Serie "Wie ich euch sehe": Alltag einer Rollstuhlfahrerin:"Ich frag' schon, wenn ich Hilfe brauche!"

so wie ich das sehe

Leidet unter Hilfsbereitschaft: die querschnittsgelähmte Susanne.

(Foto: Illustration: Jessy Asmus/SZ.de)

Danke, die junge Frau im Rollstuhl kann ihre Jacke selbst ausziehen. Und denken Sie nicht, Sie dürften sie anmachen. Eine Querschnittsgelähmte erklärt, warum.

Protokoll: Matthias Kohlmaier

In unserer neuen Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Kassiererin im Supermarkt, ein Zahnarzt, eine Polizistin oder ein Hochbegabter. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Susanne G. hatte vor drei Jahren einen Sportunfall und sitzt seitdem im Rollstuhl. Die 23-Jährige erklärt, was für sie schlimmer ist als ihre Lähmung.

Hilfsbereitschaft ist eine gute Sache. Doch für mich ist Hilfsbereitschaft manchmal eine Katastrophe. Ich stehe irgendwo und will meine Jacke ausziehen - das dauert bei mir ein bisschen, weil mein Rückenmark weit oben durchtrennt ist, so dass ich die Hände gar nicht und die Arme nur bedingt gebrauchen kann. Plötzlich zupft ein Fremder an mir herum und zieht mir die Jacke aus. Ich würde mich dann gerne lauthals beschweren, damit er merkt, dass ich nicht einverstanden bin. Andererseits darf ich eigentlich nicht motzen. Er meint es ja nur gut.

Das ist das wesentliche Problem daran, im Rollstuhl zu sitzen, von den nutzlosen Beinen mal abgesehen: Jeder sieht in mir das arme, kleine, hilflose Mädchen, dem man unbedingt irgendetwas Gutes tun muss. Oder das man zumindest fragen muss, ob man ihm nicht irgendetwas Gutes tun kann.

Wenn ich mit meiner Schwester in der Stadt unterwegs bin, dauert es nie lange, bis jemand fragt, ob er uns helfen könne. Grundlos, ohne Gefahr in Verzug, trotz Begleitung. Einfach, weil ich ganz offensichtlich in die Vorstellung von Hilfsbedürftigkeit passe, die viele haben. Dabei will ich, wie jeder andere erwachsene Mensch auch, alles selbst erledigen, was ich selbst erledigen kann. Wenn ich Hilfe brauche, kann ich fragen, ehrlich!

Unerträglicher als gut gemeinte Hilfsbereitschaft ist aber noch etwas anderes. Seit ich nicht mehr davonlaufen kann, sehe ich für manche Männer scheinbar wie eine leichte Beute aus. Ich meine das gar nicht im tätlichen Sinne, dass mich also jemand angrapscht oder so. Ich meine, dass sich Männer häufig einbilden, ich müsse für jede Aufmerksamkeit dankbar sein, nach dem Motto: "Die ist behindert, da habe ich leichtes Spiel!"

Nicht nur ein Junge, der vor meinem Unfall keine Chancen bei mir hatte, hat mir danach plötzlich Avancen gemacht und dabei das Selbstvertrauen des sicheren Siegers vor sich hergetragen. Nicht nur einer hat zu mir Sachen gesagt, wie: "Sei doch froh, dass dich einer kennenlernen will, wie du bist!"

Wenn ihr denkt, dass ein querschnittsgelähmtes Mädchen prinzipiell leicht zu haben oder zu Dankbarkeit verpflichtet ist, wenn sich einer für sie interessiert: Lauft doch bitte mit Schwung gegen die nächstbeste Wand! Ich bin nicht arm und klein und bedürftig. Ich bin eine junge Frau und will keine Almosen, von niemandem. Und ich muss auch nicht jeden Kerl nehmen.

Übrigens: Beim Abiball hatte ich in dieser Hinsicht freie Auswahl. Ich war als Begleitung sehr gefragt. Weil keiner Lust hatte zu tanzen.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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