Studie zu Kindesmissbrauch:"Meine Mutter hat die Augen zugemacht"

Gewalt gegen Kinder

Laut einer Studie stellen sich Mütter in Deutschland bei sexuellem Missbrauch in Familien selten schützend vor ihre Kinder.

(Foto: Nicolas Armer/dpa)
  • Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch hat ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt.
  • 200 Betroffene konnten bereits angehört werden. Insgesamt haben sich etwa 1000 Menschen bei dem Gremium gemeldet.
  • In den vertraulichen Gesprächen berichteten Erwachsene, wie sie als Kinder oft keine oder erst spät Hilfe erfuhren.
  • Eine erste Erkenntnis bezieht sich auf die Mütter betroffener Familien.

Von Anna Fischhaber und Markus Mayr

Als Maria Andrea Winter erstmals Opfer sexueller Gewalt wird, ist sie gerade zwei Jahre alt. Später vergewaltigt sie ihr Vater regelmäßig, bis sie mit 15 in die Obdachlosigkeit flieht. Von ihrer Familie bekommt sie keine Hilfe. Im Gegenteil. "Einmal hat meine Mutter meinen Vater erwischt und ihn von mir weggezogen. Ich habe mich so geschämt, als ich am nächsten Morgen in die Küche kam. Aber sie hat getan, als sei nichts gewesen", erzählt die heute 59-Jährige der SZ. "Es war eine Weile Ruhe, dann ging es wieder los. Meine Mutter hat die Augen zugemacht. "

Mit ihrem Schicksal ist Maria Andrea Winter nicht allein. Gerade hat eine Kommission sich in Deutschland erstmals mit dem Thema Missbrauch beschäftigt und Betroffene angehört. Mehr als zwei Drittel berichteten von Übergriffen in ihrer Familie oder in ihrem engen sozialen Umfeld. Die Täter sind Väter, Großväter, Stiefväter, ältere Geschwister und in seltenen Fällen auch Mütter. Doch nicht nur der Missbrauch selbst belastet die Betroffenen. Bei der Kommission berichteten viele Opfer eindrücklich, dass ihnen in ihrer Kindheit nicht geglaubt wurde

Mütter betroffener Familien in Deutschland stellten sich bei sexuellem Missbrauch selten schützend vor ihre Kinder, geht aus dem ersten Zwischenbericht der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hervor, der an diesem Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. In vertraulichen Gesprächen berichteten Erwachsene dem Gremium, wie sie in der eigenen Kindheit oft keine oder erst spät Hilfe erfuhren. "Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch erfahren, verlieren schlicht ihr Zuhause", sagt die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen.

Die Betroffenen beobachteten oft sehr genau, dass Familienangehörige über den Missbrauch Bescheid wussten, aber nicht eingriffen. Oftmals hätten sie auch den Eindruck, so Andresen, dass ihre Mutter selbst ohnmächtig sei. Oder aber sie machten die Erfahrung, dass die Mutter oder andere Angehörige sich an der Gewalt beteiligten. Johannes Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, sagt: "Der Bericht gibt einen tiefen Einblick in das Versagen von Müttern." Die Sammlung der Einzelschicksale sei erschütternd.

Die Gründe für das Dulden des Missbrauchs waren unter anderem finanzielle und emotionale Abhängigkeit und Gewalt in der Partnerschaft, aber auch die Angst vor dem Verlust des Partners oder der gesamten Familie sowie eigene Missbrauchserfahrungen. Hilfe von außerhalb erfuhren Betroffene zudem selten, weil die Familie oft als Privatraum gesehen würde. "Aufarbeitung muss sich folglich mit der Wirkung gesellschaftlicher Vorstellungen von Familie sowie der Rolle von Eltern und anderen Angehörigen befassen", heißt es in einer Mitteilung der Kommission.

Für die Studie hat das Gremium bisher etwa 200 Erwachsene mit Missbrauchserfahrungen angehört. Zusätzlich sind 170 schriftliche Berichte eingegangen. Insgesamt haben sich bislang fast 1000 Menschen und weitere Zeitzeugen bei der Kommission gemeldet, die Mehrheit wartet aber noch auf die Anhörung. Weitere Anmeldungen werden nicht angenommen.

"Der Bedarf ist da, die Mittel sind es nicht", erklärt die Vorsitzende Sabine Andresen. Demnach reicht das Geld der Kommission nur bis zum Ende des Mandats 2019 für insgesamt 1000 Anhörungen. Es sei jedoch gewährleistet, dass alle angehört werden können, die sich schon gemeldet hätten. Trotz der fehlenden Ressourcen sei es wichtig, dass sie mit der Aufarbeitung begonnen hätten. Bisher hatte Deutschland damit keine Erfahrung.

Zahl minderjähriger Missbrauchsopfer nimmt weiter zu

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht in Europa von etwa 18 Millionen betroffenen Mädchen und Jungen aus. Laut einer aktuellen Studie des Universitätsklinikums Ulm nimmt die Zahl minderjähriger Missbrauchsopfer in Deutschland weiter zu. In einer Umfrage gaben 13,9 Prozent der Befragten ab 14 Jahren an, als Kind oder Jugendlicher missbraucht worden zu sein. Das entspricht etwa jedem siebten Deutschen. 2010 hatte eine Studie mit derselben Methodik noch einen Wert von 12,6 Prozent ergeben.

In Deutschland hatten vor allem die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche und an der Odenwaldschule die Republik erschüttert. Einer der häufigsten Tatorte ist aber nach wie vor die Familie, das zeigt auch der Bericht der Kommission: Bei 70 Prozent der Anhörungen fand der Missbrauch in der Familie oder im sogenannten sozialen Nahfeld statt, gefolgt von Missbrauch in Institutionen, durch Fremdtäter und organisierten Missbrauch. Entsprechend wählte die Kommission ihren Schwerpunkt im ersten Jahr aus. "Die Aufarbeitung auch in der Familie ist absolutes Neuland, national und international", so Rörig. Im kommenden Jahr soll es dann auch um die Themen Missbrauch in der DDR und in Kirchen und religiösen Gemeinschaften gehen.

Die Kommission setzt dabei vor allem auf Gespräche. Psychologisch geschulte Mitarbeiter hören sich in mehrstündigen Sitzungen das erlebte Unrecht an - egal ob die Fälle verjährt sind oder nicht. Manche Betroffene reden hier zum ersten Mal über ihr Leid. Mit Hilfe der Geschichten will die Kommission herausfinden, welche Strukturen Missbrauch begünstigen und Aufarbeitung verhindert haben. So soll eine Debatte über einen wirksameren Schutz angestoßen werden.

"Die Aufarbeitung ist Teil der gesellschaftlichen Verantwortung", sagt die Vorsitzende Andresen und betont, dass Missbrauch in Familien in "allen Schichten, Familientypen und Regionen Deutschlands" vorkomme. Allerdings rutschen Betroffene im Erwachsenenalter häufig in die Armut ab. Zwar seien diese Zahlen nicht repräsentativ, davon habe aber jeder fünfte der bisher 200 Angehörten berichtet, so Andresen. In der Gesellschaft bestehe noch kein Bewusstsein darüber, in welchem Ausmaß Missbrauch das spätere Erwerbsleben beeinträchtigen könne. Die Kommission fordert deshalb, dass Betroffene nicht länger an strukturellen und finanziellen Hürden scheitern, sondern schnelle und passende Hilfen erhalten.

(Mit Material der Agenturen)

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