Türkisch geprägte Kultur:Die anderen Muslime

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In deutschen Moscheen rücken die Gläubigen zusammen: Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien suchen dort einen Platz.

Von Ronen Steinke, Mitarbeit: Christoph Meyer

Ist dieser Junge ein Syrer? Der Nachzügler, der gerade zur Tür hereinhuscht in den mit blauem Teppich ausgelegten Gebetsraum, guckt etwas verloren. Er hält inne, zögert, will nicht stören. Mit einem Pssst zieht die Gruppe der Betenden ihn an.

Das muslimische Freitagsgebet hat etwas Magnetisches, wie ein unsichtbares Kraftfeld, das jeden Leerraum sofort schließt: Im einen Moment noch stehen die Männer, die sich in Jeans und Arbeitshosen in einem Haus im Münchner Stadtteil Pasing versammelt haben, raumfüllend zwischen Blumenkacheln. Ein paar Jungen albern herum. Im nächsten Moment hebt der Vorbeter zu den ersten Silben des Gebets an, die Männer ordnen sich erst zu Reihen, dann rücken sie zusammen, mit jedem neuen Vers ein bisschen enger, bis sich Ellenbogen und Schultern berühren, so als würde jeder Vers dieser Gravitation einen weiteren kleinen Schub geben.

Schätzungsweise vier Millionen Menschen in Deutschland sind Muslime. Eine fünfte Million kommt gerade als Flüchtlinge hinzu - und überall im Land werden sie in diesen Wochen aufgenommen in den Kreis der Betenden, Fastenden, ihren Glauben Praktizierenden. Es gibt kaum eine Moschee in Deutschland, der man es nicht anmerkt, kaum einen muslimischen Gebetsraum, vor dem sich nicht die Schuhe so hoch stapeln wie seit Langem nicht. Die Fremden tauchen in Gemeinden auf, die sich fast überall als herzlich und offen erweisen. "Sie sind uns willkommen", sagt der türkische Imam in Pasing, Mahmut Peker, 48, und was für ein Glück es sei, dass einige der Syrer auf ihrer Odyssee etwas Türkisch gelernt hätten.

Aber klar ist auch, dass die Neuankömmlinge den Islam in Deutschland verändern werden. Bis heute ist er größtenteils anatolisch geprägt. Drei von vier Muslimen hierzulande haben ihre Vorfahren in der Türkei, ihre religiöse Praxis wird noch kontrolliert von den Aufpassern der türkischen Religionsbehörde, die 1984 einen Ableger in Köln gegründet hat, die Ditib. Von dort kommt jede Woche der einheitliche Text für die Predigten. Der Imam in Pasing liest ihn auf Türkisch vom Laptop ab.

Auch ist der Islam in Deutschland eine vergleichsweise proletarische Welt, weil die Kinder und Enkel der Gastarbeiter es noch immer schwerer haben, den sozialen Aufstieg zu schaffen. Und weil die Praxis der meisten Moscheen eher für jene einladend ist, die von der Berufsschule kommen als von der Uni.

Für syrische Muslime gehört das Zusammenleben mit anderen Religionsgruppen zur Identität

Die Syrer, die nun hinzukommen, insbesondere die Angehörigen der Mittelschicht aus Millionenstädten wie Damaskus oder Aleppo, verbinden mit ihrem Glauben öfter Dinge wie Pracht und Glanz, Poesie und Intellektualität: die berühmte Omaijaden-Moschee von Damaskus etwa, deren für Syrien typische Torbögen einst von christlichen Baumeistern errichtet wurden. Die meisten Moscheen in Deutschland liegen in Wohnungen oder Ladengeschäften, diejenige in Pasing, eine der größten in einer der größten Städte Deutschlands, liegt gegenüber der Kneipe Zur Goldenen Gans, Parkplätze gibt es "nur für Gäste" der Wirtschaft. Auffallend viele Moscheen haben hinter ihrer Hausnummer noch einen Buchstaben. Das steht für Hinterhof.

Die Arabeske, die Gabelblattranke, die durch ihr Blatt ohne Ende weiterwächst, ist das Zentralmotiv der islamischen Kunst ... (Foto: Corbis)

Die Syrer, die jetzt hinzukommen, sind religiös oft konservativer, so beobachten es viele älter eingesessene Muslime in Deutschland. Sie achten oft stärker darauf, dass Fleisch geschächtet ist, und sie kennen sich oft besser aus im Koran als ihre Glaubensbrüder, die in der Türkei oder Deutschland aufgewachsen sind. In syrischen Schulen gibt es von Beginn an Religionsunterricht.

Im Gottesdienst dagegen sind die Unterschiede eher gering. Eine Moschee ist ein offenes Haus, Fremde gibt es hier oft, wer kann schon erraten, wer dazugehört und wer nicht? Die Syrer in München-Pasing beten, indem sie als Erstes die offenen Handflächen vor der Brust nach außen kehren, das machen bei den Türken nur die Frauen. Kleinigkeiten, "das ändert nichts an der Brüderlichkeit", sagt der türkische Imam.

