Sozialistischer Lifestyle:Die moderne Ost-Frau

Sie sollte das Frauenbild der DDR prägen. Diesen Auftrag erfüllte Dorothea Melis mit der beliebtesten Frauenzeitschrift der sozialistischen Republik : der Sibylle.

Tina Hüttl

Noch immer liebt Dorothea Melis die Friedrichstraße in Berlin-Mitte, in der viele ihrer Erinnerungen zu Hause sind. Sie läuft vorbei an Escada, Galeries Lafayette, H&M, Hermès - nichts ist mehr wie früher, doch sie findet es toll. An der Ecke Behrendstraße, wo heute der Juwelier Wempe residiert, bleibt sie stehen.

Miniröcke

Drüben im Westen wurden die Röcke immer kürzer. Deshalb führte die einflussreichste Moderedakteurin der DDR, Dorothea Melis, flugs den Minirock ein.

(Foto: Foto: dpa)

Eine auffallend große Frau, Ende 60, schön, ungeschminkt. Sie zeigt auf ein großes Erkerfenster im ersten Stock, hinter dem die Redaktion der Sibylle früher eine weitläufige Etage unter den Reichsbahnern bezogen hatte: ihre ehemalige Arbeitsstätte. Es fängt an zu regnen, Melis hat keinen Schirm, von ihrem schwarzen, akkuraten Pagenschnitt tropft Wasser. Sie redet weiter, ohne sich daran zu stören.

Sie redet über Mode und Sozialismus, über das Frauen- und Schönheitsideal der DDR und natürlich über die Sibylle, die im Osten begehrte Mode- und Kulturzeitschrift, die sie maßgeblich geprägt hat. Die Sibylle gibt es nicht mehr, und auch ihre anderen Geschichten handeln von einer vor fast zwei Jahrzehnten untergegangenen Welt namens DDR. Aber Sentimentalität liegt ihr fern, dazu ist sie zu neugierig, dazu liebt sie Veränderung zu sehr. ,,Die Friedrichstraße haben wir damals rauf und runter fotografiert'', erzählt sie. Keine einzige Boutique habe es hier gegeben, nur ein paar Cafés, in denen sie häufig auch ihre Fotomodelle entdeckte.

Einmal schickte sie die gerade angesprochenen Mädchen in Trenchcoats auf die Straße. Der Fotograf Günter Rössler knipste sie von oben aus dem Redaktionsfenster - mit flatternden Mänteln und in der Bewegung. ,,Es war eine ganz neue Art zu fotografieren'', sagt Melis. Sie wollte nicht idealisieren, sondern die Mode dort zeigen, wo sie getragen wird: vor heruntergekommenen Fassaden, vor seelenlosen Plattenbauten, kurz, im sozialistischen Alltag. Ein Verfahren, das Avantgarde-Modehefte jetzt gerade ultramodern wiederbeleben.

,,Heute ist die Straße so lebendig'', sagt sie, ihre Begeisterung steckt an. Sie schaut in die Ladenfenster, geht nicht nur zu Hermès, sondern auch zu H&M. Bei beiden findet sie schöne Dinge, sie muss sich eben nicht abheben, schon gar nicht durch Luxus. ,,Aber Einkaufen tut dem Kreislauf gut'', sagt sie knapp. Für jemanden, der mehr als 30 Jahre in der Modebranche arbeitete, ist sie herrlich unprätentiös.

Eine Anna Wintour im Kleinformat

Es fällt schwer, sich das Gleiche bei Anna Wintour vorzustellen: die Chefin der amerikanischen Vogue im Regen und ohne Schirm - oder bei H&M? Zugegeben, das Bild ist groß. Aber auch Dorothea Melis hat einst Millionen von Frauen gezeigt, wie man sich gut anzieht und was begehrt ist, und das oft gegen die Vorschriften. So hat sie, wenn auch mit zwei Jahren Verspätung, den Minirock im sozialistischen Teil Deutschlands eingeführt, indem sie ihn 1967 einfach in der Sibylle abbildete - ziemlich genau 40 Jahre ist das nun her. Melis war die einflussreichste Moderedakteurin ihrer Zeit, nur dass ihr Wirkungskreis auf die DDR beschränkt blieb.

Sie war eine Anna Wintour im Kleinformat. Darauf angesprochen lacht sie und nickt. ,,Wenn nicht ich, wer sonst? Auch wenn es unbescheiden klingt.'' Sie sagt das ohne falsche Scham mit dieser ostdeutschen Unkompliziertheit. Vielleicht war genau das das Tollste an der DDR überhaupt: ihre ungekünstelten, unaffektierten Frauen. Vielleicht hat auch Melis mit dazu beigetragen. Als eine der ersten führte sie den DDR-Frauen in der Sibylle vor, wie sie mitten im Leben stehen und gleichzeitig schön sein können. ,,Ich wollte erreichen, dass Mode und Alltagskultur verschmelzen'', erklärt sie. Noch immer ist Natürlichkeit ihr Schönheitsideal.

