Trinksitten:Wie der Islam abstinent wurde

Trinksitten: Libanon und Syrien galten früher als Weinländer schlechthin - und bis heute werden dort Weine hergestellt, allerdings hauptsächlich von Christen.

Libanon und Syrien galten früher als Weinländer schlechthin - und bis heute werden dort Weine hergestellt, allerdings hauptsächlich von Christen.

(Foto: AP)

Das Alkoholverbot hat sich in der islamischen Welt flächendeckend durchgesetzt, dabei war Arabien früher eine Weinregion.

Von Ronen Steinke

Alkoholverbot? Man kann ja einmal versuchen, sich zurückzuversetzen in die Zeit, als der islamische Religionsstifter Mohammed gerade anfing, sich einen Namen zu machen. Und sich ausmalen, auf wie viel Begeisterung die Idee stieß.

Arabien in der Spätantike, das ist kein Ort der Askese, Syrien und Palästina gelten zu dieser Zeit als die Weinländer schlechthin. Ägypten, Mesopotamien - selbst das trockenere Jemen hält sich auf seine hochwertigen Weine etwas zugute, 78 Rebsorten zählt der Geograf Ibn Rusta dort allein in der Region der heutigen Hauptstadt Sanaa. Die Riojas und Merlots ihrer Zeit heißen al-Schamsi ("der Sonnige", dessen Gärung man durch Sonneneinstrahlung verstärkt hat), al-Schamul ("vom Nordwind gekühlt") oder al-Qarqaf ("der einen erbeben lässt").

Je frommer, desto beschwipster

Orient-Wein ist ein kostbares Handelsgut. Er wird per Karawane exportiert, die syrische Stadt Palmyra dient dabei als internationales Wein-Drehkreuz, wie in den islamischen Überlieferungen, den Hadi-then, nachzulesen ist. Ostwärts ziehen die Karawanen bis nach Indien. Von Gaza aus segeln Schiffe voller Wein-Amphoren gen Norden. Das arabische Wort für Kaufmann, tadschir, kommt vom aramäischen Wort für Weinhändler. So wichtig ist damals dieser Beruf.

Vorbei. Heute hat sich das Alkoholverbot in der islamischen Lehre flächendeckend durchgesetzt, in der Denkschule der Hanafiten wie der Imamiten wie der Saiditen, allem anfänglichen Protest der Kaufleute und allem Spott der Dichter zum Trotz. In Jemen wie in einer Handvoll weiterer Länder ist das Verbot sogar ins staatliche Recht eingegangen. Was nicht heißt, dass es immer eingehalten wird. Aber dass Strafen drohen. Wie weit sich der Islam damit von den beiden älteren abrahamitischen Religionen abgesetzt hat, wird man an diesem Donnerstag wieder eindrucksvoll sehen können, wenn in Israel orthodoxe Juden fröhlich und in Clownsperücke durch die Straßen stolpern. Je frommer, desto beschwipster: Das jüdische Purim-Fest ist eine Verkleidungs-Party, bei der ganz theologisch-offiziell das Gebot gilt, sich zu betrinken.

Während der Wein im Judentum und, mit Abstrichen, im Christentum zum Ritus gehört, ist erst die jüngste der drei sogenannten Weltreligionen, der Islam, ganz davon abgekommen. Man kann es auch so sehen: Die drei Religionen sind auseinander herausgeschlüpft wie russische Puppen. Dabei ist jede neue Version nüchterner geworden als die vorherige.

Das Glas Wein gehört zum jüdischen Sabbat-Abendessen so fest dazu wie der Kerzenschein, bei gleich mehreren jüdischen Festen gibt es zudem regelrechte Trink-Rituale. Dass der Rausch dabei nicht bloß schamhaft tolerierter Nebeneffekt ist, erklärt mancher Rabbiner mit einer hübschen Metapher. Für die Anbahnung der Liebe zwischen Gott und den Menschen sei der menschliche Verstand, der kühle Kopf, wie ein Heiratsvermittler. Wichtig. Aber: Sei die Liebe erst entfacht, dann komme der Zeitpunkt für den Heiratsvermittler, das Paar auch einmal unbeaufsichtigt zu lassen.

