Entscheidung zur Organspende:Die andere Seite

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Die Politik will die Bereitschaft zur Organspende erhöhen. Für die Empfänger bedeutet sie Leben. Oft wird aber vergessen, wie schwer die Entscheidung jenen fällt, für die Organspende den endgültigen Abschied bedeutet.

Charlotte Frank

Sie waren schon fast in der Tür, da schickten sie ihnen die Frage hinterher. Fast beiläufig. Sie sollten mal drüber nachdenken. Aber wie sollte das gehen, nachdenken, eine Entscheidung treffen, gerade jetzt? Wie sollten sie noch wissen, was richtig und was falsch war? Was Entsetzen hervorrufen würde und was Bezauberung, was Furcht und was Trost? Es gab keinen Halt in diesem Moment, in dem selbst der Boden wankte. Keine Orientierung in einer Situation, in der sogar die Grenze zwischen Leben und Tod verschwamm.

In Deutschland sterben jeden Tag drei Menschen, die auf der Warteliste fuer Organtransplantationen stehen. Im vergangenen Jahr lag die Zahl der Organspender bundesweit bei 1217 - gerade 19 mehr als im Jahr zuvor. (Foto: AP)

Ob sie Marias Organe haben könnten, hatten sie die Eltern gefragt. Jahre sind seitdem vergangen, Jahre ohne Maria. Nicht genug, um den Schmerz über den Unfall ihrer Tochter zu stillen. Aber gerade genug, um irgendwie den Halt wiederzufinden, der Sylke Hage damals verlorengegangen ist, und irgendwann auch die Sprache.

Mit tastender Stimme, die schwarzen Augen fluchtbereit, entwirft sie Bilder von früher, so lebendig, als würde Maria gleich drüben vom Hauptbahnhof in die sterile Hotellobby hineingetobt kommen: Maria, wie sie lacht. Maria, wie sie ihren kleinen Bruder morgens weckt. Wie sie ihr Hochbett gegen Eindringlinge verteidigt. Wie erwachsen sie oft denkt. Wie die anderen Kinder sie rufen: "Mutter Teresa".

Maria, wie sie tot da liegt - und bei ihr die Ärzte, die sagen, dass sie nichts mehr tun könnten. Jedenfalls nicht für ihr Kind.

Sterben ist das Gegenteil von Leben, Glück ist so weit weg von Unglück. Aber manchmal, ganz selten berühren sich diese Pole eben doch, und dann verschmelzen sie zur Tragödie, bei der aus dem unermesslichen Unglück des einen erst das unermessliche Glück des anderen erwächst: ein Herz. Eine Niere. Eine Leber. 12.500 Menschen warten in Deutschland auf solche rettenden Spenderorgane, viel zu viele.

Nun überlegen auch die Abgeordneten im Bundestag, wie diesen Menschen endlich geholfen werden kann. Bei den unterschiedlichen Ideen, über die sie diskutieren, gibt es doch einen Satz, den alle zitieren: "Organspende bedeutet Leben." Organspende bedeutet aber auch Tod, auch darüber muss gesprochen werden. Denn dort, wo sich Glück und Unglück so schmerzhaft die Waage halten, lässt sich die eine Seite, das Glück, nicht vergrößern, ohne die andere Seite, das Unglück, zu verkleinern.

Wer also wirklich etwas für die Organspende tun will, muss Menschen wie Sylke Hage treffen - und solche wie den Intensivmediziner Gerold Söffker aus Hamburg, der darauf spezialisiert ist, Angehörige auf die Organspende anzusprechen. Nur wer ihnen zuhört, erfährt mehr über das scheinbar Unmögliche: Was man tun kann, um eine Entscheidung zu erleichtern in einem Moment, in dem die Welt in Trümmern liegt. Und wie man, im Gegenteil, die Welt noch mehr zertrümmern kann.

Ende des Sommers, aber noch nicht Herbst. Ein später Morgen, aber noch nicht hell, und draußen, vor dem Fenster, nur ein leerer Busparkplatz. Auch drinnen im Frühstücksraum nichts, an dem der Blick hängenbleiben kann, Sylke Hage ist der letzte Gast. Sie sitzt allein in einer Ecke, das schöne, dunkle Gesicht hochkonzentriert.

"Angeblich lässt das Gehirn nur so viel Erinnerung zu, wie es erträgt", sagt sie, das sei bei ihr noch nicht viel. Also bloß keine Ablenkung, behutsam fühlt sie sich zurück zum letzten klaren Moment vor der Katastrophe, einem sonnigen Donnerstag im Februar.

Sylke Hage schlängelt sich in ihrem Auto die Serpentinen zum Kindergarten hoch, in einen namenlosen Ort, in einem unbestimmten Jahr - mehr darf, so will es die Gesetzeslage, in Deutschland nicht gesagt werden über Geschichten, die mit Organspende zu tun haben. Auch Sylke Hage heißt eigentlich anders.

Das Radio spielt, sie ist entspannt, "es lief einfach alles an diesem Tag". Schon morgens lassen sich die Kinder problemlos anziehen. Vormittags kommt zum ersten Mal in jenem Jahr die Sonne raus, und im Kindergarten darf Marias Gruppe endlich wieder im Garten spielen, im Sand und auf der Rutsche - wie sich später herausstellt, sogar auf den Bäumen. Nachmittags dann kann Sylke Hage sich früh aus dem Büro loseisen, "das war wichtig", sagt sie, "ich hatte erst am Tag davor von Maria einen Mecker fürs Zuspätkommen gekriegt". Andere Menschen warten zu lassen, das konnte Maria nicht leiden.

Es kommt zu jener Zeit nicht oft vor, dass in Sylke Hages Leben, zwischen Job und zwei kleinen Kindern, Momente übrigbleiben wie damals im Auto: alleine mit ihren Gedanken, ohne Zeitdruck, ohne Lärm. In Ruhe nimmt sie Kurve um Kurve und beobachtet, wie sich das erste Frühlingslicht auf der Windschutzscheibe bricht. Als unten am Fuß der Serpentinen eine Sirene losheult, denkt sie nur: "Was für ein ätzender Weg für einen Rettungswagen", dann wandern die Gedanken weiter zu Maria.

"Sie war erst drei, da kam uns auf der Autobahn ein Krankenwagen entgegen", erzählt Sylke Hage. Ihre Tochter war gebannt, sie wollte alles wissen: über das Blaulicht und über das Tempo und über die Menschen in dem Wagen. "Dann sagte sie zu mir: Mama. Wenn ich groß bin, will ich auch Ärztin werden. So kann ich immer Menschen helfen", erinnert sich Sylke Hage.

Mitten hinein in ihre Erinnerungen rast der Rettungswagen an ihr vorbei. Diffuse Angst steigt in ihr auf, sie gibt Gas. Als sie am Kindergarten ankommt, steht der Notarzt schon davor. "Alle blickten mich komisch an", sagt sie, manche flüstern, sie müsse jetzt ganz ruhig bleiben, hingeworfene Wortfetzen treffen sie, Kapuze, Unglück, Baum. Jemand führt sie ins Personalzimmer, da sieht sie nur den Fuß, ganz grau. Nicht mehr Marias Fuß. "Ich hab's nicht geschafft, reinzugehen", sagt sie, das bereut sie bis heute.

Aber damals ist nur noch Panik um sie herum, in das Rauschen der Ohnmacht mischt sich das Gebrüll von Hubschrauberrotoren, die Gedanken verwischen, und irgendwie findet sie sich auf der Intensivstation wieder. An Marias Bett.

Die Station, erst vor zwei Jahren eingeweiht, ist modern gestaltet, das blendende Klinikweiß gebrochen von blauen Acryltresen mit blühenden Orchideen im Topf. Den Rest kennt man aus jedem beliebigen Krankenhaus: eilende Pfleger, unruhige Ärzte und durch offene Türen der freie Blick auf bleiche Patienten und Angehörige mit verlorenen, verweinten Gesichtern. Genauso hat Sylke Hage dagesessen, wenn auch nicht hier, im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).

Angst vor der Entscheidung: Angehörigen eines Komapatienten fällt der Schritt zur Organspende oft schwer. (Foto: iStockphotos)

Trotzdem lohnt es sich, dort vorbeizuschauen und mit dem Oberarzt Gerold Söffker über die neue Station zu laufen. Denn in keinem anderen Bundesland gibt es so viele Organspender wie in Hamburg - dort kommen auf eine Million Menschen 34 Spender, im Bundesdurchschnitt sind es 15,9. Das alles hat natürlich mit dem großen Einzugsgebiet des Stadtstaats zu tun, mit Öffentlichkeitsarbeit und mit hochmodernen Intensivstationen.

Aber es hat auch viel damit zu tun, dass sie Kollegen haben wie Gerold Söffker. Söffker, 41 Jahre alt, ein Mann mit nach oben weisenden, lachbereiten Mundwinkeln, ist seit zwei Jahren Transplantationsbeauftragter am UKE. Das heißt, dass kein Patient, der hier für eine Organspende in Frage kommt, an ihm vorbeigeht.

Das heißt aber auch, dass keine Woche vorbeigeht, ohne dass er diese Frage stellen muss, die er selbst "die schlechteste Frage im unmöglichsten Moment" nennt. Er biegt in ein kahles Büro ab, bevor er das ausführt: "Das Schlimmste ist nicht, die Frage auszusprechen", sagt er, das müsse ein erfahrener Arzt aushalten. "Das Schlimmste ist, dass es nicht mehr um den Patienten geht, sondern um dessen Organe." Dass er Trauernden unter Zeitdruck Lebensentscheidungen abverlangen muss. Sterbensentscheidungen. Das kann selbst manch erfahrener Arzt nicht aushalten.

Söffker kann es, weil er in seinem Amt mehr Chance als Bürde sieht: "Wir können die Entscheidung nicht leichter machen", sagt er. "Aber zumindest den Weg dahin". Das aber muss sich eine Klinik erst mal leisten wollen. Die meisten wollen nicht - obwohl Experten seit Jahren einen Transplantationsbeauftragten für jedes Krankenhaus fordern.

Gerold Söffker hat in dem leeren Büro Platz genommen, trotz des Themas wirkt sein Gesicht immer noch lachbereit, vielleicht macht das seine Stärke aus. Man kann sich vorstellen, wie er Menschen in einen Raum wie diesen bittet, wie seine freundliche Natur Vertrauen schafft, wie er diese Überlegung anstellt, mit der er immer anfängt: Ob es für den anderen zur Ganzheit des Lebens gehört, dass Handeln, Denken und Wille selbständig sind? "Die meisten bejahen das", sagt er, daraufhin leitet das Gespräch auf die Frage, ob sich die Einzigartigkeit des Menschseins schon darin erschöpft, dass ein Körper Kreislauf- und Nierenfunktion hat. Die meisten verneinen das.

Dann kommt Söffker zu den Tatsachen: Dass das Gehirn tot ist und der Hirntote nicht einmal mehr selbständig atmen könne. "Ich muss ganz langsam und klar vorgehen", sagt er, nur so schafft er es, dass die Menschen irgendwann von selbst fragen: Was passiert jetzt? Und er fragt zurück: "Haben Sie mit dem Verstorbenen zu Lebzeiten je über Organspende gesprochen?"

In Sylke Hage zerriss etwas, sie taumelte zur Tür. Vier Tage lag ihre Tochter nun schon hier, seit dem Hubschrauberflug und der Reanimation. Vier Tage, in denen sie auf Maria rumgedrückt und sie verkabelt hatten, in denen sie ihre Locken zu albernen Zöpfen geflochten und ihre Mutter gebeten hatten, nicht draußen auf dem Flur zu weinen, die anderen Patienten, sie möge verstehen. Ansonsten redete keiner mit ihr, keine Erklärungen, kein Zuspruch in den vier Tagen, seit sie Maria gefunden hatten: am Baum hinter der großen Rutsche. Ausgeglitten, von der Aufsicht übersehen, von einem Aststumpf aufgefangen. Stranguliert an der eigenen Kapuze.

