Selbstversuch im Wasser:Ich schwimme übern See, übern See

Sommer, See, schwimmen

Ein kleines strampelndes Etwas mitten in der Natur: Das Schwimmen in einem See oder im Meer macht einem bewusst, wie winzig das menschliche Leben ist.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Lungenatmung, wurstförmiger Körper, dünne Haut: Eigentlich ist der Mensch nicht gemacht für das Wasser. Trotzdem sucht er seit jeher den Weg in Fluss und See. Beim Schwimmen kann er eins werden mit der Natur. Unser Autor ist tief ins Thema eingetaucht.

Von Thomas Hahn

Der Blick geht in eine unbestimmte Tiefe, die sich ausbreitet wie ein dumpfes, rätselhaftes Nichts. Keine Konturen, kein Schatten, nur Grün und unbewegtes Wasser. Es sieht fast so aus, als gehe es hier in die Unendlichkeit runter, aber das stimmt natürlich nicht. Irgendwo da unten, in dieser Stille, muss eine Welt mit Grund und Boden sein, mit Fischen und Pflanzen und vielleicht auch mit dem einen oder anderen Schiffswrack.

Dann geht der Blick wieder rauf. Über kleine, glitzernde Wellen hinweg in eine unbestimmte Höhe. In den Himmel rein, der in hellem Blau über See und Land steht, der mindestens genauso rätselhaft ist wie die Tiefe, aber durch den man tatsächlich in die Unendlichkeit steuern könnte, vorbei an Planeten und Sternen und sicher auch an dem einen oder anderen Raumschiffswrack.

Dann geht der Blick wieder in die Tiefe.

Dann geht er wieder in die Höhe, im stetigen Rhythmus von Atmung und Kraulschlag. Und die Gedanken gehen mit.

In die Tiefe, in die Höhe.

Immerzu, bis zum anderen Ufer.

Ich schwimme übern See, übern See. Übern Starnberger See, um es gleich zu sagen und dem Eindruck vorzubeugen, bei dieser Durchquerung handle es sich um ein Martyrium. Freiwasserschwimmen kann eine unangenehme, sogar gefährliche Sache sein. Vor allem im Meer, wo das Wasser eine unwägbare Gewalt ist, wo Strömungen, Wellen, Tiere den Schwimmern das Leben schwer machen können und zu viel Kühnheit einen hohen Preis hat.

Die offene See nicht unterschätzen

Gerade die Profis berichten immer wieder von schauerlichen Erlebnissen auf offener See. Vor drei Jahren starb der US-Freischwimmer Fran Crippen beim Weltcup im arabischen Emirat Fudschaira an Kreislaufversagen im zu warmen Wasser. Erst vor wenigen Tagen übernahm sich die Extremsportlerin Susan Taylor, als sie die 34 Kilometer breite Meerenge des Ärmelkanals zwischen Cap Gris-Nez und Dover durchschwimmen wollte. Sie starb. Auch das Süßwasser unterschätzt man als Schwimmer besser nicht.

Aber der Starnberger See ist an diesem Tag ein sehr braves Gewässer. Glatt wie ein Spiegel liegt er zwischen Berg und Wald, bei 19 Grad Wassertemperatur. Unter solchen Bedingungen ertrinkt man normalerweise nicht so leicht. Zumal ich meinen Wohlstandskörper in einen gut vernähten Neoprenanzug gezwängt habe, der nicht nur Krämpfen und Auskühlen vorbeugt, sondern auch für einen beträchtlichen Auftrieb sorgt. Und die Strecke selbst erfordert keineswegs eine Herkules-Leistung. Ungefähr 2,5 Kilometer sind es von Ambach bis nach Bernried am anderen Ufer, echte Freiwasser-Liebhaber können über solche Miniatur-Aufgaben nur lachen. Aber es muss ja auch nicht alles immer gleich eine Herausforderung sein, eine Überstrapaze oder Grenzerfahrung. Man darf auch mal einfach nur deshalb was machen, weil man es eben machen kann, weil man wissen will, wie sich was anfühlt.