Wenn mit dem Pessach-Abendessen des Auszugs der Juden aus Ägypten gedacht wird, dann stehen für jeden Erwachsenen vier Gläser Wein auf dem Speiseplan. Wenn mit dem jüdischen Tu-bi-Schwat-Fest im Frühjahr die wiedererwachende Natur begrüßt wird, sollen die Gäste ihre vier Gläser sogar in wechselnden Farben trinken: Es beginnt mit Weißwein, dann folgt eine Rotwein-Weißwein-Mischung, die mit jedem Becher dunkler wird. Das soll die Natur ehren für ihren Wandel von Winter (weiß) zu Sommer (rot).

Die erste Wundertat von Jesus? Beglückung von Betrunkenen

Das Christentum hat das rituelle Weintrinken schon deutlich zurückgefahren. Nicht, dass die religiösen Schriften selbst plötzlich puritanisch geworden wären. Dort vollbringt Jesus als erste seiner sieben Wundertaten nicht eine Rettung von Kranken oder Hungernden, sondern, man kann das Johannesevangelium kaum anders lesen, eine Beglückung von Betrunkenen, denen gerade bloß der Nachschub ausgegangen ist: Mehr als 400 Liter Wein, so ergibt die Umrechnung in heutige Maßeinheiten, schenkt Jesus der Hochzeitsgesellschaft in Kana, in deren Karaffen nur noch Wasser übrig ist, auf das man gern verzichtet. Als der Küchenchef in Kana die Verwandlung bemerkt, fragt er, warum so ein edler Tropfen erst jetzt auf den Tisch komme, wo doch die Gäste schon zu betrunken seien, um die Qualität noch zu bemerken.

Die Praxis der Kirche heute ist eine andere. Gläubige bekommen nur einen einzigen Schluck gereicht, unter Aufsicht des Geistlichen, der teilweise auch dazu angehalten ist, den Becher festzuhalten. Der Schluck Wein steht für das Blut Jesu, das heißt, an Rausch ist nicht zu denken. Wenn der Gottesdienst zu Ende ist, mischt sich die Kirche zwar nicht mehr groß ein in die Trinkgewohnheiten ihrer Anhänger. Wer nachfragt, findet in den Römerbriefen aber den nüchternen Rat: Maß halten.

Vier Statements zum Wein im Koran

Und das war anfangs auch die Haltung der islamischen Rechtsgelehrten, die im neunten und zehnten Jahrhundert anfingen, den Koran zu interpretieren. Wer den Koran aufschlägt, der begegnet darin Reben, Rauschgetränken, Glücksspiel-Zockern wie schon in der hebräischen Bibel. Aber keinem ausdrücklichen Alkoholverbot.

Wein ist nicht haram, unrein, wie Schweinefleisch. Stattdessen enthält der Koran vier verstreute Statements zum Wein, grob in einer Reihenfolge aufsteigender Strenge: Sure 16, Vers 67 preist "Rauschgetränke" als "schönen Lebensunterhalt . . . für Leute, die verständig sind". Es folgt die Mahnung: Kommt nicht betrunken zum Gebet; was findige Interpreten indes auch zu dem Umkehrschluss verleiten könnte, dass Trunkenheit in anderen Situationen erlaubt ist. An einer dritten Stelle werden Vor- und Nachteile des Alkoholkonsums für die Gesellschaft abgewogen. Und schließlich folgt, viertens, ein Verdikt, das im offenen Widerspruch zum Anfang steht: Wein sei "Teufelswerk". Anstatt dem Rausch einen Riegel vorzuschieben, bietet der Koran eine Fundgrube für Diskussionen.

"Wenn der Wein deine Knochen durchströmt, sich mit deinen Gliedern vermischt und in dein Inneres eindringt, verleiht er deinem Gefühl Aufrichtigkeit und befreit deine Seele von Wünschen." Die Worte stammen von dem klassischen arabischen Literaten al-Dschahiz, geboren im achten Jahrhundert im heutigen Irak. Und noch fünfhundert Jahre nach Mohammed greift der persische Poet und Astronom Omar Khayyam die damals junge Bewegung der puritanischen Muslime an, die Befürworter einer strengen Koran-Auslegung im Sinne eines Alkoholverbots: "Zu dem Propheten sollt ihr gehen und sagen: / Es lässt Khayyam dich grüßen und dich fragen: / Wie kommt's, dass saure Milch du mir erlaubt / Und dass ich süßem Weine soll entsagen?"

