Sechs Millionen Zuckerkranke in Deutschland:Volksseuche Diabetes

Heute stirbt kaum noch ein Diabetiker am hohen Blutzucker. Dennoch drohen Gefahren: Arteriosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall

Manuela Arand

Zucker, genauer gesagt Traubenzucker (Glukose), ist für den Körper unverzichtbar. Jeder Muskel, jedes Organ, sogar das Gehirn ist auf diesen Treibstoff angewiesen. Die Glukose gewinnt der Körper aus Kohlenhydraten, die er mit der Nahrung aufnimmt. Vom Darm aus gelangt der Zucker dann über den Blutweg zu den Organen und wird dort in die Zellen eingeschleust. An dieser Stelle kommt das Hormon Insulin ins Spiel: Es reguliert die Glukoseaufnahme der Zellen, vor allem in der Leber und in den Muskeln. Wenn Insulin an die Rezeptoren auf der Zelloberfläche andockt, bedeutet das: Schleusen auf für Glukose.

Diese Funktion des Insulins ist nicht nur wichtig für die Zellen, damit sie ausreichend Glukose bekommen, sondern sorgt auch dafür, dass der Blutzuckerspiegel nur innerhalb gewisser Grenzen schwankt. Beginnt der Spiegel beispielsweise nach dem Essen zu steigen, schüttet die Bauchspeicheldrüse sofort Insulin aus, um die hereinkommende Glukose rasch wieder aus dem Blut verschwinden zu lassen.

Zu hohe Zuckerspiegel schaden nämlich den Arterien, den Organen und dem Nervensystem. Deshalb erleiden Diabetiker häufig Folgekomplikationen beispielsweise an Herz und Kreislaufsystem, an der Niere und den Augen. Ein Diabetiker ist ebenso gefährdet, einen Herzinfarkt zu erleiden, wie ein Herzkranker, der den ersten Infarkt schon hinter sich hat.

Woher "weiß" nun aber die Bauchspeicheldrüse, wie viel Insulin gebraucht wird? Das wird über Messfühler geregelt, die durch Nervenimpulse und Botenstoffe Rückmeldung geben, wie viel Glukose sich im Blut befindet. Ab einem Blutzucker von zwei bis vier Millimol pro Liter wird die Insulinsynthese angekurbelt, ab vier bis sechs Millimol wird das Hormon dann in die Blutbahn ausgeschüttet.

Typ-2-Diabetes hatte früher fast niemand

So läuft es jedenfalls, wenn alles richtig funktioniert. Bei Diabetikern ist das System jedoch aus dem Tritt geraten, entweder weil die Bauchspeicheldrüse nicht mehr genügend Insulin zur Verfügung stellen kann -man spricht dann vom Typ-1-Diabetes - oder weil die Gewebe nicht mehr richtig auf das Hormon ansprechen. Das ist dann ein Typ-2-Diabetes.

Der Diabetes vom Typ 2 war bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ausnahme - die meisten Diabetiker litten am Typ 1, der schon in sehr jungen Jahren ausbricht. Deshalb nannte man ihn früher auch "juvenilen Diabetes", um ihn vom sogenannten Altersdiabetes, dem Typ 2, abzugrenzen. Das hat sich radikal geändert.

Der Typ-2-Diabetes macht heute 95Prozent aller Diabeteserkrankungen aus. Von Altersdiabetes spricht niemand mehr, seit die Erkrankung immer jüngere Jahrgänge ergreift und mittlerweile auch schon bei Kindern auftritt. Der Grund liegt wie so oft im Lebensstil: Übergewicht und Bewegungsmangel finden sich heute schon bei Kleinkindern, die stundenlang passiv vor dem Fernseher sitzen statt herumzutoben. Dass in den Schulen der Sportunterricht oft als Erstes dem Lehrermangel zum Opfer fällt, verschärft das Problem weiter. Wenn aus den Kindern Jugendliche werden, haben sie sich oft schon so an das sitzende Dasein gewöhnt, dass natürlicher Bewegungsdrang und Sport kaum noch Chancen haben.

Und was hat das mit dem Diabetes zu tun? Übergewicht und ein Mangel an Bewegung zählen -neben der erblichen Veranlagung -zu den wichtigsten Ursachen der sogenannten Insulinresistenz, der Unempfindlichkeit der "Zielorgane" Leber, Muskeln und Fettgewebe gegen die Signalwirkungen des Insulins. Etwa 80 Prozent aller Typ-2-Diabetiker weisen mehr oder minder massives Übergewicht auf, wenn die Diagnose gestellt wird!