Die moderne Ost-Frau

Als Melis 1962 die ,,modische Gestaltung'' der Sibylle übernahm, war sie 23 Jahre alt, hatte einen klaren Auftrag und keine Ahnung von den redaktionellen Aufgaben einer Moderedakteurin. ,,Schaffen Sie das moderne sozialistische Frauenbild'', hatte die damalige Chefredakteurin der Sibylle, Margot Pfannstiel, ihr nach dem Bewerbungsgespräch befohlen. Zuvor hatte Melis - etwas großkotzig, wie sie heute findet - die 1956 gegründete Zeitschrift Sibylle in ihrer Diplomarbeit an der Kunsthochschule Weißensee in der Luft zerrissen.

Bloß keine Hausfrauen-Pose

,,Die biedere Mode, die theatralischen Fotoposen, das propagierte Hausfrauen-Leitbild haben mich abgestoßen'', sagt sie, die Modegestaltung studiert hat. Sie trat an, etwas Neues zu machen, ihre eigenen Vorstellungen von der ostdeutschen Gesellschaft, Kultur und Schönheit zu formulieren. Natürlich habe es in der Sibylle-Redaktion auch einen ,,Giftschrank'' gegeben, in dem die aktuellen Modezeitschriften aus dem imperialistischen Ausland gebunkert wurden. Melis liebte die Elle, die Verherrlichung von Wohlstand und Luxus aber wirkte auf sie befremdlich. ,,In den westlichen Zeitungen gab es für unser Konzept und unsere Life-Fotografie keine Vorbilder.''

Zusammen mit ihrem Team, das sie sich aus Dozenten und Kommilitonen der Kunsthochschule zusammenstellte, entwickelte sie die Sibylle zu einem vielbeachteten Kulturjournal. ,,Wir haben Mode nie losgelöst von redaktionellen Themen betrachtet.'' Wegen der ökonomischen Mängel wurde viel improvisiert. Als Moderedakteurin brachte Melis nicht nur Ideen für das Heft ein, sie organisierte, assistierte, entwarf, zeichnete, bügelte, kämmte, schleppte Kollektionen, wählte Fotos aus und schrieb Texte. Gerade diese enge Verzahnung machte mitunter das Besondere der Sibylle aus, in der auf einen literarischen Streifzug zu den Wirkungsorten des russischen Revolutionärs Lenin eine Modereportage über ,,seine Enkel'', die Jugend in Moskau und ihren Bekleidungsstil, folgte.

Auch im Westen viel Ramsch

Was aber sollte und konnte Mode im Sozialismus sein? Einem System, in dem Gleichheit verordnet, Unauffälligkeit erwünscht war und materielle Beschränkung den Alltag prägte? Die Frage trifft einen empfindlichen Punkt bei Melis, die sonst so Gelassene wird fast ärgerlich. ,,Die Leute wissen nicht, was sich hinter der Mauer abgespielt hat, wie viele Ideen und Talente wir hatten.'' Auch deshalb hat sie 1998 ein sehr schönes, mit vielen Fotos illustriertes Buch herausgegeben, ,,Sibylle, Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR'' (Schwarzkopf & Schwarzkopf) heißt es. Sie wollte zeigen, was modisch geleistet wurde, auch vor dem Hintergrund, dass mit 1989 jede DDR-Errungenschaft für nichtig erklärt wurde.

Dabei war sie es, die nach der Wende schockiert über die Mode aus dem Westen war. ,,Damals lebte ich noch ganz in der Nähe der Friedrichstraße. Ich musste mitansehen, wie die Frauen zu den Wühltischen strömten und geschmackloses Zeug kauften. Sogar 60-Jährige liefen in billigen Glitzer-Leggins herum'', sagt sie. ,,Da habe ich gedacht, wo ist nur euer Anstand geblieben.'' Sie, die hauptsächlich die französische Marie-Claire, die italienische Vogue und die Elle kannte, lernte ihre erste Lektion: auch im Westen viel Ramsch, nicht nur Qualität.

Die moderne Ost-Frau

Homemade Fashion aus Bettlaken und Stoffwindeln

Natürlich sei aus der an Massenproduktion orientierten Konfektionsindustrie der DDR auch wenig Anständiges gekommen. ,,Aber aus dieser Not heraus wurde bei uns genäht'', erzählt Melis. ,,Wir waren experimentierfreudig, mit der Wende wurde das abgewürgt.'' Heute kauften die meisten in Ketten ein, die überall die Fußgängerzonen überziehen, hübsche Sachen, aber konformistisch.

Waren die Ostdeutschen individueller gekleidet als das Vorurteil vom allgegenwärtigen Dederonkittel glauben macht? ,,Nein, interessante Stoffe und Schnitte waren wie alles hier Mangelware. Aber Mode wird auf der Straße gemacht, nicht nur von gelernten Modeschöpfern, die das Gesehene lediglich aufgreifen und lenken.''

