Traumabewältigung:"Von einer Sekunde auf die andere änderte sich alles"

Cornelia Harms

Cornelia Harms gründet daring dolphins, eine Stiftung für traumatisierte Kinder

(Foto: privat)

Familie, Geld, Haus: Die Münchnerin Cornelia Harms hatte viel - und verlor fast alles. Wie sie wieder Mut fasste und ihre Erfahrungen nutzt.

Protokoll: Lars Langenau

"Bis vor fünf Jahren waren wir wohl das, was man eine glückliche Familie in einem feinen Münchner Vorort nennen kann. Mein Mann hatte ein eigenes Unternehmen und wir mehr Geld zur Verfügung, als wir ausgeben konnten.

Heute bin ich alleinerziehende Mutter von zwei gesunden und wunderbaren Mädchen im Alter von fünf und sieben Jahren. Bis auf meine beiden Töchter habe ich all das verloren, von dem ich glaubte, dass es mich in meinem Leben glücklich macht. Wobei das mit dem Gesund nach der Geburt meiner zweiten Tochter eine Zeit lang ziemlich auf der Kippe stand. Als sie im August 2011 auf die Welt kam, wurde sie direkt zur Beatmung auf die Intensivstation gebracht und wäre dort fast an einem Lungenriss gestorben. Erst einige Wochen später war klar, dass sie überlebt und endlich nach Hause zu ihrer damals zweijährigen Schwester durfte.

Als wir uns gerade eingelebt hatten, kippte mein Mann vor meinen Augen im Flur um. Er war gerade erst 38 Jahre alt und es hatte zuvor keine Anzeichen gegeben. Wir waren drei Jahre verheiratet, vier Jahre zusammen, mitten im Leben und voller Pläne. Bis dahin dachte ich, das Leben verläuft nach meinen Vorstellungen. Doch von einer Sekunde auf die andere änderte sich alles.

Mein Mann überlebt nur durch eine Not-Operation. Monate in der Intensivstation folgten, er lag im Koma. Zu dieser Zeit war in keiner Form absehbar, ob er jemals wieder aufwacht. Ich verbrachte nur noch Zeit im Krankenhaus und kümmerte mich um mein Neugeborenes und meine Zweijährige. Ich organisierte, traf Entscheidungen bei Notoperationen, aß und schlief kaum noch.

Als er nach zwei Monaten aus dem Koma erwachte, war mein Mann nicht mehr der, den ich vorher gekannt hatten. Tag für Tag stand ich meinem Mann auf seinem Weg zurück ins Leben zur Seite. Immer mit dem Ziel und der Hoffnung, dass er wieder am Leben teilnehmen konnte. Gleichzeitig war meine kleine Tochter immer wieder von Lungenentzündungen gebeutelt, so dass ich nicht selten von Krankenhaus zu Krankenhaus unterwegs war.

Endlich wieder aufwachen aus diesem Albtraum

Die Wochenenden 2011/2012 verbrachten die Kinder und ich bei meinem Mann in der Reha im Allgäu. Weihnachten verbrachte ich weinend mit meinen Mädchen in einer Allgäuer Kirche und betete, dass wir endlich wieder aufwachen aus diesem Albtraum.

Gerade als wir dachten, dass es nun langsam bergauf ginge, fiel mein Mann Anfang 2012 nach einer Operation erneut ins Koma, weitere OPs folgten. Im Frühjahr musste er abermals in die Reha und kam im Sommer nach Hause. Ich versuchte mich zunächst allein an der Pflege, musste mir aber schon bald eingestehen, dass ich absolut überfordert war. Erst nach und nach lernte ich, Hilfe zu organisieren. Ein Jahr versuchte ich mich in meiner neuen Rolle als Pflegerin und Motivatorin und funktionierte zugleich als Mutter.

Doch dann brach ich selbst zusammen. Körperlich an der Mehrfachbelastung und seelisch, weil eine tiefe Entfremdung zwischen meinem Mann und mir entstanden war. Es ließ sich keine persönliche Beziehung mehr zwischen uns herstellen. Dabei wünschte ich mir so sehr, dass unsere Kinder ihren Vater wieder erleben. Als ich klein war, hatte ich selbst meinen Vater verloren und wusste, wie groß der Schmerz über diesen Verlust sein kann. Damals konnte ich noch nicht voll annehmen, dass wir nie wieder so leben würden wie zuvor. Dass man nach einem solchen Vorfall eben nicht einfach wieder auf Neustart drücken kann, auch wenn man sich mit ganzer Kraft dafür einsetzt.

Soziale Isolation

Ich habe nur noch gehandelt, nur noch funktioniert, ohne auf mich zu schauen. Als hätte man mich rausgerissen aus meiner Heimat und mich zwangsversetzt in ein neues Leben auf einem anderen Kontinent. Ein eigenes Leben hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Meine Mutter und meine Schwester lebten in einer anderen Stadt, waren aber immer wieder da, um mir zur Seite zu stehen. Wir taten alles dafür, die Kinder so unbeschadet wie möglich durch diese schwere Zeit zu bringen. Aber wenn meine Familie weg war, war ich wieder allein. Allein mit meinen zwei so kleinen Kindern, für die ich viel zu wenig Zeit und Kraft hatte. Allein auch mit einem Mann, der unter schwersten körperlichen und seelischen Verletzungen litt und zu dem ich einfach keinen Zugang mehr finden konnte.

Auch viele Menschen aus dem alten Freundeskreis waren nicht mehr da. Kaum jemand ertrug den Zustand meiner Familie. Mit den Eltern meines Mannes gab es immer wieder aufreibende Konflikte. Ich war isoliert von fast jeder Form des sozialen Lebens, hatte kaum noch Austausch mit anderen Menschen und nur wenige, ganz besondere Freunde waren wirklich für mich da. Ich hatte allerdings auch Hemmungen, über meine Situation zu sprechen und konkret um Hilfe zu bitten.

Oft wusste ich nicht mehr, wie ich am nächsten Tag überhaupt noch aufstehen und diesen wieder bewältigen sollte. Ich war zerrissen zwischen den Bedürfnissen unserer Kinder und denen meines Mannes. Immer unter dem wahnsinnigen Druck, alle gleich gut versorgen zu wollen. Irgendwann war mir klar, dass ich dringend irgendetwas tun musste, um nicht selbst allen Lebensmut zu verlieren.

Ich beschloss, den einen Traum wahr zu machen, den ich schon seit Jahren in mir trug und der mir plötzlich wie das Licht am Ende eines dunklen Tunnels erschien: Ich wollte mit meinen Kindern, bevor sie schulpflichtig sind, ein paar Wochen in den USA verbringen. Endlich mal genug Kraft und Zeit für die Kinder haben. Die Mutter sein, die sie verdienten. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass unsere beiden Mädchen aufgrund der andauernden Extremsituation stets zu kurz gekommen waren.

Ich tat alles dafür und band meinen Mann so gut als möglich mit ein. Wir suchten gemeinsam ein Apartment aus, telefonierten per Skype mit den Vermietern. Wir vereinbarten, dass mein Mann in dieser Zeit noch eine besonders gute Reha in der Schweiz besuchen und im Anschluss für Weihnachten und Silvester nachkommen sollte. Ich hoffte einfach so sehr, dass wir fernab von unserem belastenden Umfeld doch noch irgendeine gemeinsame Lösung für die Zukunft finden und unsere kleine Familie retten könnten. Was in dieser ganzen Zeit wirklich in meinem Mann vorging, darüber redete er nicht.

Im Oktober 2013 feierten wir ein schönes Tauffest für unsere Kleine, auf dem er mir in einer kleinen Rede herzlich für all das dankte, was ich für ihn und die Kinder in diesen schweren Jahren getan hatte. Am nächsten Tag gab es bei uns Zuhause eine völlig unerwartete Auseinandersetzung mit Freunden über berufliche Zukunftsperspektiven, in deren Anschluss er sich von diesen ohne Absprache mit mir zu seinem Jugendfreund bringen ließ. Ab diesem Moment verweigerte er jeden Kontakt und kehrte nicht mehr nach Hause zurück. Ich wusste weder, wo er war, noch wie ich darauf reagieren sollte. Nach mehreren erfolglosen Kontaktversuchen stieg ich wie vereinbart in den gebuchten Flieger.

Ohne Geld und Kreditkarte in den USA

Mein Traum hielt genau bis zur Ankunft in den USA. Dort musste ich feststellen, dass meine Familien-Kreditkarte plötzlich nicht mehr funktionierte. Dadurch waren auch Mietwagen und Hotel für die erste Nacht storniert worden. Da stand ich nun mit unseren beiden kleinen Mädchen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Verzweifelt ließ ich mir von meiner Mutter überbrückend Geld zukommen, um es bis in die gebuchte Unterkunft zu schaffen.

Völlig erschüttert war ich, als ich nur wenige Tage später eine E-Mail mit einem anwaltlichen Bescheid bekam: Ein weiteres Zusammenleben käme nicht mehr in Frage, ich müsse aus unserem gemeinsamen Zuhause weichen. Damit hätte ich nach all dem, was ich für meinen Mann und unsere Familie in den vergangenen Jahren getan hatte, nicht gerechnet. Ja, wir hatten große Schwierigkeiten miteinander durch all die extremen Veränderungen. Trotzdem kann ich mir bis heute einfach nicht vorstellen, dass mein Mann plötzlich all diese Schritte gegen unsere Kinder und mich von sich aus initiiert hat.

Wir hatten nichts mehr

Von diesem Moment lief sämtliche Kommunikation nur noch über Anwälte.

Ich stand plötzlich vor der Obdachlosigkeit. Alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern, ohne Job und ohne Bezüge. Wir hatten nichts. Es gab keine Möglichkeit der persönlichen Kommunikation zwischen meinem Mann und mir. Ich weiß bis heute nicht, was in dieser schwierigen Zeit in ihm vorgegangen ist.

