Sexualität von türkischen Frauen:"Nicht alle sind unterdrückt"

In einem Buch sprechen türkische Frauen offen darüber, wie sie ihre Sexualität leben - ganz individuell, mit und ohne Kopftuch.

Hayal Düz

Zwangsverheiratung, Unterdrückung und sogenannte Ehrenmorde: Das sind die Themen, mit denen türkische Frauen oft in Verbindung gebracht werden. Die Wissenschaftlerin Hülya Adak und drei Kolleginnen wollten es genauer wissen. Innerhalb von sechs Jahren haben sie 50 türkische Frauen in Deutschland und der Türkei zu ihrer Sexualität befragt. Offen haben die Frauen Einblicke in ihr Intimleben gewährt. Sie berichten, was Sexualität für sie bedeutet und wie sie sie leben. Eine Auswahl der Geschichten haben die Wissenschaftlerinnen nun in ihrem Buch "So ist es, meine Schöne" veröffentlicht (Orlanda Verlag). Die SZ sprach mit Hülya Adak, Juniorprofessorin für Sozialwissenschaften an der privaten Sabanci-Universität in Istanbul.

Sexualität von türkischen Frauen: Straßenszene in München. Die teilweise recht einseitige Berichterstattung westlicher Medien über die Sexualität von Türkinnen empfindet die Wissenschaftlerin Adak als "eine Art Ausgrenzungsmechanismus".

Straßenszene in München. Die teilweise recht einseitige Berichterstattung westlicher Medien über die Sexualität von Türkinnen empfindet die Wissenschaftlerin Adak als "eine Art Ausgrenzungsmechanismus".

(Foto: Foto: dpa)

Süddeutsche Zeitung: Hülya Adak, in Ihrem Buch kommen 32 türkische Frauen zu Wort. Welche Geschichte hat Sie besonders berührt?

Hülya Adak: Es fällt mir schwer, mich für eine Geschichte zu entscheiden. Denn hinter jeder Erzählung verbirgt sich eine andere Lebenserfahrung. Die eine tragisch, die andere eher positiv. Aber wenn Sie ein Beispiel haben wollen, dann fällt mir zuerst die Geschichte von Sinem ein.

SZ: Der Fall eines Transvestiten, der Jahre braucht, um zu seiner Sexualität zu stehen.

Adak: Wegen ihrer sexuellen Orientierung hat Sinem, die heute als Frau lebt, physische und sexuelle Gewalt erfahren. Die Diskriminierung und Ausgrenzung begann schon in der Familie: Als Junge war Sinem der Verachtung und den Schlägen seiner Brüder ausgesetzt. Sie haben ihn in der Wohnung angekettet, tagelang hat er nichts zu essen bekommen. Ein anderer Bruder verhalf ihm zur Flucht und hat ihm so wohl das Leben gerettet. Letztlich hat er es nicht mehr ausgehalten, im Körper eines Mannes gefangen zu sein. Sinem kleidet und empfindet sich heute als Frau, einen Weg zurück in ein bürgerliches Leben gab es nicht. Sie lebt von der Prostitution.

SZ: Das ist eine sehr grausame Geschichte.

Adak: Ja, das stimmt. In den Geschichten geht es aber nicht nur um Gewalt. Innere Zerrissenheit, unterdrückte Sexualität, gleichgeschlechtliche Liebe spielen ebenso eine Rolle.

SZ: Sie bestreiten mit Ihren Geschichten auch Lesungen. Wie sind die Reaktionen im Publikum?

Adak: Sehr positiv. Das sehen wir an den hitzigen Diskussionen und auch an den Kommentaren und Einträgen in den Büchern, die wir am Ende jedes Abends herumreichen. Manchmal gibt es sehr emotionale Momente. Dann fließen sogar Tränen. Insgesamt tut es den Frauen gut, zu erfahren, dass es andere Frauen gibt, die die gleichen Probleme haben wie sie selbst. In der einen oder anderen Geschichte findet sich jede wieder. Bei unseren Lesungen haben sie die Möglichkeit, sehr offen über Themen zu sprechen, über die bislang geschwiegen wurde.

SZ: Sitzen auch Männer im Publikum?

Adak: Die Lesungen sind gemischt. Es kommen Frauen und Männer. Die Geschichten werden von Gästen aus dem Publikum vorgelesen - da kommt es durchaus auch vor, dass mal ein Mann an der Reihe ist. Indem sie die Geschichten vortragen und sich in die Rolle der Frauen versetzen, beginnen sie, Empathie zu empfinden. Zum Beispiel hat einmal ein Mann die Geschichte einer älteren Frau gelesen, die ihre Erfahrungen mit der Menopause schildert. Anschließend sagte er: "Jetzt weiß ich, was Menopause ist. Als sich meine Frau in der Menopause befand, konnte ich das gar nicht nachvollziehen."

SZ: Sie haben auch mit türkischen Frauen in Deutschland gesprochen. Leben Frauen in Deutschland und in der Türkei ihre Sexualität unterschiedlich?

Adak: Vielleicht werden Sie es nicht glauben, doch es gibt kaum Unterschiede. Die Probleme sind meist sehr ähnlich.

SZ: Die deutschen Medien berichten viel über sogenannte Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen von türkischen Frauen. Wie repräsentativ ist das?