Es habe viele private Modesalons gegeben, und die berufstätigen Frauen hätten in ihrer knappen Freizeit aus Leinen-Bettlaken Blazer, aus Stoffwindeln fließende Röcke gefertigt. Einfache Stoffe wurden bestickt und benäht, gefärbt und gebatikt, Kleider auf Märkten an- und verkauft. In der DDR habe sich so eine ganze Modesubkultur entwickelt, aus der sich auch die Sibylle bediente. Und natürlich bot jedes Heft Schnittmuster zum Nachschneidern.

Melis erinnert sich an einen ihrer wandelbaren Grundschnitte für ein Kleid, der über 750 000 Mal kopiert wurde, obwohl die Auflage der Sibylle nur 200 000 Stück betrug. Die Zeitschrift war äußerst erfolgreich und immer ausverkauft. Man brauchte schon gute Beziehungen zum Kioskbesitzer, um eines der alle zwei Monate erscheinenden Exemplare zu ergattern. Sie wurden herumgereicht, bis sie zerfleddert waren und unleserlich. Trotzdem wurde die Auflage nicht erhöht - offiziell wegen der Papierknappheit, so ganz geheuer war der Regierung das Modeheft nicht. Die Stasi hörte am Redaktionstelefon mit, und die Frauenkommission des Zentralkomitees der SED überwachte die Beiträge streng und forderte ständig Rechenschaft.

Die Zensur machte das Heft kaputt

Spaß, Witz, Ironie und Erotik waren verboten. Fotomodelle durften nicht rauchen, weil das mondän wirkte. ,,Wir waren alle Heuchler, haben tiefe Verbeugungen gemacht und dann doch, was wir für richtig hielten'', so fasst Melis heute ihre damalige Haltung zusammen, die der Begeisterung für den Sozialismus wich. Ständig suchte sie nach neuen Fotografen und einer Bildsprache, mit der sie nicht aneckte, sich aber auch nicht verbog. Und erneut wird sie in der Friedrichstraße fündig. An der Kreuzung zum Boulevard ,,Unter den Linden'' deutet Melis auf einen Auto-Showroom aus Glas. ,,Hierfür wurde nach der Wende das Café Espresso abgerissen'' sagt sie. Einer der wenigen Orte, dem sie nachtrauert. ,,Das ,Espresso' war mein zweites Büro''.

Hier traf sie Mannequins, Autoren und einen neuen Fotografen: Roger Melis, ihren späteren Mann. Er hatte gerade eine Fotoreportage im Kaukasus gemacht. Ihn, den Mode wenig reizte, gewann sie für die Sibylle, genauso wie die Fotografinnen Sibylle Bergemann und Ute Mahler. Als 1968 die Chefredakteurin Pfannstiel gehen musste, wurden die Gängeleien noch schlimmer. Ein Foto ihres Mannes, den sie 1970 heiratete, gab schließlich den Ausschlag, dass auch Melis aufgab. Zusammen hatten sie in Warschau eine Modeserie geschossen, das letzte Bild zeigte die Silhouetten von zwei Mädchen in langen Mänteln als Rückenansicht. ,,Unsere Frauen haben doch ein Gesicht'', schrie die neue Chefredakteurin, und das ZK urteilte: sie von hinten zu fotografieren sei menschenverachtend.

,,Dieses kleinkarierte System hat die Zeitschrift allmählich kaputtgemacht'', sagt sie. ,,Die Kulturbeiträge wurden banal, die Mode austauschbar.'' Wegen familiärer Beziehungen hatte das Ehepaar 1970 die Chance, die DDR zu verlassen. ,,Trotz der Atemnot, die wir manchmal hatten, weil wir hier drinnen waren und die Welt da draußen'', sagt Melis, ,,wollten wir nicht.'' Zu groß war die Angst, in ihren Berufen keinen Anschluss zu finden. Sie blieben, wie die Sibylle auch. Melis arbeitete für ,,Exquisit'', das Luxuslabel des Ostens.

Gegen Ende der DDR begehrte die Redaktion dann noch einmal auf, gab sich extrovertiert und fotografierte Models, die, in Pelze gehüllt, beschwipst in der U-Bahn lümmelten. Melis gefiel das nicht. Nach der Wende kaufte der Gong-Verlag das Blatt, doch die Sibylle hatte keine Handschrift mehr, 1995 war Schluss. Und heute? Organisiert Melis Ausstellungen ihrer Fotografen wie Sybille Bergemann, hält Vorlesungen über DDR-Modefotografie an Hochschulen, schreibt Bücher über die Vergangenheit und beobachtet interessiert die Gegenwart: ,,Das eitle Getue und der Modelkult, der heute an der Mode hängt, ist nichts für mich.'' Nein, eitel ist sie nicht. Sie ist einfach nur die Anna Wintour der DDR, deren Namen kaum einer kennt.

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