Sucht:Das Endspiel - im Wohnheim für Computerspielsüchtige

Computerspiele GTA V

GTA V - ein beliebter Spieleklassiker: Suchtgefährdend?

(Foto: dpa)

Der 21-jährige Daniel beschließt, sein Leben zu ändern - und schaltet den Computer aus. Jetzt muss er lernen, mit Medien normal umzugehen.

Reportage von Sophie Burfeind

Wenn Daniel eine Pause von seinem neuen Leben braucht, setzt er sich auf die Stahltreppe vor der Tür, raucht eine Zigarette und guckt den Flugzeugen nach. In seinem alten Leben lag Daniel auf einer Matratze in seinem Zimmer mit heruntergelassenen Jalousien, spielte Computerspiele und kiffte. Er stand nur auf, um sich Cola und Chips zu holen oder um aufs Klo zu gehen. "Solange was zu rauchen da war und Strom, war alles in Ordnung", sagt Daniel. Nach ein paar Jahren bemerkte er, dass doch nicht alles in Ordnung war. Seine Freundin beschwerte sich nun immer öfter, schließlich drohte sie mit dem Ende der Beziehung. "Du kannst weiterspielen. Aber ohne mich." Das saß, und so begann er, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Daniels neues Leben begann im vergangenen Jahr, als der 21-Jährige nach Dortmund-Aplerbeck zog, in das "Auxilium Reloaded", das erste und bislang einzige betreute Wohnheim für computerspielsüchtige Jugendliche in Deutschland, das es seit einem Jahr gibt. Er ist der Älteste hier, die anderen sechs Jungs sind zwischen 15 und 18 Jahre alt. Alle waren lange spielsüchtig.

Seit zehn Jahren eine Sucht

Computerspielabhängigkeit ist ein relativ neues Phänomen, seit etwa zehn Jahren wird es als Sucht thematisiert. Die bisher einzige bundesweit repräsentative Analyse zu Computerspiel- und Internetabhängigkeit ist die Pinta-Studie von 2011: Ihr zufolge zeigen 2,4 Prozent der 14- bis 24-Jährigen Zeichen einer Abhängigkeit; bei den 14- bis 16-Jährigen sind es vier Prozent. Einem 20-Jährigen wird das Problem eher bewusst, so die Experten, wenn Gleichaltrige an ihm vorbeiziehen mit Ausbildung oder Studium, während er selbst nur vor dem Computer sitzt. Dann kann er handeln. Jüngere merken gar nicht, dass sie längst süchtig sind.

Es ist Mittag. In Jogginghosen und Kapuzenpullis schlurfen die Jungs zum Essen in die Küche des Wohnheims, aus einem der Zimmer dröhnt Gangster-Rap, Sonnenlicht fällt durch die großen Fenster. Alle sieben Jungs am Tisch hatten einen Grund, ihr echtes Leben gegen ein virtuelles einzutauschen. Die Ursachen sind bei allen Süchten ähnlich: Man fühlt sich im Alltag überfordert, kann die eigenen Probleme nicht lösen, aber mit Drogen, Alkohol oder Spielen verdrängen.

Computerspielsüchtig werden vor allem junge Männer, die sich stärker von Ego-Shootern oder Spielen wie "League of Legends" oder "World of Warcraft" angesprochen fühlen als Mädchen; betroffen sind Jugendliche aus allen sozialen Schichten. Was man nicht sieht in den freundlichen Räumen des noch neuen Wohnheims, ist die Angst der Bewohner vor dem Leben da draußen. Ein paar von ihnen trauen sich nicht mal allein zum Bäcker und in die Schule schon gar nicht.

Mit zwölf kiffen, mit 13 zocken

Daniel war in der Schule ein Außenseiter, er hat Depressionen und eine schwierige Familiengeschichte - so wie viele Computerspielsüchtige. Als er sechs Jahre alt ist, nimmt sich sein Vater das Leben. "Daraufhin habe ich in der Grundschule viele Male versucht, mich umzubringen", sagt er, während er im Wohnzimmer des Heims auf dem Sofa sitzt. In der Schule wird er gemobbt, zu Hause ist das Geld knapp. Daniel wächst in Dortmund-Nordstadt auf, wo man leicht an Drogen kommt. Mit zwölf fängt er an zu kiffen, mit 13 an zu zocken.

Nach dem Schulabschluss beginnt er eine Ausbildung, von dem Geld, das er verdient, kauft er Gras und neue Spiele. "Das wurde so extrem, dass ich nichts mehr hingekriegt habe", sagt Daniel. Er verliert die Ausbildungsstelle, spielt weiter, beginnt eine neue Lehre, verliert sie wieder, spielt weiter. Seine Mutter bittet ihn, aufzuhören, aber er macht weiter. Mit 18 kommt er das erste Mal in eine Suchtklinik, wegen der Drogen. Dort darf er zwar nicht spielen, doch kaum kehrt er nach Hause zurück, fängt es von vorne an. "Das Spielen hat schon Spaß gemacht", sagt er. "Ich will nicht sagen, man spielt Gott, aber irgendwie ist es so: Man hat alles in der Hand."