Adak: Ich denke, dass diese Wahrnehmung nicht repräsentativ ist - und daher nicht richtig. In dem Buch gibt es einige Beispiele, die genau diese Vorurteile widerlegen. Aber natürlich werden Sie auch Biographien finden, in denen es um den Begriff der Ehre, um Jungfräulichkeit vor der Ehe und Zwangsverheiratung geht. Frauen, die so etwas erfahren, sind allerdings in der Minderheit. Ich verstehe unser Buch also auch als einen Versuch, das Klischee der türkischstämmigen Frau in den deutschen Medien in Frage zu stellen.

Religion und Sexualität

SZ: Sie plädieren für ein differenzierteres Bild der türkischen Frau.

Sexualität von türkischen Frauen: Die Sexualität türkischer Frauen ist keineswegs allein eine Geschichte von Zwangsverheiratung, Unterdrückung und Ehre, meint die Wissenschaftlerin Hülya Adak.

Die Sexualität türkischer Frauen ist keineswegs allein eine Geschichte von Zwangsverheiratung, Unterdrückung und Ehre, meint die Wissenschaftlerin Hülya Adak.

(Foto: Foto: oh)

Adak: Es ist ja nicht so, dass wir alle unterdrückt wären. Die Leser werden feststellen, dass es die türkische Frau nicht gibt, sondern dass unterschiedliche Frauen ihre Sexualität unterschiedlich leben - wie die deutschen Frauen auch. Die einseitige Berichterstattung empfinde ich als eine Art Ausgrenzungsmechanismus. Wenn in den Medien vor allem unterdrückte Türkinnen und Kurdinnen vorkommen, dann macht man sie damit zu Fremden.

SZ: Können Sie ein Beispiel nennen?

Adak: Im Buch erzählt eine junge Frau, die das Kopftuch trägt, über den Zwiespalt, in dem sie sich befindet. Zum einen möchte sie das Kopftuch tragen und das Leben einer Gläubigen führen. Auf der anderen Seite würde sie nicht auf Sex mit ihrem Freund verzichten wollen. Das ist ihre eigene Entscheidung.

SZ: Sie setzt sich in diesem einen Punkt also über das religiöse Gebot hinweg.

Adak: Ich finde, das Beispiel zeigt, dass Religion und Sexualität nicht im Widerspruch stehen müssen. Für diese Frau schließt das eine das andere nicht aus. In einer anderen Geschichte wiederum erzählen zwei verschleierte junge Frauen, dass sie ineinander verliebt sind - ohne sexuelle Zuneigung. Auch das ist möglich. Sie sehen, es ist ganz individuell, wie Sexualität definiert und gelebt wird - unabhängig von sozialer, religiöser oder ethnischer Herkunft.

SZ: Sind junge Türkinnen in Deutschland nicht in einem besonders großen Konflikt? Sie wachsen oft noch in einer traditionell geprägten Familie auf, aber eben auch in einem sehr liberalen Land.

Adak: Nach außen hin scheint es vielleicht so. Doch eigentlich leben sie alles in einem - Moderne und Tradition. Ihre Beziehungen draußen sind andere als in den Familien. Wir haben bewusst auch türkische Frauen in Deutschland befragt und herausgefunden: Das Leben in deutschen und in türkischen Großstädten unterscheidet sich nicht sehr. Wenn eine Frau aus dem konservativen Istanbuler Stadtteil Sultanbey in den moderneren Stadtteil Beyoglu fährt, dann bewegt sie sich von einer Welt in eine andere. Auf einmal findet sie sich in einem sehr liberalen und modernen Umfeld wieder - sie selbst ist vielleicht verschleiert, während neben ihr Frauen in Miniröcken herumlaufen. Dieser Konflikt ist nicht Deutschland-spezifisch. Diesen Kulturschock erleben die Frauen auch in den türkischen Metropolen.

SZ: Es gibt immer wieder Diskussionen darüber, dass türkische Eltern ihre Töchter nicht zum Sport-, Schwimm- und Sexualkundeunterricht schicken wollen...

Adak: Hier eine Lösung zu finden, das ist sicher nicht einfach. Man müsste die Eltern von der Notwendigkeit eines solchen Unterrichts überzeugen. Doch noch schwieriger und verwirrender ist die Situation für die Mädchen selbst. Auf der einen Seite wollen sie mit ihren Klassenkameraden schwimmen gehen, auf der anderen Seite erfahren sie zu Hause diesen Druck. Die meisten wehren sich nicht dagegen, weil das ihrer Erziehung widerspricht.

SZ: Gibt es Sexualkunde-Unterricht in der Türkei?

Adak: In der Türkei ist es nicht üblich, dass Kinder bereits im Grundschulalter in Sexualkunde unterrichtet werden, an einigen Gymnasien gibt es das dagegen schon. Ansonsten wird Sexualkunde im Rahmen des Lehramtstudiums an einigen Universitäten angeboten. Die Eltern klären ihre Kinder auch nicht auf. Sie sprechen nicht offen über diese Themen. Insofern gibt es unter Jugendlichen eine große Wissenslücke. Sie kennen weder Verhütungsmöglichkeiten noch Geschlechtskrankheiten. Das ist ein großes Defizit in unserem Bildungssystem.

SZ: Wie sind Sie selbst aufgeklärt worden?

Adak: Mit meinen Eltern habe ich nicht offen über Sexualität sprechen können. Erst auf dem Gymnasium wurde ich aufgeklärt. Das war allerdings das amerikanischen Robert-Gymnasium in Istanbul. Dort wird Sexualkunde als Teil des Biologieunterrichtes gelehrt.

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