Ü-30: Die Krankheiten:Erwachsen - von nun an geht's bergab

Endlich 30 - das bedeutet erwachsen werden, aber es partout nicht wollen. Zipperlein stellen sich ein. Ein Wörterbuch analysiert unsere größten Leiden.

Mirja Kuckuk

Auf Mitleid braucht man nicht zu hoffen. Im Gegenteil. Eines ist sicher: Mit 30 wird man von allen Seiten belächelt - hämisch von den Twentysomethings, abschätzig von den Vierzigjährigen.

Ü-30 T-Shirt

Wenn Tarnung nichts mehr nützt, hilft nur in die Offensive gehen.

(Foto: Foto: oh)

Die Älteren klopfen einem müde auf die Schulter mit einem fast angeberischen: "Ach Kind, du könntest meine Tochter sein" - und die Jüngeren fühlen sich aus unerfindlichen Gründen auf der "sicheren Seite". Als könnte ihnen diese Grenzüberschreitung nie widerfahren, selbst wenn sie schon 28 sind. (Erste Anzeichen, dass auch sie langsam Muffensausen bekommen: Sie feiern zum vierten Mal ihren "25. Geburtstag" oder laden zur "25 plus"-Party.)

Da Empathie also nicht zu erwarten ist, kämpft der Ü-Dreißiger wacker gegen den Umstand an, morgens um fünf im Indie-Club eigentlich nichts mehr verloren zu haben. Bockig schüttelt man das verschwitzte Haar - auch auf die Gefahr hin, sich als tanzender Kindergärtner zu fühlen und die folgenden drei Tage Kater und Krähenfüße pflegen zu müssen.

Abgesehen von der sozialen Schmach, ist da plötzlich dieses Stechen in der Brust. Der Besuch beim Kardiologen scheint unausweichlich, mindestens ein Langzeit-EKG muss her. Vielleicht ist ja der Herzfehler des Vaters ja doch vererbt worden - und schlägt unbarmherzig spätestens am 31. Geburtstag zu? Mit dem Schlimmsten ist zu rechnen.

Warum werden wir beim Überschreiten der dritten Dekade dermaßen hysterisch? Und warum leiden wir dabei so sehr?

Diesen Fragen geht die Autorin Nina Puri ("Elternkrankheiten") in ihrem zweiten Buch "Ü-30-Krankheiten" nach. Die in Deutschland lebende Engländerin hat halb erschrocken, halb amüsiert festgestellt, dass Deutsche über 30 im Vergleich zu anderen Nationen besonders intensiv leiden. Und zwar in einem Ausmaß, dass aus ihrer Recherche im Krankenmilieu ein Ratgeber hervorgegangen ist. Von A wie Absturz bis Z wie Zungenbruch will Nina Puri Lebenshilfe leisten.

Nachts leuchten gepimpte Gebisse

Dass das beste Alter vorbei ist, merkt man spätestens, wenn beim Joggen das Knie sticht und "das Bio-Müsli-Etikett nur noch auf einen Meter Entfernung entzifferbar ist", schreibt Puri.

Mit einem Mal zwickt es an allen erdenklichen Stellen, der Körper verwandelt sich in eine einzige Baustelle: Das Gesicht - einst stimmige Collage aus Augen, Nase und Mund - setzt sich aus Poren, Fältchen und geplatzten Adern zusammen. Auch die Kronen der Kindheit haben ausgedient, leidvolle und kostspielige Zahnarztsitzungen folgen - denn für eine Zahnzusatzversichung war man doch schließlich immer viel zu jung (und cool).

Das Ergebnis: Den Zahn der Zeit erkennt man bei über Dreißigjährigen besonders gut zu später Stunde. Blecken die Besserverdienenden unter ihnen im Dunkeln die Zähne, leuchten gepimpte Beißer wie "Neonröhren in der Nacht". Ein klarer Fall von generalüberholtem Gebiss.

Weitere Beobachtungen bei Nacht: Selbst bei Glatteis im Winter hetzen die Ü-30er durchs Dunkel, geplagt vom "Restless Legs Syndrom" - dem panischen Versuch, durch Joggen, Skaten oder Mountainbiken dem weiteren körperlichen Verfall davonzulaufen.

Aber die Autorin entdeckt nicht nur körperliche Gebrechen. Sie führt dem 30-jährigen Jammerlappen schonungslos seine Anfälligkeit für soziale Macken vor. Zum Beispiel die Applemania, auch "iSprung" genannt - eine Infektion des Ü-30-Systems durch kalifornische Apfelviren.

Auffälligstes Symptom dieser hochansteckenden Krankheit: Der Patient starrt stundenlang auf ein kleines weißes Gerät und ist nicht ansprechbar. Die Frau befällt hingegen vemehrt das krankhafte Bestreben nach einem perfekten Zuhause: "Sie dekoriert, verziert, garniert und illuminiert." Spätestens, wenn der Satz "Schuhe aus" fällt, wissen Partner und Gast, woran sie sind.

Puri erklärt diese geschlechterspezifischen Fehlsteuerungen mit einem Blick auf die Areale des männlichen und weiblichen Ü-30-Gehirns. Den Mann beschäftigen in erster Linie Retro-Trainingsjacken, Bundesliga, Karriere, gemeingefährliche Sportarten und das eigene Erektionsvermögen. Die Frau treibt - natürlich - anderes um: Buddhismus und Ashton Kutcher, Handtaschen, Yoga und Jamie-Oliver-Rezepte.

Die in Großbritannien erwachsen gewordene Autorin Puri beschreibt pointiert ihr deutsches Umfeld - und liefert viel Wortwitz. Doch das wirkt manchmal ermüdend. Zum Thema Sexualität fällt der Ü-30-Therapeutin tatsächlich die "Vögelgrippe" ein, bei der man unter zunehmender "Verschnupftheit", auch "Exualität", leidet.

So viel geballtes Sprachspiel ist mitunter zu viel des Guten. Auch die Bildsprache des Buches - Zeichnungen und Fotos - drücken allzu deutlich aus: Wir sind gestellt und ironisch gemeint. Sie werden zum Glück nur sparsam auf den 223 Seiten eingesetzt.

Hat die Autorin denn neben all der schonungslosen Analyse auch ein tröstendes Wort auf Lager? Nicht wirklich. Puri, Jahrgang 1965, bezeichnet sich - natürlich nicht ironiefrei - als junggebliebene, urbane Kreativdirektorin. Aus eigener Erfahrung weiß sie: Mit 40 wird es nicht besser. Da suchen Männer auffällig die Nähe zu 20-Jährigen, während sich die gleichaltrige Partnerin intensiv um ihre Grünpflanzen bemüht. Und auf der Straße und in der Kneipe hat es sich endgültig ausgeduzt. Da hilft nur noch Selbstmitleid.

Und manche erinnern sich an den alten Spruch: "Trau keinem über 30!" Nicht mal dir selbst.

Nina Puri: "Ü-30-Krankheiten. Als Letzter erkennen, als Erster bekommen". Knaur Verlag, 223 Seiten, 12,95 Euro.

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