"Bis Samstag sah es aus, als würde sie schwer behindert überleben", erinnert sich Sylke Hage. Aber dann fiel am Sonntag plötzlich die Temperatur, auf 34 Grad. Die Mutter sagt, in dem Moment habe sie "gespürt, dass die Seele gegangen ist". Die Ärzte drückten es später anders aus: "Hirntot", sagten sie. Und warfen noch schnell die schlechteste Frage im unmöglichsten Moment hinterher. Dabei hatte Maria noch Puls und atmete und sah aus, als würde sie nur schlafen.

Das Herz schlägt noch, aber die Seele ist tot. Der Körper ist noch warm, aber die Organe sollen ihm entnommen werden. Und einer wie Gerold Söffker steht da, mit seiner Frage und mit der verstörten Familie, und muss das irgendwie begreiflich machen: Dass der geliebte Mensch nie wieder aufwachen wird. "Das ist rational am schwierigsten", sagt er, zu erklären, dass die Maschinen nur noch so lange weiterlaufen, bis die Frage nach einer Organspende beantwortet ist. Söffker schüttelt den Kopf: "Menschen könnten ihren Familien dieses ganze Leid ersparen, wenn sie einen Organspendeausweis hätten."

Er erlebt es ja ständig, das Leid der abgewälzten Entscheidung. Er bietet dann Wasser an, frische Luft, Telefonate, Ruhe. Erklärt, was die Spende bedeutet und dass der Tote hinterher unversehrt aussieht. Bespricht mit der Familie, ob sie den Verstorbenen nach der Organentnahme noch sehen will, fragt nach, hört zu. Nur eines kann Söffker nicht bieten: Zeit. "Nach einem Tag Bedenkzeit sollte eine Entschluss stehen", sagt er. Keiner solle überredet werden, und ethisch sei es nicht vertretbar, anderen Patienten ein Intensivbett vorzuenthalten.

Um Sylke Hage tobt die Hektik. "Irgendwer hatte eine Art Riesenföhn neben Maria aufgestellt", erinnert sie sich, ein anderer eine Heizdecke über sie gelegt, wortlos, trostlos. Die Mutter hat nicht die Kraft zu fragen, wozu. "Ich habe das erlebt wie in einer Seifenblase", sagt sie, von Ferne kam ihr der verschwommene Gedanke, ob die eigentlich noch etwas für Maria taten oder nur noch für ihre Organe.

Aber drinnen, in der Seifenblase, waren nur sie und ihr Kind, dort sah sie klar. Sah noch einmal Maria an Weihnachten. Die Empörung in ihrem Gesicht, als sie hörte, das Christkind kommt nicht zu den Alten im Dorf. Die Mühe, mit der sie daraufhin für alle ein Weihnachtsgeschenk bastelte. Sah noch einmal die Geduld, mit der Maria in ihrem integrierten Kindergarten mittags sitzen blieb, bis die Sonden der behinderten Kinder durchgelaufen waren. Sah die Wut, als einer von den großen Jungs ihren Bruder einmal "Blödmann" rief. Sah noch einmal Marias dunkelgrüne Augen und die Locken und den runden Kinderbauch mit dem T-Shirt darüber, das sie so gerne trug, "Das muss so laut" stand darauf. Hörte noch einmal ihre Stimme, wenn die Freude nichts mehr von ihr übrig ließ.

Sylke Hage saß am Bett und blickte auf ihr totes Kind und erinnerte nichts als übersprudelndes, beglückendes, ansteckendes Leben. Da sagte sie zu ihrem Mann: "Wenn uns jetzt jemand helfen könnte, würden wir auch alles annehmen." Und sie nahmen sich an der Hand und gingen zurück zu dem Arzt, der ihnen vorhin die Frage hinterhergeschickt hatte: Ob sie Marias Organe haben dürften. Sie sagten ja.

© SZ vom 08.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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