Sinn und Unsinn:Nicht zu greifen

Die Schlagersängerin Helene Fischer ist der größte Star Deutschlands. Trotzdem wurde sie beim DFB-Pokalfinale von Zehntausenden ausgepfiffen. Was sagt das über dieses Land aus?

Von Jakob Biazza

Der Moment, der das Phänomen Helene Fischer so greifbar macht wie kaum ein anderer in den vergangenen Jahren, hat eigentlich gar nichts mit Helene Fischer zu tun. Obwohl sie natürlich im Zentrum steht, als Zehntausende Stadionbesucher sie minutenlang auspfeifen. Der Moment hat eher mit Fußballkultur zu tun. Beziehungsweise mit dem, was fanatische Fans als "echte" Fußballkultur romantisch überhöhen. Und er hat mit dem zu tun, was weniger fanatische Fans (also Radiohörer) hierzulande in großer Zahl als Popkultur empfinden und kaufen.

Als die Perfektion von Helene Fischer für diesen einen Moment bricht, wirkt die Großkraft Fußball auf die - in diesem Stadion eher marginale - Kraft Popkultur ein. Es ist Pokalfinale, Dortmund gegen Frankfurt, und die Verantwortlichen versuchen, ein bisschen an die Entertainment-Größe der USA heranzureichen. Das geht ja immer schief. Und in diesem Fall eben richtig. Denn Helene Fischer soll liefern, was beim amerikanischen Superbowl den größten unter den dort ohnehin viel größeren Pop-Ikonen vorbehalten ist: eine Halbzeit-Show. Dann folgt die Hinrichtung.

Wer es nicht live erlebt hat, kann das auf Youtube nachholen. Das funktioniert ohnehin besser, weil es dort Handyvideos gibt. Auf die hat die Regie, die bei der Übertragung die Außenmikrofone heruntergeregelte, damit die Pfiffe die Musik nicht komplett übertönen, keinen Einfluss. Man erlebt die brachiale Kakofonie also in ihrer ganzen brutalen Dimension. Die Pfiffe. Die Buhrufe. Das Gejohle. All die gnadenlose Ablehnung. Oder darf man schon Hass sagen? Nicht, das ist wichtig, gegen Helene Fischer als Mensch. Wohl nicht einmal gegen Helene Fischer als Künstlerin. Sondern gegen Helene Fischer als Symbol. Es gab vor dem Finale schließlich bereits einen Ausspruch für das, was die Fans erwarteten. Der Ausspruch lautet: "Helenefischerisierung des Fußballs".

Wenn ein Eigenname ein Phänomen beschreibt, hat man es zu einiger Bedeutung gebracht: kafkaesk, hartzen oder, für Simpsons-Fans, "einen Homer bauen" wären Beispiele.

Sie ist vielleicht der einzige weibliche Superstar, den dieses Land hat

Helenefischerisierung ist nun nicht unbedingt schmeichelhaft gemeint (wenn auch nicht zwangsläufig ablehnend). Es verdeutlicht aber in jedem Fall die immense Größe der Namensträgerin. Helenefischerisierung wirft man auch dem deutschen Fernsehen gelegentlich vor. Vor allem dann natürlich, wenn Helene Fischer, die man dann eher nur Helene nennt, dort moderiert oder, wie zuletzt, dem alternden Showmaster Thomas Gottschalk etwas Quotenhilfe gibt. Helenefischerisierung, das wirft man auch dem deutschen Konzertbetrieb gern vor. Dann vor allem, wenn er versucht, die Showstandards der Fischer auch anderswo zu halten. Helenefischerisierung, das ist also eine inzwischen nicht mehr sehr kreative Generalanklage - und zwar an so ziemlich alles, was man an Deutschland zu oberflächlich und zu glatt findet. Eine Art Kommerz-Mainstream-Pendant zum Vorwurf "hipstermäßig". Viel größer geht nicht.

Man kann an dieser Stelle also ruhig kurz innehalten und bewundern, was Helene Fischer alles erreicht hat. Es ist ziemlich eindrucksvoll.

Helene Fischer ist schließlich, da kann sich das Feuilleton genauso querlegen wie Blogger, Indie-Hörer und alle hauptberuflichen Ironisierer im Fernsehen, der größte - und Himmel: vielleicht auch einzige - zumindest weibliche Superstar, den dieses Land hat. Mehr noch wohl sogar. Helene Fischer, die durchtrainierte Perfektionistin, ist ein Sinnbild, wenigstens für Teile Deutschlands. In Zahlen: Demnächst dürfte sie elf Millionen Alben verkauft haben - allein "Farbenspiel", ihr erfolgreichstes, 2,3 Millionen Mal. "Atemlos durch die Nacht" ist eine der erfolgreichsten Singles in Deutschland seit 1975. Die "Farbenspiel"-Tour sahen 850 000 Zuschauer in 24 Stadien. So etwas schafft, sagen Konzertveranstalter, die sonst mit Lady Gaga, Bruce Springsteen oder den Rolling Stones arbeiten, fast niemand in Deutschland. Auch internationale Künstler nicht. Ihr neues Album, das heißt wie sie selbst, hatte schon zwei Monate vor Veröffentlichung Platinstatus. Der Vorbestellungen wegen.