Wir kamen bei einer befreundeten Familie unter. Zunächst für eine Woche, daraus wurden dann zwei Monate. Es sind Menschen, die ich noch gar nicht so lange kannte. Sie stellten sich als warmherzig und liebevoll heraus, setzten mich nicht unter Druck und waren eine großartige Hilfe. Ein neues Zuhause fand ich lange nicht. Dann bot mir ein Freund seine leer stehende Wohnung an, in der ich noch heute wohne. Mit der Miete sagte er, könne er warten, bis ich es wieder hinbekomme.

Es folgte eine Scheidung, die mich seelisch und finanziell extrem belastete. Wir waren mittellos. Ich hatte keine Einkünfte, meine Ersparnisse waren aufgebraucht. Ich minimierte unsere Kosten wo auch immer ich konnte, Familie und Freunde statteten uns mit gebrauchter Kleidung aus. Ich besann mich auf meine Fähigkeiten und versuchte, mich auf eigene Beine zu stellen.

Meinen Job als Unternehmensberaterin konnte ich als alleinerziehende Mutter nicht mehr angemessen ausüben. Zudem hatte ich mir vorgenommen, etwas für mich wahrhaft Sinnvolles zu tun und Menschen mit ähnlichen Schicksalen auf ihrem Weg zurück ins Leben zu unterstützen. Dafür absolvierte ich eine Coaching-Ausbildung, die mir auch für meinen eigenen Weg wieder mehr Klarheit und Fundament gab.

Ich glaube, dass meine Kinder und mich ein ganz tiefer Lebenswille aufrecht gehalten hat. Und die Prägung durch meine Kindheit in liebevoller Gemeinschaft, die sich im Leitspruch meines Opas widerspiegelt: 'Wer weiß, wo`s gut für ist'. Darin steckt eine tiefe Zuversicht, dass man jede Herausforderung des Lebens meistern kann. Und dass es das Leben letztendlich gut mit uns meint.

Zurück ins Leben

Seit einem Jahr versuche ich mich an einem Weg zurück ins Leben. Es ist ein langer und schwerer Weg. Ich musste nach und nach wieder entdecken, wie mein Leben eigentlich aussehen soll. Lange konnte ich meinen Schmerz nicht zulassen, habe mich abgelenkt durch Arbeit und viele Aktivitäten. Heute kann ich mich verletzlich zeigen. Der Schmerz über all meine Verluste gehört nun eben auch zu mir. Ich musste ihn annehmen und lernen, Trauer auszuhalten.

Klar habe ich Abende, an denen sich meine Angst vor dem plötzlichen Verlust hochschleicht. Albträume von den vielen furchtbaren Bildern verfolgen mich zum Glück nur noch selten. Dass meine große Tochter den Zusammenbruch ihres Vaters direkt miterlebt hat und meine kleine Tochter ihren Vater in ihren ersten Lebensjahren gar nicht erst kennenlernen konnte, begleitet uns bis heute. Aber ich kann diese Gefühle inzwischen aushalten, denn ich weiß, dass sie wieder gehen.

Was ich aus meiner Geschichte gelernt habe: Für mich persönlich ist es der größte Verlust, mein Leben nicht wirklich zu leben. Es liegt an mir, es zumindest immer wieder zu versuchen und mich Schritt für Schritt zurück ins Leben zu wagen. Auch wenn ich manchmal keine Idee habe, wie das funktionieren kann oder aussehen wird. Es ist meine Entscheidung, wohin ich meinen Fokus richte und ob ich mein Leben wieder in die eigene Hand nehme. Und ich habe verstanden, dass ich diesen Weg nicht alleine gehen muss, wenn ich meine Geschichte offen erzähle und um Hilfe bitte.

Mein Leben und meine Arbeit müssen heute für mich Sinn machen. Darum gründe ich derzeit die daring dolphins Kinder- und Familienstiftung für traumatisierte Kinder, die einen plötzlichen Verlust erlitten haben. Sie soll diesen eine liebevolle Gemeinschaft bieten, in der sie zu ihrer inneren Zuversicht zurückfinden, ihre Fähigkeiten entwickeln und erste Schritte zurück ins Leben machen können. Mit meinen Wegbegleitern möchte ich Kinder dazu befähigen, ihre durchlebten Erfahrungen nach einem Schicksalsschlag als wertvolles Fundament annehmen zu können - und das Leben wieder zu genießen."

_______________________________

Cornelia Harms, 42, lebt und arbeitet in München als Coach. Ihre Stiftung daring dolphins ist auch auf Facebook.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

  • ÜberLeben "Tourette hat eben nichts mit 'Arschloch' zu tun"

    Jean-Marc Lorber hat das Tourette-Syndrom. Was er sich auf der Straße deshalb schon anhören musste und warum er ohne obszöne Worte auskommt.

  • Shufan Huo Die Not nach dem Trauma

    Durch Zufall gerät eine junge Ärztin in die Katastrophe auf dem Berliner Breitscheidplatz. Sie hilft sofort, wird selbst aber mit quälenden Gefühlen allein gelassen. Sie ist nicht die Einzige.

  • "Unsere gemeinsame Zeit war einfach vorüber"

    Trennungen tun meistens weh. Doch wie ist das, wenn man älter ist - und sich mit 60 noch einmal völlig neu orientieren muss? Eine Psychotherapeutin berichtet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: