Türkei:Ist das noch mein Land?

Türkei: "Ist das noch dein Land?" Diese Frage stellt sich SZ-Redakteur Gökalp Babayiğit. Mit jeder Provokation, mit jeder neu erreichten Eskalationsstufe in der Türkei werde sie unangenehmer. (Grafik: SZ)

"Ist das noch dein Land?" Diese Frage stellt sich SZ-Redakteur Gökalp Babayiğit. Mit jeder Provokation, mit jeder neu erreichten Eskalationsstufe in der Türkei werde sie unangenehmer. (Grafik: SZ)

Unser Autor ist als Sohn türkischer Eltern in Deutschland aufgewachsen, die Türkei war immer seine zweite Heimat. Kann sie das in Zeiten Erdoğans noch sein? Eine Reise zu den Wurzeln.

Von Gökalp Babayiğit

"Ist das noch dein Land?", fragte mich vor Kurzem ein Kollege im Scherz, als Nachrichtenagenturen die nächste Schreckensnachricht aus Ankara vermeldeten. Gute Frage eigentlich. Ich überlegte. Was verband mich denn überhaupt noch mit der Türkei?

Lachende Gesichter, das wäre früher meine Antwort gewesen. Es waren die immer fröhlichen, warmherzigen Menschen, die für dieses Land standen, das Geburtsland meiner Eltern und Heimat meiner Familie. Diese so simple Assoziation, die sich in den Sommerurlauben meiner Kindheit formte: das laute Lachen meiner schalkhaften Großmutter, das diebische Grinsen meines goldbezahnten Onkels, des lustigsten Menschen der Welt; aber auch die freundlichen Willkommenheißungen türkischer Grenzpolizisten, die uns im Vergleich zu den jugoslawischen und bulgarischen irritierend gut gelaunt vorkamen. Ihr Auftauchen kündete vom nahenden Ende der an Absurditäten reichen Autofahrt von der oberbayerischen in die anatolische Heimat - damals, Anfang der Neunzigerjahre, als wir diese Odyssee noch jeden Sommer auf uns nahmen, um die Verwandtschaft zu besuchen.

Lachende Gesichter: Sie fielen mir erst wieder ein, als ich im Juli das erste Mal nach langer Zeit wieder nach Ankara reiste. In den Jahren davor war mir diese Assoziation einfach abhandengekommen, und auf die Frage, was ich mit der Türkei verbinde, hatte ich immer alles Mögliche geantwortet, nur eben nicht das. Recep Tayyip Erdoğan lächelt nie.

2006, bei meinem letzten Besuch in der türkischen Hauptstadt, hatten die Fernseher in jedem Wohnzimmer und in jedem Teehaus fröhliche Bilder aus Deutschland gezeigt: Das WM-Sommermärchen begeisterte die Türken, obwohl sich die eigene Nationalmannschaft wieder einmal nicht qualifiziert hatte. Es war seit einigen Jahren eine AKP-Regierung voller Reformeifer im Amt, Ministerpräsident Erdoğan führte das Land entschlossen in Richtung Europa. Zumindest ließ er das viele glauben damals. Das gastfreundliche Deutschland auf der einen Seite, die demokratiehungrige und nach Westen dringende Türkei auf der anderen Seite: Nie empfand ich diese beiden Länder so nah beieinander wie damals im märchenhaften Sommer.

Ankunft am Flughafen in Ankara, elf Jahre später. Warten vor der Passkontrolle. Die Schlange für EU-Bürger ist auffällig kurz, dennoch dauert es eine Ewigkeit, bis ich an die Reihe komme. Die Zeit vergeht langsamer, wenn man etwas kaum mehr erwarten kann. Immerhin steht auf der anderen Seite der Schiebetüren nicht nur mein Vater, der zwei Tage vor mir geflogen ist. Da stehen auch mein Onkel und mein Cousin, und beide habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wenn sich in die Vorfreude aber noch Unbehagen mischt, dann fühlen sich die Minuten erst recht wie Stunden an. Onkel und Cousin erwarten mich, ja. Aber was erwartet mich noch in dem Land, in dem Journalistenkollegen an der Einreise gehindert oder festgenommen werden, wo Zehntausende Menschen - darunter auch Deutsche - in Gefängnissen sitzen, ihrerseits wartend auf eine offizielle Anklage, auf einen fairen Prozess?

Aus dem Märchen ist ein Schauermärchen geworden. Besorgte Nachfragen aus dem Freundeskreis, ob die Einreise denn sicher für mich sei, habe ich beiseitegewischt. Dabei bin ich mit Regierungsgegnern befreundet und vernetzt und habe regierungskritische Artikel geschrieben. Ich will nur meine Verwandtschaft besuchen und Freunde treffen, doch erstmals in meinem Leben schwirrt dieser Gedanke in meinem Kopf herum: Was, wenn sie mir unangenehme Fragen stellen - oder sogar den Einlass verwehren?

Die Dinge haben sich geändert, nicht nur in der Türkei, sondern auch in meiner Wahrnehmung. Seit Jahren betreibt die Regierung Erdoğan beinahe wöchentlich die Eskalation im In- und Ausland, zunächst rhetorisch, später immer öfter auch mit Polizeigewalt. Spontan und ohne lange nachzudenken fallen einem ein: die niedergeknüppelten Gezi-Proteste, die Festnahmen von Oppositionspolitikern, Lehrern, Offizieren; die Scharmützel mit der EU, mit Russland, mit Israel, mit den USA, mit der Bundesregierung, mit Jan Böhmermann. Befreundete NGO-Mitarbeiter berichten, dass sie nicht ins Büro gehen, sondern zu Hause arbeiten. Nicht, weil Home-Office im Trend liegt. Sondern weil sie Angst haben vor einer Razzia. Andere Freunde, die an Universitäten lehrten oder forschten, haben gar keine Arbeit mehr.

"Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert." Folgt man den Worten des Fotografen Andreas Gursky, lässt sich die Türkei angesichts der Nachrichten nur als schrecklicher Ort konstruieren; als Ort, mit dem meine Türkei nicht mehr viel gemein hat. Es ist ein weiter Weg vom Rechtsstreit Erdoğans mit Böhmermann hin zu meinem Onkel, der der lustigste Mensch der Welt ist.

"Ist das noch dein Land?" Diese Frage beschäftigt mich schon lange, und sie ist mit jeder Provokation, mit jeder neu erreichten Eskalationsstufe immer unangenehmer geworden. Für einen in Deutschland geborenen Türken ist sie allerdings nicht ganz neu. Es interessiert mich seit jeher: Was ist das überhaupt, "mein Land"?

Der Zustand der Türkei lässt meine Verwandten hadern

Mein Deutschland-Bild war immer ein sehr oberbayerisches. Aufgewachsen bin ich südlich der Hallertau, wir wohnten als einzige türkische Familie im "deutschen" Sozialwohnblock. Mein Vater ist in den Siebzigerjahren hergekommen, und er sagt bis heute, das Dorfleben sei überall gleich. Vielleicht mal abgesehen von der Religion. Aber selbst da betonten meine Eltern immer die Gemeinsamkeiten, nicht die Unterschiede. Sie wollten nicht, dass wir Fremde blieben, also lebten sie mir und meiner Schwester vor, Türken zu bleiben und dennoch Deutsche zu werden.

So sagten wir in unserer 3000-Einwohner-Gemeinde wie alle anderen "Grüß Gott", wenn wir jemandem auf dem Bürgersteig begegneten. Wir tratschten mit den Nachbarn, hängten die Wäsche an derselben Leine auf und waren im selben Sportverein angemeldet. Natürlich spielte auch die Sprache eine große Rolle. "Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki insan" lautet ein türkisches Sprichwort, das mir meine Eltern früh beigebracht haben: Wer eine Sprache spricht, der ist ein Mensch. Wer aber zwei Sprachen spricht, der gilt als zwei Menschen. Meine Mutter lebt vor, was dies bedeutet. Mit zehn Jahren ist sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und spricht beide Sprachen akzentfrei. Etwas, das ich nicht mehr schaffen werde, mein Türkisch hat eine hartnäckige Färbung. Jeder Türke hört sie sofort.

Die größte Veränderung: Ich vermisse den Stolz der Menschen auf das Land

Das Türkische ging mir trotzdem nicht verloren. Da war auf der einen Seite meine Familie in Bayern, und da waren auf der anderen Seite unsere Besuche in Anatolien. Das Türkische in meinem Leben erschien mir einerseits wie ein "Mehr", das ich verglichen mit den anderen Kindern hatte. Aber es gab andererseits auch ein "Weniger". Meine geliebte Oma wohnte nicht im Nachbarort wie die Omas der Freunde, sondern eine gefühlte Weltreise entfernt am Marmarameer. Ich hatte auch keinen Opa, der mir erzählen konnte, wie es früher war.

Überhaupt: Zu "früher" fehlt mir jeder Bezug. Wir haben kein Familiengrab, nicht auf dem Dorffriedhof und nicht in diesem Land. Wir haben hier keine Vorfahren, deren letzte Ruhestätte wir an Feiertagen besuchen konnten. Meine Familie hat keine Geschichte mit meinem Geburtsland. Es ist schwer, sich einen Begriff von "Heimat" zu machen, so, wie sie die Menschen um einen herum empfinden. Bei mir fehlte etwas, und dieses Etwas hatte mir immer die Türkei gegeben.

"Ist das noch dein Land?" In den vergangenen Jahren, in denen dort so viel Turbulentes und Abstoßendes passierte, wuchs in mir die Angst, dieses Etwas zu verlieren. Und damit auch das "Mehr".