2014 brachte Douglas einen Duft mit ihrem Namen heraus: Er war sofort ausverkauft

Man findet solche Superlative auch außerhalb der Musik. Wenn Fischer im Fernsehen moderiert, sind die Einschaltquoten zum Teil auf "Tatort"-Niveau. Der Duft, der unter Fischers Namen im Jahr 2014 bei der Parfümeriekette Douglas im Sortiment erschien, war nach Unternehmensangaben der bis dato erfolgreichste. Auch hier gab es Wartelisten vor dem Verkaufsstart. Helenefischerisierung auch der Geruchskultur Deutschlands.

Und Helenefischerisierung der Fankultur. Solche Zahlen entstehen schließlich nicht im luftleeren Raum. Sie sind das Resultat einer innigen Beziehung zwischen Fans und Künstler. Man übertreibt nicht sehr, wenn man sich an Liebe erinnert fühlt. Und an all die Mechanismen, die an den Tag legt, wer etwas beschützt, das er liebt - und das angegriffen wird.

Nur ein Beispiel: Die Komikerin Carolin Kebekus war lange vor allem für zwei Sketche berühmt: Einer ging gegen die katholische Kirche. Der andere persiflierte Helene Fischer. Seither spricht Kebekus in Interviews gerne von "Fischer-Ultras", Hardcore-Fans also, die ihre Helene mit allem verteidigen, was das Netz an Rhetorik so hergibt. Also mit viel: "Interessanterweise", sagt Kebekus, "kippt der Ton sowohl bei den Fischer-Fans als auch bei hatenden Katholiken irgendwann tendenziell ins Rechtsradikale."

Sinn und Unsinn: Wie die abhebt und schwebt: Helene Fischer wird von ihren Fans auf Händen getragen - aber es gibt auch viele, die Schnappatmung kriegen, sobald sie nur auftaucht.

Wie die abhebt und schwebt: Helene Fischer wird von ihren Fans auf Händen getragen - aber es gibt auch viele, die Schnappatmung kriegen, sobald sie nur auftaucht.

(Foto: Günter Distler)

Liebe eben. Und wer Liebe will, was im Pop und mehr noch im Schlager immer auch kommerziellen Erfolg meint, der muss erst mal Sehnsüchte erschaffen. "Helene Fischer", das Album, ist genau in diesem Zusammenhang ein absolutes Meisterwerk, das zeigt, wie Helene Fischer, das Phänomen, funktioniert. Es enthält wirklich jede Sehnsucht, die nach dem Nine-To-Five-Job noch Platz hat. Gefühle also, die aus einem eher engen semantischen Feld kommen, mit Begriffen wie "Leichtigkeit", "Freiheit", "losgelöst", "Sternenmeer", "Herz aus Gold", "schweben", "fliegen".

Helenefischerisierung der deutschen Seele also vor allem. Denn der Ursprung von Sehnsüchten ist ja der Mangel am Ersehnten. Hier also: die deutsche Schwere, das Pflichtgefühl - die Autos, die in die Werkstatt, und die Kinder, die in die Kita müssen. Alltag eben, vor dem die Flucht immer schon ein Klischee war. Weshalb die Wortwahl der Künstler bei diesem Thema fast zwangsläufig ins Phrasenhafte kippt. In Büchern. In Filmen. In Songs. Im Rock. Im Rap. Vor allem aber im Schlager.

Borussia oder Eintracht? Gegen die AfD? Diese Frau will sich einfach nicht festlegen

Niemand erschafft Sehnsüchte gerade so brillant wie Helene Fischer. Deshalb wird kaum jemand in Deutschland gerade so sehr geliebt wie sie. Helene Fischer ist die Künstlerin für alle. Das ist Konzept. Sie steht für glatte, gefahrenfreie, und ja, damit auch sterile Unterhaltung. Für Ausgleich. Immer wieder fordern andere Künstler, Fischer müsse sich politisch positionieren. Zumindest doch gegen die AfD. Fischer positioniert sich nicht.

Sind das alles Symptome von Mittelmaß? Vermutlich. Aber die meisten unter uns sind ja Mittelmaß. Qua Definition.

Auch vor dem Pokalfinale positionierte Fischer sich nicht. Sie postete ein Foto von sich im Fußballtrikot - halb Dortmund, halb Frankfurt. Dazu schrieb sie, dass sie beiden Mannschaften die Daumen drücke. Kurz darauf betrat sie ein Stadion, in dem niemand beiden die Daumen drückte. Was eben passiert, wenn ein sehr archaisches auf ein sehr ausgleichendes Element trifft: Eine Kraft überragt die andere. Und irgendwas bricht.

Wenn man jetzt mal ein bisschen zu grob vereinfacht, ist das Pfeifkonzert also eigentlich ein Moment, in dem vieles sehr verdichtet aufeinanderrauscht, was dieses Land im Jahr 2017 ausmacht: Identitätssuche, Abgrenzung, eine gewisse Grundhysterie und viel, viel Sehnsucht nach etwas, das Orientierung und Antworten gibt in einer Welt, die sich gerade sehr kompliziert anfühlt. Und noch etwas mehr: Solidarität mit etwas, das einem diese Orientierung geben kann. Fußball steht da offenbar noch etwas höher im Kurs als Helene Fischer. Für den Moment zumindest. Kurz danach stand "Helene Fischer" im gesamten deutschsprachigen Raum ja auch schon auf Platz eins.

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