Das Fettgewebe, so weiß man heute, nimmt sehr aktiv am Stoffwechsel teil: Es sendet einen ganzen Haufen von Botenstoffen aus, die verschiedene Regelkreise beeinflussen (unter anderem übrigens auch Hunger und Appetit). Als besonders aktiv tut sich dabei das Fett hervor, das im Bauch die inneren Organe umgibt - es ist in puncto Diabetes und Gesundheitsschäden sehr viel gefährlicher als die Pölsterchen an Hüften und Oberschenkeln. Manche Botenstoffe aus dem Fettgewebe sind in der Lage, die Insulinwirkung abzuschwächen.

Hinzu kommt, dass auch die Muskeln Fett einlagern und nicht mehr so gut durchblutet sind, wenn sie wenig benutzt werden - auch das hindert Insulin daran, voll zur Wirkung zu kommen. Die Folge: Es wird immer mehr Insulin benötigt, um die Glukose in die Zellen zu bringen. Der Bauchspeicheldrüse gelingt es lange Zeit, den ständig steigenden Insulinbedarf zu befriedigen, aber irgendwann erschöpft sich ihre Kapazität. Der Blutzuckerspiegel steigt immer höher, vor allem nach den Mahlzeiten, und kann nur noch verzögert wieder auf Normalwerte gebracht werden.

Beim Typ-1-Diabetes dagegenspielt Vererbung eine zentrale Rolle: Ist ein Elternteil Diabetiker, wird das Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa fünf Prozent ebenfalls zuckerkrank. Sind beide Eltern Diabetiker, steigt das Risiko schon auf 20 bis 25 Prozent. Zu diesen Erbanlagen kommen Umweltfaktoren hinzu, zum Beispiel Virusinfektionen. Diese machen aus der Veranlagung die Krankheit Diabetes, indem sie das Immunsystem auf die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse und auch auf das Insulin selbst hetzen. Zellen und Hormon werden zerstört.

Während die Bauchspeicheldrüse beim Typ-1-Diabetes also gar kein Insulin mehr herstellt (absoluter Insulinmangel), reicht beim Typ 2 die produzierte Insulinmenge nicht aus, um den Bedarf zu befriedigen (relativer Insulinmangel). Entsprechend unterschiedlich sehen die Behandlungsstrategien aus.

Beim Typ-1-Diabetes besteht die einzige Möglichkeit darin, das fehlende Insulin von außen zuzuführen. Weil das Hormon von der Magensäure zerstört würde, kann es nicht geschluckt, sondern muss gespritzt werden. Seit Kurzem gibt es auch ein Insulin zum Inhalieren - man hat sich hier die Tatsache zunutze gemacht, dass Arzneistoffe auch in der Lunge aufgenommen und so in den Blutkreislauf gebracht werden können. Das inhalierbare Insulin gilt derzeit aber noch als Medikament für spezielle Einzelfälle.

Normalerweise wird Insulin mithilfe eines Pens unter die Haut injiziert (der so heißt, weil er wie ein Füllfederhalter - englisch: pen -aussieht). Diese moderne Technik macht die Injektion praktisch schmerzfrei und weitgehend narrensicher. Der Diabetiker kann dabei die benötigte Insulinmenge selbst einstellen. Damit wird eine dem aktuellen Bedarf angepasste Behandlung möglich, Über- oder Unterdosierung vermieden. Es gibt verschiedene Behandlungsschemata, die darauf abzielen, den Grundbedarf des Körpers mit einem Insulin von langer Wirkdauer abzudecken und mit einem kurz wirksamen Insulin den kurzfristigen Mehrbedarf bei den Mahlzeiten individuell zu befriedigen.

Die Behandlung des Typ-2-Diabetes ist vielfältiger: Hier steht eine ganze Reihe von Wirkstoffen zur Verfügung, mit denen sich beispielsweise die Insulinproduktion und -ausschüttung ankurbeln, die Insulinempfindlichkeit verbessern oder die Glukoseaufnahme im Darm hemmen lassen (siehe Kasten). Die Basis aller Bemühungen ist jedoch die Eigenleistung: Der Betroffene muss sein Körpergewicht unter Kontrolle bringen und mehr Sport treiben. Denn wie steigende Pfunde und Bewegungsarmut die Insulinwirkung behindern, können Gewichtsabnahme und Bewegung helfen, die Insulinresistenz zu durchbrechen. Diabetiker brauchen also weniger Tabletten und senken ihr Herz-Kreislauf-Risiko, wenn sie abnehmen und körperlich aktiv werden - und das ist ein Ziel, für das sich zu kämpfen lohnt.

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