Im Vergleich zu den einstigen Gastarbeitern bringen die Syrer sogar gute Voraussetzungen mit, um sich in eine multikonfessionelle Gesellschaft wie die deutsche einzufinden, meint die Journalistin Kristin Helberg, die bis 2008 die einzige akkreditierte westliche Korrespondentin in Damaskus war. Syrer seien es gewohnt, mit anderen Konfessionen zusammenzuleben. Der Islam ist in ihrem Alltag stark sichtbar, in den meisten Bürogebäuden in Syrien gibt es einen kleinen Gebetsraum, auch sind die Moscheen in den vergangenen Jahren immer voller geworden. Aber Syriens Muslime betrachten es auch als Teil ihrer traditionellen Identität, mit anderen Religionsgruppen zusammenzugehören, etwa mit Christen oder Drusen. Syrer kennen Ostern und Weihnachten längst als staatliche Feiertage: Das Assad-Regime wahrt sie zusätzlich zu den muslimischen.

In Damaskus gibt es Geschäfte, deren Besitzer auf Schildern erklären: "Unser Feiertag ist der Freitag", andere, die erklären: "Unser Feiertag ist der Sonntag". Und bis 1992, als der damalige Präsident Hafis al-Assad den Juden die Ausreise aus seinem pro forma sozialistischen Polizeistaat erlaubte, sah man auch noch: "Unser Feiertag ist der Samstag". Das jüdische Viertel gibt es noch, wenn auch kaum mehr jüdische Bewohner.

Man soll nichts beschönigen. Syriens Regime hat nie religiöse Toleranz gefördert, sondern die Minderheiten stets ausgespielt gegen die Mehrheit von sunnitischen Muslimen in Syrien - sie machen etwa 70 Prozent der Bevölkerung aus. Und es blühen auch Vorurteile. Es gibt Eltern in Syrien, die ihren Kindern erzählen, die Muslime seien schmutzig, die Alawiten hätten einen Teufelsschwanz, die Drusen feierten Sexorgien.

Trotzdem sind die Menschen dort mit vergleichsweise großer religiöser Offenheit aufgewachsen, meint auch die Übersetzerin Larissa Bender, die lange in Syrien gelebt hat: Zum Beispiel sei der gesellschaftliche Druck auf Mädchen, ein Kopftuch zu tragen, in Syrien wesentlich geringer als in religiös homogeneren Ländern wie Ägypten.

In Ägypten komme es teilweise vor, dass selbst Christinnen auf der Straße ein Kopftuch anziehen, um nicht blöd angeredet zu werden. In Syrien dagegen erregt der Anblick einer Frau ohne Kopftuch keinen Anstoß, weil selbst der frommste Muslim sich dabei nur denkt: Sie wird wohl Christin sein, oder eine der vielen Alawitinnen, die generell kein Kopftuch tragen. Die Frau des syrischen Diktators, Asma al-Assad, ist zwar Sunnitin, und die meisten Sunnitinnen tragen Kopftuch; sie aber nicht.

... Sie schmückt Gebetshäuser in Syrien wie in Deutschland. (Foto: Interfoto)

Ein Schnaps nach dem Essen ist im ländlichen Syrien ebenso verbreitet wie in der Türkei, der Umgang der Gesellschaft mit dem im Islam verbotenen Alkohol ist undogmatisch und unkompliziert, auch das eine Folge der vielen christlichen Restaurants und Geschäfte. Syrer sind es sogar gewohnt, dass der Staat selbst Bier braut. Das vom Assad-Regime hergestellte Barada-Bier, das über Armee-Shops vertrieben wird, mag zwar wässrig schmecken wie der namensgebende Fluss in Damaskus, in vielen anderen arabischen Staaten wäre das Geschäftsmodell aber völlig undenkbar.

Gerade zwischen Arabern und Türken ist der kulturelle Graben besonders tief

Es ist nur ein Vorurteil, dass arabische Muslime sich für etwas Besseres halten als ihre Glaubensbrüder etwa in der Türkei, in Pakistan oder Indonesien. Araber machen nur einen kleinen Teil der Muslime weltweit aus. Sie beherrschen allerdings die Sprache des Propheten - im Gottesdienst und bei der Lektüre des Koran haben sie dadurch einen Vorteil. "Es liegt in der Natur des Menschen, dass jede Art sich für etwas Besseres hält", sagt der türkische Imam in Pasing mit einem Lächeln. Gerade zwischen Arabern und Türken ist der kulturelle Graben allerdings besonders tief, das dürfte die Muslime in Deutschland in den kommenden Jahren noch beschäftigen.

Die Syrer waren lange von den Osmanen unterworfen, mit Unterbrechungen von 1517 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. An den Schulen durfte nur Türkisch unterrichtet werden, an diese Zeit der Demütigung erinnern noch heute einige Sprichwörter, Witze und Flüche. Wie der arabische Schmähruf "tus aleik", Salz auf dich - wohl eine Reaktion der einstigen arabischen Hausdiener auf die "Hol Salz"-Kommandos ihrer osmanischen Herren. Es ist da fraglich, ob die in Deutschland ankommenden Syrer sich dauerhaft in den türkischen Moscheen aufgehoben fühlen werden, zwischen osmanischem Dekor, Predigten auf Türkisch, mitunter auch Atatürk-Porträts an der Wand. Oder ob die meisten nicht bald eigene Moscheen gründen werden.

© SZ vom 31.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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