Sexualität:Unfassbar: Auch Frauen über 50 haben Lust

Orgasmus

Nun ist es offiziell: Auch Frauen über 50 haben Lust.

(Foto: volkovslava - Fotolia)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass auch Frauen über 50 ein Recht auf eine erfüllte Sexualität haben. Ein Grund zur Freude - wäre nicht das Jahr 2017.

Von Violetta Simon

Man erinnere sich: Es gab eine Zeit, in der die Gesellschaft Frauen das Recht auf ihre sexuellen Bedürfnisse aberkannte. Das war in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Dass einer 50-Jährigen aufgrund ihres Alters das Recht auf eine erfüllte Sexualität abgesprochen wurde, ist gerade einmal drei Jahre her. Das zuständige Gericht befand sich nicht irgendwo auf der Welt. Sondern im EU-Land Portugal.

Die folgende Geschichte hat ein Ende, das man als glücklich bezeichnen könnte - die Frau bekam doch noch recht. Dennoch wäre es unangebracht, sich Maria Ivone Carvalho als eine glorreiche Siegerin vorzustellen. Aber der Reihe nach.

Lissabon 1995: Nur ein kleiner gynäkologischer Eingriff soll es werden. Maria Ivone Carvalho leidet an Bartholinitis, einer schmerzhaften Schwellung der Drüsen, die bei sexueller Erregung die Genitalien befeuchten. Ein paar Zysten würden entfernt, völlig problemlos vom Ablauf her, versichert der behandelnde Arzt der damals 50-Jährigen. Noch am selben Tag könne sie die "Alfredo Da Costa"-Frauenklinik verlassen.

Als Maria Ivone Carvalho wieder zu sich kommt, ist nichts mehr problemlos. Mehrmals hatten die Chirurgen bei der Unterleibs-Operation versucht, die Zysten zu entfernen. Der letzte Schnitt verletzt den linken Pudendusnerv. Dieser ist zuständig für den Schließmuskel von Darm und Blase, die äußeren Geschlechtsorgane. Die Folgen für Marias Körper und Seele sind verheerend.

Seit dem Eingriff im Mai 1995 leidet die Frau an starken Schmerzen und Inkontinenz. Kann ihren Beruf als Reinigungskraft nicht mehr ausüben, den Haushalt nicht mehr richtig führen. Geschlechtsverkehr? Undenkbar. Die Ehe zerbricht, es folgen Depressionen, Gedanken an Suizid kommen auf.

Die Portugiesin verklagt das Krankenhaus, gewinnt in erster Instanz. Im April 2000 werden der Klägerin zunächst 172 000 Euro zugesprochen - 80 000 Euro Schmerzensgeld und 92 000 Euro für den materiellen Schaden (davon 16 000 Euro für eine Haushaltshilfe).

40 000 Euro weniger - weil Sex unwichtig ist

Die Klinik geht jedoch in Berufung - mit Erfolg: Im Oktober 2014 senkt das Oberste Verwaltungsgericht die zugesprochene Gesamtsumme um 40 000 Euro - das Schmerzensgeld von 80 000 auf 50 000 Euro, die Entschädigung für die Haushaltshilfe von 16 000 auf 6000 Euro. Die zuständigen Richter berufen sich unter anderem auf die Tatsache, dass die Patientin zum Zeitpunkt der Operation bereits 50 Jahre alt war und Mutter zweier Kinder. In dem Alter, so heißt es wörtlich in der Begründung, sei Sex nicht so wichtig wie in jungen Jahren.

Carvalho sieht sich durch die Entscheidung des portugiesischen Gerichtshofs als Frau und Mutter doppelt diskriminiert - aus gutem Grund: Das portugiesische Gericht verhandelt in den Jahren 2008 und 2014 zwei ähnliche Fälle, die allerdings Männer betreffen. Diese hatten aufgrund von ärztlichen Kunstfehlern ihre Potenz eingebüßt. Das Gericht stellt - unabhängig von Alter und Vaterschaft - eine enorme Einschränkung und schwere psychische Belastung fest. Und gibt den Klägern Recht.

Carvalhos Anwalt, Vitor Manuel Parente Ribeiro, kündigt CNN gegenüber an, für die reproduktiven Rechte und die Würde seiner Mandantin bis vor die höchste Instanz zu ziehen. "Die Ironie an dem ganzen Fall ist, dass zwei Frauen den Vorsitz führten", sagt er gegenüber dem Schweizer Online-Portal 20minuten. Eine der beiden Richterinnen im Obersten Verwaltungsgericht ist zu dem Zeitpunkt 55.

Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das portugiesische Urteil mit fünf zu zwei Stimmen gekippt. Die Richter in Straßburg bestätigten, dass die Entscheidung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße. Der EGMR bestätigt damit nicht nur Carvalos Recht auf Sexualität und damit ihre Selbstverwirklichung als Frau. Er setzt auch ein Zeichen, dass die Sexualität von Frauen über 50 den gleichen Stellenwert hat wie die von Männern.

Niemand würde sich ernsthaft fragen, ob diese Entscheidung richtig war. Doch warum hinterlässt das Urteil dann einen solch bitteren Nachgeschmack? Weil man eigentlich dachte, dass man das hinter sich hätte.

22 Jahre nach der folgenschweren Operation, im Alter von mittlerweile 72 Jahren, kommt Maria Ivone Carvalho zu ihrem Recht. Wie gesagt, eine glorreiche Siegerin ist sie nicht. Aber ein Symbol dafür, dass der Kampf um Gleichstellung von Männern und Frauen, Alten und Jungen, noch lange nicht zu Ende ist.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: