Selbstverletzendes Verhalten:Wenn die Seele blutet

  • Mehr als 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland verletzen sich regelmäßig selbst.
  • Leistungsdruck und Überforderung sind häufige Auslöser. Vorwürfe und Kontrollen von Eltern oder Freunden verschlimmern die Situation.
  • Das "Ritzen", wie viele Betroffene es nennen, macht schnell abhängig. Sogenannte "Skills", Ersatzhandlungen, können der Sucht entgegenwirken.

Von Manuel Stark

Ein erdrückendes Gefühl. Es schlägt auf den Magen. Würgt den Hals. Das Herz trommelt. Der Wahnsinn - er kommt. Ein Gedanke an Flucht. Ein Blick auf die Schere. Ein schneller Schnitt. Blut. Tiefrot. Dann Ruhe. Der Druck ist weg. Sandra ist wieder frei.

Bis zu 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland, das geht aus Schätzungen von Ärzteverbänden hervor, verletzen sich selbst. Manche drücken glimmende Zigaretten auf ihrer Haut aus, andere schlagen ihren Kopf gegen harte Gegenstände. Die meisten schneiden sich selbst. Mit Scheren, Rasierklingen, Scherben. Alles was dem Zweck dient, wird benutzt.

"Wir wissen nicht für jeden Einzelfall, wie man auf die Idee kommt, sich selbst zu verletzen. Fast immer ist es aber eine Methode zur Emotionsregulation", sagt Paul Plener, leitender Oberarzt der Uniklinik Ulm. Als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie beschäftigt er sich häufig mit selbstverletzendem Verhalten. "Oft haben Betroffene sich das Verhalten von anderen abgeschaut", sagt er. Manchmal durch Kontakte in der Schule oder im Verein, oft von der besten Freundin oder dem besten Freund.

Erlösung vom "Terror der Seele"

So fing es auch bei Sandra an. Eine Freundin erzählte der 17-Jährigen davon, wie gut es tue, sich selbst kleine Schnitte zuzufügen. Wie sehr das helfe, bei zu viel Druck. "Ritzen" nannte sie das. Sandra hielt sie für eine Spinnerin. Was soll gut daran tun, sich selbst zu verletzen, fragte sie sich.

Nun hat Sandra selbst drei Schnitte am Oberschenkel. Feine rote Linien, etwa drei Zentimeter lang. Die mittlere ist frisch verschorft. Eine blasse Narbe am rechten Oberarm, kaum einen Zentimeter lang, erinnert an ihr erstes Mal.

Es passierte vor etwa einem Jahr. "In der Schule lief es schlecht. Immer wieder bescheuerte Debatten mit meinen Eltern. Im Freundeskreis Zoff, wenn ich gesagt habe, dass ich lernen muss. Ich konnte es niemandem Recht machen", erzählt Sandra. Als dann noch der Junge, in den sie damals verliebt ist, sie am Telefon mit den Worten "Ist ja nicht mein Problem, wenn du was von mir willst", zurückweist, wird es zu viel. "Ich war so hilflos, richtig ausgeliefert. Mir wurde schlecht und vor lauter Gefühlen konnte ich fast nicht mehr klar denken. Ich war davon überzeugt, wahnsinnig zu werden."

In dieser Situation erinnert sie sich an das Gespräch mit ihrer Freundin. Von einer "schimmernden Erlösung vom Terror der Seele", hatte die erzählt. Sie greift nach der Schere auf ihrem Schreibtisch. Ein kurzer Schnitt. Schmerz. Die Trauer ist weg. "Es hat nur ein bisschen geblutet. Ein geringer Preis, für das Gefühl am Leben zu sein", sagt Sandra.

Selbstvergiftung durch ständige Vergleiche

Situationen wie diese werden Claudia Ortloff häufig geschildert. Die Sozialpädagogin des Caritasverbandes betreut ein Projekt zu selbstverletzendem Verhalten und kennt das Gefühl der Ohnmacht, das bei den meisten im Vordergrund stehe. "Die Betroffenen fühlen sich von Ansprüchen überfordert", sagt sie. Das Schneiden sieht Ortloff als Selbstanklage, gefördert durch das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Indem Betroffene ihrem eigenen Körper Schaden zufügen, geben sie dieser Anklage nach. Der psychische Druck verschwindet, wenn auch nur kurzzeitig.

Sandra fährt mit ihrem linken Zeigefinger über die blasse Narbe an ihrem rechten Oberarm. Eine einmalige Sache, dachte sie damals. Inzwischen hat sie ein dutzend solcher Male. Die meisten an Beinen und Armen. Dort kann sie sie leichter verstecken.

Das summende Handy reißt Sandra aus ihrer Trance. Auf dem Display erscheint die Nachricht einer Freundin. "14 Punkte in der Geschichte-Klausur" Sandra zögert, ehe sie zu tippen beginnt. "Super! Freu mich", schreibt sie zurück. Sie hat neun Punkte.