"Erinnerst du dich überhaupt noch an Ankara? Es hat sich viel verändert", sagt mein Onkel während der Autofahrt vom Flughafen in die Stadt. Die Passkontrolle ist ohne Vorkommnisse verlaufen, das Unbehagen hat vor der Wiedersehensfreude kapituliert, die Rekonstruktion meiner Türkei kann beginnen. Was sofort auffällt: Atatürk ist noch da. An Schnellstraßen, Häuser- und Plakatwänden hängen seine Bilder, sie sind zahlreicher als jene vom aktuellen Präsidenten. Auffällig sind auch die vielen Moschee-Neubauten und arabischen Schriftzüge - "so was hat es früher nicht so häufig gegeben", bestätigt mein Cousin. Aber die wirkliche Veränderung ist mit den Augen kaum zu erkennen. Man muss zuhören.

Nach wenigen Tagen habe ich mehr Gespräche über Politik gehört und geführt als in den drei Jahrzehnten davor. Die Menschen beschäftigt nicht nur, was um sie herum passiert. Sie interessieren sich auch brennend dafür, "was ihr in Deutschland denkt". Selbst mein alter Onkel, der sich zwar immer viel um uns, aber wenig um Deutschland gekümmert hat, will plötzlich ganz viel wissen. Eigentlich bin ich in die Türkei gekommen, um Fragen zu stellen. Und nun bin ich derjenige, der befragt wird: Was sagt ihr in Deutschland zu unserer Situation? Wie habt ihr über den Putschversuch berichtet? Wie wird die Politik Erdoğans angesehen? Redet man in Europa sehr schlecht über uns?

Aus allen Fragen atmet halb die Sorge um den Ruf des Landes, halb das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung: Die Menschen, mit denen ich spreche - Studenten und Rentner, Lehrer und Schüler, Städter und Dorfbewohner -, scheinen selbst nicht mehr zu wissen, was sie noch glauben sollen. Unabhängigen Journalismus gibt es ja nicht mehr in der Türkei. Als zwei angehende Richter aus Ankara, die sich für die Welt interessieren, zur Abwechslung mal über die deutsche Bundestagswahl sprechen wollen, fragen sie ganz ohne Ironie: "Was wird Martin Schulz für ein Kanzler sein?" Sie sind den pausenlosen Abgesängen auf Angela Merkel in der türkischen Presse irgendwann auf den Leim gegangen.

Nur eine Frage, die mir in jedem Sommerurlaub irgendwann immer gestellt worden ist, höre ich diesmal von keinem. "Würdest du lieber in der Türkei oder in Deutschland leben?"

Meine Wurzeln lassen sich nicht von verschärften Reisehinweisen zerstören

Das ist die größte Veränderung: Ich vermisse in meinen Begegnungen mit Verwandten und Freunden ihren Stolz auf das Land. Früher haben sie dessen Schwächen immer großzügig übersehen, heute lässt sein Zustand sie hadern. Sich von einem Land abzuwenden ist einfach, wenn man die Ereignisse über Nachrichtenagenturen verfolgt. Es ist viel schwerer, wenn man plötzlich den Menschen gegenübersteht und von ihren enttäuschten Hoffnungen erfährt. Und es ist völlig unmöglich, wenn man dann irgendwann begreift, dass das Land auch ein Teil ist von einem selbst. Zentralanatolische Provinz, nordöstlich von Ankara. Ich begleite meinen Vater in sein Heimatdorf. Wir grüßen und werden begrüßt, die Männer vor dem Teehaus lächeln alle, als sie uns sehen. Manche erkennen meinen Vater sofort. "Dein Sohn, oder?", fragen sie, als sie mich sehen. Während Ankara mit der Zeit gegangen ist und sich dabei von meinem Türkei-Bild etwas entfernt hat, scheint im Dorf die Zeit stehen geblieben zu sein. Auch wenn ich nie hier gelebt habe, so sehe ich doch, dass ich hier Wurzeln habe, die sich weder von Recep Tayyip Erdoğan noch von verschärften Reisehinweisen zerstören lassen. Man kennt mich hier, obwohl man mich noch nie gesehen hat. Man weiß mich zu verorten, obwohl ich hier nie eine Adresse hatte.

Der Friedhof des Dorfes erstreckt sich über einen baumlosen Hügel am Ortsrand. Man kann über die Höfe blicken, die sich um die Moschee im Ortskern gruppieren. An der Friedhofsmauer sind zwei Arbeiter zugange, in der flirrenden Hitze wirkt ihr Tun wie in Zeitlupe, vor dem rostigen Eingangstor steht ihr Samowar auf einem Gaskocher. Er ist aus billigem Blech, aber der Duft von Schwarztee, den er verströmt, ist der altbekannte.

Wir steigen durchs ausgedörrte Gras hinauf zu den Gräbern meines Großvaters Rıfkı und meiner Großmutter Münevver Babayiğit, vorbei an den Ruhestätten von lang verstorbenen Urahnen, Großtanten und Großonkeln. Als wir unsere Gebete sprechen und anschließend von der Anhöhe aus den Blick über das Dorf schweifen lassen, schießt mir diese eine Frage durch den Kopf: Wann könnte ich hierzu jemals nicht mehr "Heimat" sagen?

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