Sozialdemokratie:Wie zu Kaisers Zeiten die SPD zerbrach

USPD beim Wahlkampf zu den Reichstagswahlen, 1920

Wahlkampf der USPD 1919: Für die Bürgerlichen war sie der Gottseibeiuns des Umsturzes, für die SPD eine Partei der Abtrünnigen, für die Kommunisten nicht radikal genug.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Vor 100 Jahren gründeten die Kriegsgegner in der SPD eine eigene Partei, die USPD. Nie wieder ist die deutsche Linke seither vereint gewesen.

Von Joachim Käppner

Johann Wolfgang von Goethe tanzte im "Gasthaus zum Mohren" in Gotha auf einem Maskenball. Ein verzweifelter Napoleon übernachtete nach der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig 1813 im selben Haus. Preußens König Friedrich Wilhelm III. hielt sich mehrmals dort auf.

1917 heißt es "Volkshaus zum Mohren", eine Wirtschaft für Arbeiter, mit Kegelbahn und Versammlungssaal unter einem mächtigen Ziegeldach. Einer der Mitbegründer der SPD, Wilhelm Bock, der für einen Sozialdemokraten über beruhigende finanzielle Mittel verfügte, hat das "repräsentable Gebäude mit großem Garten inmitten der Stadt" gekauft und darin eine Druckerei und ein Gewerkschaftszentrum eingerichtet.

Nun, im April 1917, erlebt der "Mohren" eine Versammlung, die Geschichte schreiben wird, weit mehr noch als die Besuche des Dichterfürsten und des Monarchen.

Die Teilnehmer sind seriöse Herren, sie tragen Schnauzer, Rock und Hut. Fast alle sind Sozialdemokraten, Mitglieder der SPD - und einig, dass es so nicht weitergehen kann mit dem Weltkrieg und der großen Arbeiterpartei, von der sie sich verraten und verteufelt fühlen.

Im Deutschen Kaiserreich war die SPD stets auf Einigkeit angelegt. Sie mochte solide Gewerkschaftsfürsten hervorbringen und flammende Revolutionsrhetoriker, unter dem Vorsitzenden August Bebel (1840 - 1913) haben sie alle unter einem einzigen Dach gesessen. So ist die SPD zur stärksten und am besten organisierten Arbeiterpartei Europas geworden, größte Fraktion im Reichstag, wo sie freilich machtlos in der Opposition bleibt.

Dann, als der Weltkrieg kam und Kaiser Wilhelm II. angeblich keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kannte, stimmte die SPD den Kriegskrediten zu, sie glaubte der Lüge vom Verteidigungskrieg und sah in Massenstreiks für den Frieden keine realistische Alternative.

So groß war der Einheitsdruck, dass am 4. August die gesamte Fraktion für die Kriegskredite stimmte, sogar der radikale Karl Liebknecht, obwohl eine erhebliche Minderheit in der Partei diese Linie als Sündenfall von nahezu biblischem Ausmaß empfand.

"Einer, der nach einer harten Jugend und sehr viel Arbeit aussah."

Die Rechtfertigungsrede im Parlament musste ausgerechnet der Vorsitzende und Kriegsgegner Hugo Haase halten, der dann 1917 die treibende Kraft bei der Gründung der neuen Partei ist.

Haase zählt zu den großen Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung. Die Weltbühne hat ein schönes Porträt über ihn verfasst: "Ein kleiner, unscheinbarer Mensch. Einer, der, mit gebeugtem Rücken, nach einer harten Jugend und sehr viel Arbeit aussah ... Ein kluger Kopf, ein Mann von zwingender Logik und mühselig erarbeitetem großen Wissen. Und ein Mensch, der über alle bitteren Nadelstiche des Lebens ein fühlendes Herz im Leibe behalten hatte. (...) Sein Radikalismus imponiert."

Die Gründung von Gotha ist die Konsequenz jenes Tages im Vorjahr, an dem die latente Feindseligkeit der Mehrheit gegen die Parteilinke sich explosiv entladen hat. Am 24. März 1916 hielt Haase, der kleine, zähe, oft etwas melancholisch erscheinende Mann, im Reichstag die Rede seines Lebens. Unter sich sah er die Menge seiner Feinde, er hörte Stimmen voller Niedertracht und Zorn, Zwischenrufe, Gejohle.

Viele im Reich, sagte Haase unbeirrt, forderten nun "als Ziel des Krieges die Ausdehnung unserer Weltmacht, die Erringung der Weltherrschaft", doch: "Man sollte annehmen, dass nur komplette Narren oder gewissenlose Verbrecher solche Pläne verfolgen." Die Rede endete in Tumulten und Geschrei. SPD-Chef Friedrich Ebert, mit rotem Kopf, die kräftige Gestalt bebend vor Zorn, schrie Haase an: "Schamloser Kerl! Frecher Halunke!"

Haase und seine Unterstützer wurden kurzerhand aus der Fraktion hinausgeworfen. Der Abgeordnete Eduard David, ein entschiedener Gegner Haases und der Linken, schrieb in sein Tagebuch: "Gefühl der Befreiung. Es ist vollbracht, Scheidung auf der ganzen Linie. Ich habe gesiegt!"

Bei der Revolution scheitert das Bündnis der feindlichen Schwestern

Von da aus führte der Weg direkt nach Gotha - der Stadt des legendären Parteitages von 1875, der die Strömungen der organisierten Arbeiterschaft zusammenführte. Schon die Wahl des Ortes soll 42 Jahre später deutlich machen: Hier versammelt sich die wahre Sozialdemokratie. Hier gründen sie am 6. und 7. April die USPD, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei.

Sie ruft sogleich zum Frieden auf, in seiner Grundsatzrede verkündet Haase, es gehe darum, die Sozialdemokratie zu erneuern, die alte SPD habe sich, weil sie den Krieg unterstützt, moralisch vollkommen diskreditiert. Und schon in Gotha versucht Haase, die ganz radikale Linke einzuhegen, die es zur Aktion drängt, er lehnt jede undemokratische Vorgehensweise ab. Ende desselben Jahres hat die USPD bereits gut 100 000 Mitglieder.

Bis zum Herbst 1918 trägt sie die Hauptlast des Widerstands gegen das Gemetzel an den Fronten und die größenwahnsinnigen deutschen Kriegsziele. Die Revolution in Russland begrüßen die Unabhängigen anfangs als "Flammenzeichen einer neuen Zeit", dann aber wächst das Unbehagen an dem Terror der Bolschewisten dort.

Die USPD hält enge Verbindungen in die Industriebetriebe und zu den dortigen Widerstandszellen gegen den Krieg, den "Revolutionären Obleuten", bei den Januarstreiks der Rüstungsarbeiter ist die Partei ganz vorne mit dabei.

Während der Revolution Ende 1918 sind die Unabhängigen sogar kurz an der Macht und bilden gemeinsam mit der SPD den "Rat der Volksbeauftragten". Doch das Bündnis der feindlichen Schwestern zerbricht daran, dass die SPD, ausgerechnet, aus Furcht vor einem bolschewistischen Umsturz auf das alte Militär setzt.

Seit dem Tag von Gotha aber ist die deutsche Linke gespalten: Immer gab es eine Kraft links von der SPD: erst die USPD, ab 1918 die KPD, dann die DKP im Westen und die SED in der DDR; seit 1990 die SED-Nachfolgepartei, die heute Die Linke heißt.

Sollte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in Versuchung kommen, eine Regierung mit ihr (und den Grünen) zu bilden, wäre in diesem Versuch einer linken Mehrheit auch immer noch jener ferne Tag von Gotha zu spüren. Linke und Grüne sind in großen Teilen Fleisch vom Fleische der SPD.

Diese setzt auf Verantwortung und Reform, ihre linken Widersachen halten es mit Prinzipientreue und reiner Lehre. Die SPD zahlt den Preis, dass die Kompromisse, die sie eingeht, oft zu groß sind und Teile der Anhängerschaft empört: während der Weimarer Republik, 1966 beim Eintritt in die Große Koalition, 1982 beim Sturz Helmut Schmidts im Schatten der Raketendebatte, 2003 durch die Agenda 2010. Die Linken wiederum haben als Wahrer der reinen Lehre immer wieder Zulauf, aber niemals genug, um auf demokratischem Wege an die Regierung zu gelangen.

Stattdessen entstand noch links von der USPD Ende 1918, nach dem Sturz des Kaiserreiches, die KPD. Deren baldige Wandlung zu einer stalinistischen, tyrannischen Kaderpartei widersprach freilich sämtlichen Idealen, für die Hugo Haase und Genossen in Gotha standen. Die Praxis des Marxismus-Leninismus diskreditiert bis 1990 die Idee des Sozialismus als weltliche Heilslehre vollständig.

Zu gut für diese Welt

Hugo Haase und seine Mitstreiter sind heute fast vergessen: Wilhelm Dittmann, Emil Barth, Georg Ledebour. Die meisten hatten sich aus kleinsten Verhältnissen hochgearbeitet, waren kämpferische Vertreter der Arbeiterbewegung und zugleich trotz mancher Illusionen Vorkämpfer der deutschen Demokratie.

Die USPD war, im heranbrechenden Zeitalter der Ideologien, auf gewisse Weise zu gut für diese Welt. Sie wurde von der Geschichte überrollt, ihre Idee vom Sozialismus mit demokratischem Angesicht zermalmt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Schon 1922 ist die Partei am Ende.

Doch ihr gebührt ein Ehrenplatz im, leider wenig beachteten, Pantheon der deutschen Freiheitsbewegungen. Das "Volkshaus Zum Mohren", wo alles begann, ließ die Stadt Gotha übrigens 2007 trotz heftiger Bürgerproteste wegbaggern.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: