Selbstbestimmtes Sterben:Mein Tod gehört mir

Udo Reiter

Udo Reiter war 20 Jahre Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks.

(Foto: picture alliance / dpa)

Wer mit seinem Leben abgeschlossen hat, soll sich nicht vor den Zug werfen müssen. Das meinen auch 70 Prozent der Deutschen, die sich für ein ein Recht auf eine menschenwürdige Beendigung des Lebens aussprechen. Ein Plädoyer für das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

Ein Gastbeitrag von Udo Reiter

Im August erschoss sich der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ("Tschick") in Berlin am Ufer des Hohenzollerkanals. Herrndorf litt an einem unheilbaren Hirntumor; er hatte nach mehreren Operationen und Chemotherapien beschlossen, sein Leben selbst zu beenden. Das konkrete Umsetzen dieses Entschlusses empfand er als überaus schwierig und qualvoll. Es war, schrieb er, "eines zivilisierten mitteleuropäischen Staates nicht würdig" - eine Erfahrung, die offenbar viele der 10.000 Menschen machen, die sich in Deutschland jährlich für den Freitod entscheiden. Sie werden weitgehend alleingelassen.

Rat und konkrete Hilfe gibt es nur in einer juristischen Grauzone, die den gutwilligen ärztlichen Helfer leicht in Schwierigkeiten bringt. Normale Sterbewillige, die keine Kontakte zu liberalen, risikobereiten Medizinern haben, beenden selten ihr Leben in Würde und ohne unnötiges Leid. Sie müssen aus Fenstern springen, an Brückenpfeiler fahren oder - das macht die Hälfte dieser jährlichen Zehntausend - sich an Bäumen oder Fensterkreuzen aufhängen. Drei werfen sich pro Tag vor einen Zug.

Neuen Umfragen zufolge meinen mehr als 70 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass es ein Recht auf eine menschenwürdige Beendigung des Lebens geben müsste und dass dem allseits akzeptierten Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod zu entsprechen habe. Angesichts dieser Stimmungslage ist es bemerkenswert, dass sich keine politische Partei um das Thema kümmert. Die Mehrheitsmeinung wird seit Jahren von einer Allianz aus Kirchenvertretern, Ärztefunktionären und Politikern in Schach gehalten. Erst in jüngster Zeit hat dieses Kartell einige Risse bekommen. Dass jetzt sogar der katholische Theologe Hans Küng das Recht auf Sterben einfordert ("Ich will nicht als Schatten meiner selbst weiterexistieren"), könnte nun endlich Bewegung in die Debatte bringen.

Entschluss in freier Entscheidung

Worum geht es? Es geht nicht darum, dass in Hospizen und auf Palliativstationen Sterbenden, soweit möglich, ihre Schmerzen genommen werden und die letzten Tage und Wochen eines erlöschenden Lebens einfühlsam begleitet werden. Das ist gut und richtig. Es geht auch nicht darum, dass im Falle einer tödlichen Erkrankung lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen werden, wenn der Patient es so verfügt hat. Auch das ist segensreich und sinnvoll.

Es geht um Menschen, die nicht todkrank sind, aber in freier Entscheidung zu dem Entschluss kommen, nicht mehr weiterleben zu wollen, sei es, weil sie wie Küng den Verlust ihrer Persönlichkeit im Altwerden nicht erleben wollen, sei es, weil sie einfach genug haben und, wie es im ersten Buch Moses heißt, "lebenssatt" sind. Diese Menschen werden in unserer Gesellschaft alleingelassen. Sie müssen sich ihr Ende quasi in Handarbeit selbst organisieren. Das kann nicht so bleiben. Für diese Menschen muss es Notausgänge geben, durch die sie in Würde und ohne sinnlose Qualen gehen können.