Wenige Meter entfernt leuchtet der Bildschirm ihres Computers im Facebook-Blau. Ihre Freundin Jessica feiert den ersten Jahrestag ihrer Beziehung. Tim hat endlich sein Praktikum bei einer berühmten Computer-Spielefirma bekommen. Sandra zuckt mit den Schultern. "Es tut einfach weh zu sehen, wie gut es bei anderen läuft. Wieso versage immer nur ich?" Frustriert wirft sie das Handy aufs Bett, ehe sie sich selbst schwerfällig auf der Matratze niederlässt. Auch sie bewarb sich schon als Praktikantin bei verschiedenen Firmen. Und wurde abgelehnt. Drei Mal.

Scheinwelt fördert Minderwertigkeitsgefühle

Ortloff kritisiert den Drang zum ständigen Vergleich, der durch soziale Netzwerke entsteht. "Das ist eine bösartige Selbstvergiftung", sagt die Sozialpädagogin. Die Scheinwelt lückenloser Erfolge fördere Minderwertigkeitsgefühle und somit selbstverletzendes Verhalten.

Dem stimmt auch der Ulmer Psychiater zu. Emotional aufgeladene Bilder und Texte könnten "durchaus als gefährdend" bezeichnet werden. Betroffene, so Pleners Empfehlung, sollten auch einschlägige Foren, in denen selbstverletztendes Verhalten thematisiert wird, unbedingt meiden. Doch was ist am Austausch mit Leidensgenossen falsch? Auf den Plattformen fänden sich unzählige "Trigger", wie Plener sie nennt. Trigger sind beispielsweise Bilder von Selbstverletzungen oder depressive Texte. Schlüsselreize, die eine negative Gefühlslage hervorrufen und den Betroffenen auch nach längerer Zeit rückfällig werden lassen.

Auf den Schnitt folgt die Enttäuschung

Minutenlang sitzt Sandra auf ihrem Bett. Hält ihr Gesicht in den Händen vergraben. Sie hat schon oft versucht, mit dem Schneiden aufzuhören. "Letzten Endes habe ich doch immer wieder versagt. Jeden enttäuscht, der sich auf mich verlassen hat", murmelt sie, das Gesicht noch immer versteckt. Wäre sie jetzt allein, sie würde wieder zur Klinge greifen. "Das ist keine Entscheidung, es geschieht einfach und ich kann in diesem Moment nicht anders." Selbst wenn es eine Entscheidung wäre, Sandra weiß nicht, ob sie den Willen aufbringen könnte, auf das befreiende Gefühl der Schnitte zu verzichten. Es ist so viel leichter, einfach nachzugeben.

Zumindest für den Augenblick. "Danach bin ich enttäuscht, von mir selbst und meiner eigenen Schwäche", sagt Sandra. Unter einem Kissen zieht sie einen kleinen Kuschelbären hervor und drückt ihn fest an ihre Brust. Lebt die Schwäche aus, die sie so oft verborgen hält, genau wie die roten Linien auf ihrer Haut.

Plener kennt solche Gedanken von seinen Patienten. Es sind Geschichten einer erdrückenden Last, die mit dem Schneiden abfällt. Doch die blutrote Freiheit ist trügerisch. "Wenn ich immer wieder den Eindruck habe, dass es hilft, verfalle ich leicht in einen Automatismus", sagt Plener. Mit anderen Worten: Man wird süchtig. Sieht in emotionsgeladenen Momenten keinen anderen Ausweg mehr. Ist kaum mehr zur Reflexion fähig.

Mit "Skills" aus der Sucht

Wenn Eltern oder Freunde mit Vorwürfen oder Kontrollversuchen reagieren, sei das daher falsch. Das sieht auch Sozialpädagogin Ortloff so. "Es geht darum, eine respektvolle Neugier zu zeigen. Durch Vorwürfe verschlimmert man die Probleme nur." Doch was können Betroffene selbst tun? Langfristig helfe es, sich mit Sport oder kreativen Tätigkeiten einen Ausgleich zur eigenen Gefühlswelt zu schaffen. Als hilfreichste Methode in kritischen Situationen nennt Ortloff spezielle "Skills". Das Beißen in eine scharfe Chilischote kann ein solcher Skill sein. Eine Ersatzhandlung, die den Schmerz nachahmt, ohne zu verletzen.

Erneut summt das Handy. Es ist die Freundin, die sich auch regelmäßig ritzt. Sie habe eine neue Möglichkeit entdeckt, um davon loszukommen. Keine Chilischote, die beiden Freundinnen mögen nichts Scharfes. Sandra legt den Bären zurück auf das Kissen und verlässt ihr Zimmer, das Telefon noch immer am rechten Ohr.

Sie grinst, als sie nach wenigen Minuten zurückkommt. Die rechte Hand hält sie auf ihren linken Unterarm gepresst. "Es funktioniert wirklich!", ruft sie und lacht. Dann streckt sie ihren Arm vor und zeigt stolz einen Eiswürfel. "Wenn man sich auf die Kälte konzentriert, ist das fast wie ein kleiner Schock", sagt Sandra und lässt das schmelzende Stück Eis über ihre Handfläche gleiten.

Lange hatte sie zu viel Angst vor einem neuen Versuch, mit dem Ritzen aufzuhören. Zu viel Angst davor, wieder zu scheitern, zu versagen. Sandra schließt ihre Faust um das verbliebene Stück Eis. Die Kälte tut ihr gut. Diesmal will sie es schaffen. Unbedingt.

Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de.) Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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