Sein eigener Motor sein

Es geht eine besondere Faszination aus von der Vorstellung, sich aus eigener Kraft irgendwohin zu bewegen. Sein eigenes Fortbewegungsmittel zu sein, sein eigener kleiner Schaufelraddampfer - das bringt einen näher an die Natur heran, in diesem Fall an den See und sein Wasser. Außerdem zieht es den Menschen ja unweigerlich ins Wasser. Er kann praktisch gar nicht anders, als dorthin zu gehen, wo es nass ist.

So zumindest kann man die amerikanische Journalistin Lynn Sherr verstehen, die ein unterhaltsames Buch über ihre eigene Leidenschaft geschrieben hat. Das Buch heißt: "Swim. Über unsere Liebe zum Wasser." Es ist eine Schwärmerei, aber es ist auch die kulturgeschichtliche Betrachtung einer Übung, für die der Mensch mit seinem sperrigen Körper und seiner Lungenatmung eigentlich gar nicht besonders gut geeignet ist, die er aber trotzdem mit großer Beharrlichkeit ausführt. Es gibt viele Wesen auf dieser Erde, die mehr Talent haben für die Fortbewegung im Wasser, aber das ist dem Menschen egal. Er will da rein.

Er wirft sich in Flüsse, Weiher, Seen, Meere, und wenn nichts davon greifbar ist, wirft er sich in künstliche Becken, die er mit Chlorwasser gefüllt hat, und schwimmt darin hin und her. Wenn man Lynn Sherr und ihren Interview-Partnern glauben darf, folgt er dabei einem Instinkt. Der Mensch stammt vom Fisch ab, wenigstens indirekt - so steht es im Buch. Der Evolutionsbiologe Neil Shubin sagt: "Der Fischanteil in uns steckt wirklich sehr tief, er ist in die Grundstruktur unseres Körpers eingeschrieben."

Der Mensch ist (k)ein Wasserwesen

Wenn ich schwimme, merke ich davon wenig. Es ist ein ästhetisches Vergnügen, guten Schwimmern beim Schwimmen zuzusehen. Wie elegant sie durch die Fluten flitzen, wie scheinbar mühelos sie den Widerstand des Wassers zum Vortrieb nutzen, wie harmonisch alle ihre Bewegungen ineinanderfließen. Viele Spitzenschwimmer sagen, das Wasser sei ihr natürlicher Lebensraum, gerade Paralympics-Teilnehmer tun das. Vielen von ihnen kommt es so vor, als könnten sie am Beckenrand ihre Körperbehinderung abgeben. Und der amerikanische Rekord-Olympiasieger Michael Phelps galt vielen Betrachtern als menschliches Wasserwesen - mit seinem extrem beweglichen Schwimmerkörper lief er an Land ständig Gefahr, sich zu verletzen.

Ich bin kein Wasserwesen. Das hat mir mal eine befreundete Schwimmlehrerin bestätigt, die meine Kraultechnik einer fairen, aber schonungslosen Analyse unterzog. Ich bedaure das ein bisschen, dass ich kein guter Schwimmer bin, weil das Wasser wirklich ein schönes Element ist, gerade wenn man nicht mehr ganz so drahtig ist wie vor zwanzig Jahren. Wasser hat keine Balken; was an Land schmerzt, tut dort nicht mehr weh. Man kann die Knochen schonen und sich trotzdem ein bisschen verausgaben. Aber wenn man die Technik nicht gut beherrscht, wenn man die Arme nicht mit der nötigen Präzision durchs Wasser führt oder der Rumpf mangels Beinschlag durchhängt, dann lässt einen das Wasser eben nicht so schön dahingleiten wie die guten Schwimmer und man fühlt sich irgendwie gebremst. Andererseits: Kann nicht auch das mal egal sein? Hat es nicht etwas mit Gelassenheit zu tun, wenn man auch mal was tut, obwohl man gar nicht gut ist darin?

Lynn Sherr schreibt: "Schwimmen wurde nicht irgendwann von einem tapferen Einzelnen erfunden, es war schon immer da." Aber der Mensch hat Jahrtausende gebraucht, um herauszufinden, wie man sich am effektivsten durchs Wasser bewegt. Schwimmen ist heute eine hochwissenschaftlich ausgeleuchtete Sportart, in der sich der Weltrekord bei den Männern über 100 Meter Freistil binnen eines Jahrhunderts um fast 20 Sekunden verbessert hat; 1905 schwamm der Ungar Zoltán Halmay die Distanz in 1:05,8 Minuten, der Brasilianer César Cielo Filho 2009 in 46,91 Sekunden. Zwischendurch schnellten die Besten in Hightech-Anzügen durchs Chlorwasser, die Hai-Häute imitierten und die Körper der Schwimmer stromlinienförmig zusammendrückten. An die 200 Weltrekorde brachte das, ehe der Weltverband die Materialschlacht mit Verboten beendete.