Aus den widersprüchlichen Koran-Stellen destillieren die anfangs vorherrschenden Koran-Exegeten kein strenges, sondern nur ein abgestuftes Alkohol-Verbot. Ein Mittelweg. Geistige Getränke seien zulässig - solange man nicht betrunken werde. Dem Gedanken nach führen die Gelehrten damit eine Art Promillegrenze ein. Wann beginnt Trunkenheit? In dem Moment, da man zwischen Himmel und Erde nicht mehr unterscheiden könne, so lautet eine gängige Definition dieser Zeit; womit die Schwelle durchaus recht hoch liegt, recht liberal. (Die jüdische Lehre definiert den Vollrausch übrigens auf ähnliche Weise: als den Zustand, in dem man nicht mehr unterscheiden kann zwischen einem Fluch und einem Lob; bloß dass diese Definition nicht eine Sünde umschreibt, sondern die Zielmarke beim Purim-Fest.)

Wie sich die Null-Promillegrenze im Islam entwickelte

Es sind vor allem politische Impulse, welche die islamischen Gelehrten später stärker auf Distanz zum Alkohol gehen lassen. Das kommt erst nach und nach, sagt die Islam-Forscherin Stefanie Brinkmann, die in Hamburg den Alkoholkonsum in der Frühzeit von Mohammeds Lehre untersucht. Die Verfechter der Abstinenz setzen sich erst durch, als die Zeiten sich verdüstern. Im 13. Jahrhundert ziehen Mongolen eine Brandspur durch Mesopotamien bis ins heutige Syrien. Weinberge brennen, Häuser, Brücken, Städte. Der Islam ist gedemütigt. Die Geschlagenen quälen sich selbst mit Vorwürfen. Die Niederlage sei ein Zeichen Gottes, raunen manche, er bestrafe die Muslime, weil sie sein Weinverbot nicht ernst genommen hätten.

Die Stimmung in der Alkoholfrage dreht sich erstmals: Jene, die den Koran schon immer strikt interpretieren wollten, wachsen nun von einer Minderheit zur Mehrheit heran. Die bislang alkoholtolerante Denkschule der Hanafiten wechselt hinüber ins Lager der Prohibition. "Das ist der Beginn des ersten Konsenses unter den lange zerstrittenen islamischen Gelehrten", so formuliert es der Islamwissenschaftler Peter Heine, der in den Achtzigerjahren die ersten Studien zum Weinkonsum im muslimischen Mittelalter veröffentlichte. Der neue Konsens besteht in einer Null-Promillegrenze, und diese wird von nun an zur Position "des" Islam.

Der zweite ernüchternde Schock folgt im 19. Jahrhundert. Inzwischen ist die Trinkkultur in vielen muslimischen Ländern bereits ins Private verdrängt, der Weinbau vielfach christlichen Klöstern überlassen, der Weinhandel Juden. 1798 marschiert Napoleon auf Kairo. Wieder eine Erniedrigung: Für die muslimische Welt bricht eine Zeit unter der Knute europäischer Kolonialisten an, die auf die Errungenschaften der Französischen Revolution mit Cognac anstoßen oder auf das Heil ihrer Königin mit Whisky.

Es gibt wohlhabende Araber, welche die Trinkgewohnheiten der europäischen Oberschicht übernehmen, um modern zu erscheinen. Im Zuge ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen propagieren muslimische Anführer aber auch eine Art Rückbesinnung auf islamische Werte. Sie suchen nach schärferer Abgrenzung von anderen Religionen. Und sie entdecken dafür ein Symbol. In Persien stehen auf Alkoholkonsum bald achtzig Peitschenhiebe, von 1903 an droht dies auch persischen Juden und Christen.

Heute im Gottesstaat Iran hat sich immerhin dies wieder relativiert. Irans Regime sagt nicht öffentlich, dass Juden und Christen, die Minderheiten unter islamischer Herrschaft, trinken dürfen. In der Praxis aber ist es so. Wer erfahren will, wie sich die etwa 8000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Teherans in diesen Tagen auf das bevorstehende Purim-Fest vorbereiten, bekommt von dort nur eine vielsagende Nicht-Auskunft: Nein, ob man alkoholische Getränke auszuschenken gedenke, das werde man öffentlich nicht sagen.

Muss man ja auch nicht. Die einen sind abstinent, die anderen beschwipst, aber alle halten dicht.

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