Seit 47 Jahren im Rollstuhl

Ich möchte das an meinem Beispiel deutlich machen. Ich sitze seit 47 Jahren im Rollstuhl und habe trotzdem ein schönes und selbstbestimmtes Leben geführt. Irgendwann wird es zu Ende gehen. Aber wie? Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen. Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern. Und ich möchte ganz allein entscheiden, wann es so weit ist und ich nicht mehr will, ohne Bevormundung durch einen Bischof, Ärztepräsidenten oder Bundestagsabgeordneten.

Und wenn ich das entschieden habe, möchte ich mich ungern vor einen Zug rollen oder mir, wie das verschiedentlich empfohlen wird, eine Plastiktüte über den Kopf ziehen, bis ich ersticke. Ich möchte auch nicht in die Schweiz fahren und mich dort auf einem Parkplatz oder in einem Hotelzimmer von Mitarbeitern der Sterbehilfe Exit einschläfern lassen. Ich möchte bei mir zu Hause, wo ich gelebt habe und glücklich war, einen Cocktail einnehmen, der gut schmeckt und mich dann sanft einschlafen lässt.

Wie eine Änderung der Gesetze aussehen könnte

Dazu brauche ich Hilfe, am besten ärztliche Hilfe. Um diese Hilfe risikofrei möglich zu machen, braucht es eine Änderung unserer Gesetze, und zwar in eine Richtung wie sie die Niederlande, die Schweiz, der US-Staat Oregon und vor allem Belgien eingeschlagen haben. Aktive Sterbehilfe muss möglich und erlaubt sein, wenn jemand dies ernsthaft und aus eigener Entscheidung will. Niemand soll gezwungen sein, gegen seinen Willen ein Leben weiterzuführen, das er nicht mehr leben will.

Natürlich gibt es Einwände. Man kann Missbrauch befürchten und man kann die Sorge haben, dass eine solche Liberalisierung Schleusen öffnet, die nicht mehr zu schließen sind. Man muss diese Bedenken ernst nehmen, aber sie können nicht die letzte Antwort sein. Die Möglichkeit eines Missbrauchs kann nie ein Argument gegen eine Sache selbst sein - man muss versuchen, den Missbrauch zu verhindern. Dass dies geht, zeigen die Erfahrungen in den genannten Ländern. Auch ausufernde Selbsttötungswellen hat es dort nicht gegeben.

Dass es Ärzte gibt, die aus ihrem beruflichen Selbstverständnis heraus an einem Suizid nicht mitwirken möchten, ist selbstverständlich zu respektieren. Hier könnte es eine Lösung sein, solche Hilfestellungen in eigenen Einrichtungen wie den Sterbehilfeorganisationen Exit oder Dignitas anzubieten. Dort können sich die engagieren, denen solche Dienstleistungen am Herzen liegen. Der gern erhobene Vorwurf, hier würde mit der Not von Menschen Geld verdient, und das müsse um jeden Preis verhindert werden, ist absurd. Jedes Krankenhaus und jede Arztpraxis ist auch ein Unternehmen, das für seine Dienstleistung Geld nimmt. Warum soll das bei der Sterbehilfe verwerflich sein? In diesem Zusammenhang: In Deutschland werden jedes Jahr an die 100.000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, also Embryonen getötet. Das bezahlen die Krankenkassen. Warum soll es bei der Sterbehilfe nicht so gehen?

Ein anderer Einwand wiegt schwerer. Wer garantiert, dass der Entschluss eines Sterbewilligen nicht nur aus einer vorübergehenden depressiven Verstimmung oder einer momentanen Mutlosigkeit resultiert? Die Antwort lautet: Niemand garantiert das. Es ist die Konsequenz der Freiheit, auch Fehlentscheidungen treffen zu können. Dieses Risiko ist unaufhebbar mit einer freien Gesellschaft verbunden. Es kann nicht das Argument dafür sein, dass andere festlegen, ob und wann wir über uns entscheiden können. Das Prinzip der Selbstbestimmung sollte auch am Ende des Lebens gelten.

Udo Reiter, 69, war 20 Jahre lang Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks. Seit einem Autounfall 1966 ist er querschnittsgelähmt. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem päpstlichen Gregoriusorden.

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