Schön doof:Super genau

Schön doof: Illustration: Bene Rohlmann

Illustration: Bene Rohlmann

E-Books werden bei Amazon künftig nur noch pro gelesener Seite berechnet. Der Aufschrei ist groß. Aber warum, fragt Jens Schäfer. Tatsächliche Nutzung überall!

Von Jens Schäfer

Kürzlich hat Amazon angekündigt, seine Autoren nicht mehr pro verkauftem Text zu bezahlen, sondern nur noch pro gelesener Seite. Vorerst gilt das nur für Titel, die ausschließlich als E-Book bei Amazon erscheinen. Der Aufschrei in der (Literatur-)Welt war trotzdem groß. Es wird befürchtet, dass dieses Bezahlmodell bald auch für "richtige" Bücher gilt und schon bald nur noch solche verlegt werden, die vor massenkompatiblen Cliffhangern nur so strotzen, während bessere, gehaltvollere und künstlerischere Texte mitsamt ihren Autoren aussterben.

Abgesehen davon, dass Cliffhanger auch kein erzählerisches Allheilmittel sind, hat dieses Bezahlsystem seinen Reiz. Wäre es nicht toll, wenn wir nicht nur Bücher, sondern alle Konsumgüter nur nach ihrer Nutzung bezahlen könnten? Wieso haben Waschmaschinen mindestens zwanzig Programme, obwohl man immer nur zwei einschaltet? Autos, Digitalkameras und Smartphones haben inzwischen Hunderte von Anwendungen, die keiner benutzt, aber jeder bezahlt. Und wie viele Medikamente werden weggeworfen, weil ihr Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist! Wäre doch viel praktischer, wenn der Kunde nur noch für das bisschen Nasenspray bezahlen müsste, das er tatsächlich braucht, für die Tablette, die er schluckt, das bisschen Heilcreme, das man sich im Notfall auf die Wunde reibt - man würde sich, ganz nebenbei, auch jede Menge Stauraum sparen.

Sollte sich das Amazon-Prinzip durchsetzen, dann wäre das wie in der guten alten Zeit, als man beim Krämer die Kartoffeln, Gurken und Zigaretten noch lose kaufen konnte. Lebensmittel, die man nicht aufisst, könnte man genauso zurückbringen wie Bierflaschen, die auf Partys nur halb ausgetrunken werden. Im Restaurant würde man nur noch entgelten, was wirklich geschmeckt hat. Niemand muss mehr für Fernsehprogramme blechen, die er empfängt, aber nie einschaltet. Das wäre das Ende der GEZ-Gebühren. Und vieler Talkshows. Na und? Politiker, die dort zu Wort kommen, können ja einen eigenen Sender gründen, wenn sie wollen. Dann wird sich zeigen, wer die Wähler zu fesseln vermag. Bei wem die Leute wegzappen, der bekommt weniger Diäten, ganz einfach. Wenn im Museum erst mal Kameras erfassen, vor welchem Bild man wirklich stehen bleibt, schrumpft der Eintritt rasch auf Centbeträge. Dann kann man auch wieder ins Theater gehen. Man sieht sich eine Inszenierung von Castorf oder Marthaler an, und wenn man nach einer Stunde genug hat, geht man raus und bekommt anteilig sein Eintrittsgeld wieder.

Auch persönliche Enttäuschungen lassen sich auf diese Weise wegrationalisieren. Keine Lust auf die Familienfeier oder das Abendessen mit Kollegen? Kein Problem, langweilige oder peinliche Momente werden vergütet. Die Ehe ist nicht mehr so rosig wie einst? Zieh einen Strich und lass dich ausbezahlen. Dann kann man endlich mal wieder in Ruhe ein Buch lesen. Ein altmodisches, mit vielen Seiten und ganz ohne Cliffhanger.

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