter, und Bea kam weinend aus der Schule, weil sie "Fatty Patty" gerufen wurde. "Da erst habe ich mir eingestanden, dass es ein Problem gibt. Es ist für Eltern einfacher, das zu ignorieren", sagt die Mutter.

"Gewicht bestand für mich aus Zahlen"

Also meldete sie Bea bei einer Ernährungsberaterin an. Die ganze Familie lernte, Lebensmittel in ein Ampelsystem einzuordnen, je nach ihrem Kaloriengehalt mit grünen, gelben, roten Punkten belegt. Auch Kinderärzte in Deutschland empfehlen solche Programme.

Weiss pfiff bald auf die professionelle Begleitung und nahm die Sache selbst in die Hand. Jedes Gramm konnte über gute oder schlechte Laune in der Familie entscheiden. Wurde der mütterliche Ehrgeiz enttäuscht, schrumpften Beas Portionen sofort. War die Mutter zufrieden, wurde Bea mit Geschenken belohnt. "Was soll's, ich bin nun einmal zahlenfixiert. Gewicht bestand für mich aus Zahlen", schreibt Weiss in "Wonneproppen".

Aber Gewicht besteht aus mehr als Zahlen, Abnehmen besteht aus mehr als Zwang. Und Verantwortung aus mehr als Strenge. Eine "Diät mit sieben", wie sie Dara-Lynn Weiss sogar im Untertitel ihres Buchs nahelegt, ist ohnehin Quatsch für Kinder, die keine Kalorien zählen sollten, sondern verstehen, was altersgemäße Ernährung und Bewegung ist.

Aber selbst wenn ein Kind das verstanden hat: Den Speiseplan seiner Familie kann es nicht selbst umstellen. Es kann nicht steuern, was der Vater einkauft und was die Mutter kocht. Es kann den Rhythmus der Mahlzeiten nicht diktieren. Es braucht einen Rahmen. Wenn dieser Rahmen aber kaputt ist, wächst es aus ihm hinaus, im Wortsinn. Dann ist Adipositas ein Symbol dafür, wie schwer eine Kindheit unter Erwachsenen sein kann, die selbst die Grenzen aus dem Blick verloren haben.

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