Mut zur Umständlichkeit

Davor allerdings schwamm der Mensch ohne höchste Ansprüche ans Tempo. Julius Cäsar soll einst schwimmend vor den Ägyptern geflohen sein - mit Schwert und Umhang zwischen den Zähnen, in einer Hand wichtige Papiere über Wasser haltend. Die Sagengestalt Beowulf kämpfte sich angeblich im Kettenhemd durchs Eismeer. Und die ersten spektakulären Schwimmleistungen des Abendlandes vollzogen sich in der Brusttechnik, die von den vier Grundschwimmarten des modernen Wassersports die langsamste ist: Auf diese etwas betuliche Art durchschwamm zum Beispiel der britische Kapitän Matthew Webb 1875 als Erster den Ärmelkanal. In der Geschichte des Schwimmens zeigte man also lange Mut zur Umständlichkeit, und deshalb habe ich jetzt auch kein Problem damit, dass meine Beine schon wieder unkoordiniert vor sich hin wassertreten, als hätten sie mit dem Rest meiner Bemühungen überhaupt nichts zu tun.

Ich pflüge durch den See mit meiner unvollkommenen Kraultechnik, ohne Blick nach vorne, nach hinten oder nach rechts, weil ich nur nach einer Seite hin atmen kann. Manchmal bringt ein entfernter Touristendampfer oder ein Motorboot den See in Bewegung, dann spielt er mit mir wie mit einer Nussschale, und ich muss kleine Wellen rauf- und runterschwimmen. Größere Zumutungen gibt es nicht, und ich überlege, ob es nicht auch mal das Abenteuer wert wäre, mit meinem hässlichen Neoprenanzug bei Sturmwarnung nach Bernried zu schwimmen, wenn der See kalt und rau und aufgeworfen ist. Oder ob das ein Unsinn wäre, den man sich als Freund des Ausdauersports in der Theorie viel zu einfach denkt.

Bahn zwischen Himmel und Erde

Ich versuche, möglichst ruhig zu atmen und gleichmäßig eine Hand vor die andere zu setzen. Aber ein bisschen mühe ich mich doch ab, und zwischendurch fühlt sich alles vergeblich an. Ich schaue in die mächtige, regungslose Tiefe. Ich schaue in die unendliche, unbewegte Höhe, und es kommt mir so vor, als würde ich auf der Stelle schwimmen. Im Schwimmbad kann man sehen, wie die Kacheln vorbeiziehen und die Fenster der Halle. Hier draußen, in der Mitte des Sees, zieht nichts vorbei. Im Augenwinkel liegen die Zacken der Berge hinter Seeshaupt und der Bug des Begleitruderbootes, das es dringend braucht, weil man sonst als Kraulschwimmer, der nur zur Seite atmen kann, leicht die Orientierung verliert in der Weite des Sees. Sonst ist da nicht viel. Ich prügle mir die Arme wund, und drumherum ruhen Himmel und See, als wäre nichts. Es stimmt schon, dass die Romantik des Freiwasserschwimmens in diesen Augenblicken ein bisschen kleiner ist, als sie es später sein wird, wenn ich wieder an Land bin und den anderen von meinem Ausflug erzähle, der ohne Zurückrudern 51 Minuten gedauert hat.

Aber das braucht's manchmal: ein kleines strampelndes Etwas zu sein in einer Natur, die sich in ihrer ganzen Größe nach oben und unten hin auftürmt. Dieses seltsame Element Wasser hält dich auf einer Bahn zwischen Himmel und Erde. Und wenn du so dahinschwebst auf dieser Bahn, gierig die Luft einsaugst und sie im nächsten Augenblick wieder in eine Tiefe bläst, die du keine vier Minuten überleben könntest, wenn es dich in sie hinunterziehen würde. Wenn du also übern See schwimmst - dann kriegst du einen ganz guten Eindruck davon, wie winzig dein Leben ist vor dem ganzen großen Rest.

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