Daniel findet im Spiel das, was im echten Leben ausbleibt: Erfolg, Anerkennung, Freunde. Auch wenn die nur virtuell sind. "Wir gehen davon aus, dass Spielen ein Kompensationsverhalten ist: Wer im wahren Leben nicht funktioniert, der spielt. Denn da funktioniert er", sagt Magnus Hofmann, der Psychotherapeut, der die Bewohner betreut. Die Spieler geraten schließlich in einen Teufelskreis: Je tiefer sie in der virtuellen Welt versinken, desto mehr entgleitet ihnen die reale. Sie haben keine sozialen Kontakte mehr, gehen nicht mehr vor die Tür, misstrauen dem anderen, echten Leben. Es macht ihnen Angst. Und diese Ängste wachsen, wenn man sich ihnen nicht stellt. "Aggressiv werden von den Ballerspielen aber nur diejenigen, die vorher schon aggressiv waren", sagt der Einrichtungsleiter Patrick Portmann.

Das Schwierigste: Medien nutzen ohne Rückfall

Der Druck auf die Jugendlichen nehme zu, erklärt Magnus Hofmann, weil die Eltern kein Verständnis für das Verhalten des Kindes hätten. "Durch den Druck kann sich zusätzlich eine Depression entwickeln, und dann suchen sie erst recht Zuflucht im Virtuellen." In seinen Therapiestunden behandelt er alle Jungs auch wegen anderen Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen. Die haben sich meistens schon gefestigt, weil es lange dauert, bis die Eltern reagieren oder das Jugendamt einschreitet, weil das Kind nicht mehr zur Schule geht. Handeln sollten Eltern dann, rät Portmann, wenn sie merken, dass ihr Kind sich immer mehr abkapselt, die Spieldauer sei dabei nicht so entscheidend.

Daniel ist der Einzige im Wohnheim, der von sich aus hierher gekommen ist. Als er im April beschloss, den Rechner auszuschalten, sah er seine letzte Chance in einer Therapie. Doch niemand wollte sie bezahlen. Das Jugendamt wollte ihn in eine Einrichtung für Alkoholkranke schicken. Günstiger, aber mit Computern für alle. Erst als Daniel mit rechtlichen Schritten drohte, bekam er einen Platz.

Das Schwierigste an der Therapie ist, dass man im Alltag nicht einfach ganz auf den Computer und das Smartphone verzichten kann. Die Jugendlichen müssen also lernen, die Medien zu benutzen, ohne dabei rückfällig zu werden. Am Anfang bedeutet das trotzdem, Handy und Spielkonsole auszuhändigen. "Mit 21 Jahren das Handy abgeben zu müssen, das nervt ganz schön", sagt Daniel und lacht.

Waschen, Kochen und Putzen

Drei Stunden am Tag darf er momentan sein Smartphone oder den Gemeinschaftscomputer im Wohnzimmer benutzen. Alle Bewohner bekommen anfangs nur eine Stunde, je nach Therapiefortschritt werden es drei und dann fünf Stunden. Die Therapiefortschritte sind Fortschritte im echten Leben - Daniel hat im Sommer eine neue Ausbildung angefangen. Für ihn ist es ein Erfolg, jeden Tag aufzustehen und auch dort hinzugehen.

Zur Therapie gehören auch Dinge wie Waschen, Kochen und Putzen. Eines Tages, so die Idee, gehen die Jungs wieder zur Schule, vielleicht in einen Fußballverein und finden neue Freunde. In seiner Berufsschulklasse ist Daniel jetzt der Beliebteste. Auch mit seiner Freundin läuft es jetzt wieder besser. Auf einmal ist das echte Leben wieder schön. Wenn alles gut geht, ist seine Therapie nach einem Jahr zu Ende, manche brauchen auch ein bisschen länger.

Selbst klein und schmächtig, der Held aber groß und stark?

Die Jungs lernen hier auch, mit welchen Tricks die Spieler süchtig gemacht werden. Gefährlich sind Spiele, die nie aufhören, bei denen man im Team spielt, das auf einen angewiesen ist und bestraft wird, wenn man nicht bis zu einer bestimmten Uhrzeit wichtige Aufgaben erledigt hat. Spiele also, die weitergehen, obwohl der Computer längst ausgeschaltet ist. Ungefährlich sind die, bei denen man zum Beispiel mit dem Auto über eine Ziellinie rauscht. Psychotherapeut Magnus Hofmann erklärt den Bewohnern, was der Avatar, also der virtuelle Held, den man gewählt hat, über die eigene Persönlichkeit aussagt. Löst man die Aufgaben mit Köpfchen oder mit der Panzerfaust? Ist man selbst klein und schmächtig, der Held aber groß und stark?

Abends sitzt Daniel wieder draußen auf der Stahltreppe. Er spielt mit seinem Handy, ein harmloses Spiel. In der virtuellen Welt hat er immer Figuren gewählt, die von allen unterschätzt wurden, aber am Ende ziemlich gut waren. So eine will er jetzt auch werden.

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