Terror:Warum wir die Kraft der Verunsicherung brauchen

Weihnachstmarkt in Hamburg

Preis der Freiheit: Polizeibeamte sichern einen Weihnachtsmarkt in Hamburg.

(Foto: dpa)

Staat und Gesellschaft kommen besser mit Gewalt und Katastrophen zurecht, wenn sie um ihre Verletzlichkeit wissen. Es ist besser, mit der Unsicherheit zu leben als sich ständig vor ihr zu fürchten.

Essay von Matthias Drobinski

Sicherheit ist das höchste Gut einer Demokratie, die oberste Pflicht des Staates. Horst Seehofer hat das gesagt, der bayrische Ministerpräsident; es war am 31. Juli 2016, als Stadt und Staat um die Opfer des Münchner Amoklaufs trauerten.

Der Satz scheint unwiderlegbar zu sein im Angesicht des schwarzen Lastwagens, der auf dem Weihnachtsmarkt im Herzen Berlins zwölf Menschen zu Tode quetschte. Wie konnte ein gewalttätiger und radikalisierter Mann wie Anis Amri mutmaßlich diese Mordtat begehen, obwohl er im Visier der Polizei war und längst hätte abgeschoben sein müssen? Das Versprechen des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen, wirkt hohl in diesen Tagen.

Ein starker Staat schützt die Schwachen

Sicherheit ist das höchste Gut. Das klingt selbstverständlich, wenn Angst und Unsicherheit die öffentlichen Räume erfassen. Es scheint zum Gebot zu werden, wenn alles prekär zu werden scheint, Euro und Rente eingeschlossen. Wappne dich, schütze dich vor Verletzung und Verlust, sichere das Erreichte. Zieh hoch die Mauer, das Tor mach zu. Draußen steht der Feind.

Ein guter Staat sorgt für Sicherheit. Er tut dies mit Militär, Polizei und Geheimdiensten; mit Gesetzen, einer ordentlichen Verwaltung und einem tragfähigen Sozialversicherungssystem; mit einer Wirtschaftspolitik, die Arbeitsplätze schafft. Sichere Straßen, Wohnungen und Lebensverhältnisse schaffen Frieden und Vertrauen. Ein starker Staat schützt die Schwachen: Wer reich ist, kann sich selbst dort Sicherheit kaufen, wo dem Staat das Gewaltmonopol entglitten ist. Das Lächeln, mit dem die Sorge um die Sicherheit zeitweise abgetan wurde, war ein Wohlstandslächeln, ein Friedliche-Zeiten-Lächeln.

Aber ist Sicherheit tatsächlich das höchste Gut, das "Summum Bonum", der letzte Zweck allen ethischen und moralischen Handelns? Das wäre eine geradezu religiöse Überhöhung der Sicherheit. Es hieße, die Panzerung zu heiligen, die Unverwundbarkeit zum Sakrament zu erheben. Es würde bedeuten, dass die anderen Ziele des demokratischen Gemeinwesens hinter der Schaffung und Wahrung der Sicherheit zurückstehen und ihr dienen müssten: Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde.

Kirchenvertreter warnten davor, Sicherheit zu heiligen

Der Wahlkampf 2017 in Deutschland wird auch eine Auseinandersetzung um die Frage sein, ob Sicherheit das höchste Gut im Land sein soll. Unsicherheit und Angst haben zugenommen, obwohl es der Wirtschaft blendend geht, die meisten Arbeitsplätze sicher sind und insgesamt die Kriminalität sinkt. Aber da sind die Gewalttaten der Kölner Silvesternacht, die Attentate von Würzburg und Ansbach, da ist der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Und die Sorge steigt, dass es nicht so gut im Land bleiben könnte, wie es so lange schon ist.

Es haben, und das nicht von ungefähr, gerade Kirchenvertreter davor gewarnt, die Sicherheit zu heiligen, Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, genauso wie Kardinal Reinhard Marx, der katholische Bischofskonferenzvorsitzende.

Tatsächlich könnte hier der Einspruch der Christen gefragt sein wie lange nicht mehr. Es ist ja der Glaube an einen Gott, der, darum geht es an Weihnachten, ein schutzloses und verletzliches Kind wird. Später zog er als ungesicherter Wanderprediger umher. Dieser Gott wurde als Staatsgefährder verhaftet; er starb gefoltert und erniedrigt am Kreuz. Der Triumph, die Auferstehung, ist ohne diesen existenziellen Verzicht auf Macht und Sicherheit nicht denkbar, ohne einen Gott, der sich um der Menschen willen tödlich verwunden lässt.

Das stellt menschengemachte Sicherheitsmaßstäbe infrage. Wer dies glaubt, muss einem schwankenden Boden vertrauen lernen. Lange war den Kirchen und Christen diese verunsichernde Seite ihres Glaubens unheimlich. Sie störte die Ruhe, kratzte an der Gewissheit. Je stärker aber die Sicherheit zum innerweltlichen Heilsversprechen wird, dem alles andere zu dienen hat, umso mehr wird diese Kraft, Unsicherheit und Verletzlichkeit auszuhalten, zum Dienst an Staat und Gesellschaft in der Zeit des Unsicheren.

Es ist naiv, auf ein Leben ohne Unsicherheiten zu setzen

Terror: Freiheit vs. Sicherheit: Lässt sich diese Asymmetrie überhaupt überwinden?

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Der Staat selber kann ja nicht der oberste Verunsicherer sein. Er muss den Terror bekämpfen und Kriminelle einsperren. Er muss dafür sorgen, dass es Strom und Wasser für alle gibt, Wohnungen, Arbeitsplätze, Hilfe in Krankheit und Not. Er braucht aber dringend Kräfte der Verunsicherung, die bohren und sagen: Sicherheit ist nicht das höchste Gut.

Die Sicherheit ist die Dienerin der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Sie kann auch nicht einfach durch mehr Polizei und Überwachung hergestellt werden. Sie wächst mit dem innergesellschaftlichen Frieden, dem menschlichen Umgang miteinander, dem fairen Ausgleich zwischen Arm und Reich, Jung und Alt. Das treibt Risse ins Selbstgewisse, in alle innerweltlichen Absolutheitsansprüche. Es lässt Panzerungen brüchig werden und Mauern bröseln.

Die Asymmetrien, die dadurch entstehen, können schwer auszuhalten sein. Es trifft Menschenverachtung auf Menschlichkeit. Die Wahrung des Rechts begegnet den Feinden des Rechtsstaats. Es kämpft die Differenzierung gegen die Wort- und Bildgewalt der Fundamentalisten. Das wirkt hilflos, wenn das Gewalttätige des Terrors und die Durchschlagskraft des Hasses übermächtig zu sein scheinen: Glaubt ihr wirklich, mit gutem Zureden und Sozialarbeit die Gewalt besiegen zu können?

Gutes Zureden hält den Lastwagen vorm Weihnachtsmarkt so wenig auf wie den Bombenbastler. Und andersherum ist es naiv zu glauben, man könnte sich mit Maschinenpistolen, Geheimdienstlern und Polizisten unverwundbar machen. Ein Trugschluss ist es, man könnte in einer Art Tauschgeschäft die Freiheit geben und die Sicherheit bekommen, und eine Illusion, man könne Verletzungen vermeiden, gar heilen, indem man selber Wunden schlägt.

Das war die Illusion des US-Präsidenten George W. Bush, der das Trauma der Attentate vom 11. September 2001 durch den Irakkrieg überwinden wollte. Er hat damit weder sein Land noch die Welt sicherer gemacht. Es ist naiv, auf ein Leben ohne Unsicherheiten zu setzen. Dieser Versicherungsglaube bricht zusammen, wenn sich herausstellt, dass er nicht garantieren kann, was er verspricht. Dann bleiben entweder heillose Panik oder ewiger Kriegszustand, mit immer neuen Gemeinschafts- und Staatsfeinden.

Es jagt nicht die Panik durchs Land, die Weihnachtsmärkte sind voll

Ein Mensch, der seine Verletzlichkeit nicht verdrängt, sondern weiß, dass er verwundet werden kann, geht meist besser mit Krisen, Rückschlägen und Verwundungen um, sagen Psychologen. Das lässt sich auch auf Staat und Gesellschaft übertragen: Gemeinwesen kommen besser mit Gewalt, Katastrophen und Unsicherheit zurecht, wenn sie Sicherheit nicht zum höchsten Gut erklären, wenn sie sozusagen um ihre Verletzlichkeit wissen und darum, dass sie sich nicht unangreifbar machen können.

Es ist besser, mit der Unsicherheit zu leben, als sich ständig vor ihr zu fürchten. Dieser Grundsatz klärt nicht, welche Befugnisse Geheimdienste für ihre Arbeit brauchen oder wie viele Polizisten ein Bundesland einstellen soll. Aber es nimmt die Hysterie aus der Debatte. Die Unsicherheit als Teil des Lebens zu begreifen, ermöglicht Realismus: Was hilft tatsächlich, Sicherheit zu schaffen, und was ist Aktionismus? Es hilft zu differenzieren: Es gibt Muslime, die gefährlich sind, es sind aber nicht die Muslime als Gruppe gefährlich.

Die Kraft der Verunsicherung resigniert nicht schulterzuckend vor der Gewalt. Sie weckt die Kräfte des Zusammenhalts und der Mitmenschlichkeit. Sie nimmt damit dem Terror den Sieg. Das ist ja das wahrhaft Erstaunliche an diesen furchtbaren Tagen: Es ist wenig Hass zu hören auf dem verwüsteten Breitscheidplatz und überhaupt in Deutschland - jenseits der Blasen des sich selbst verstärkenden Hasses. Es jagt nicht die Panik durchs Land, selbst die Weihnachtsmärkte sind voll. Die Menschen lassen sich nicht unterkriegen. Viele sind zu Recht zornig, aber die meisten hassen nicht. Sie legen sich eine Mischung aus Fatalismus und Besorgnis zu, aber sie vergehen nicht vor Angst. Es sind ermutigende Zeichen einer inneren Sicherheit.

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