Sack Reis:Wild, ganz wild

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Hongkong ist eine enge, eine sehr enge Stadt. Es ist eine heißkalte Stadt. Es ist eine Stadt, in der man schon mal seinen Sohn in der Tram vergisst bei all dem Getöse und der Geschwindigkeit. Und es ist eine Stadt, die für Überraschungen gut ist.

Von Kai Strittmatter

Gerade in Hongkong gewesen. Schlangen gesichtet. Mit Wasserbüffeln gebadet. Um Hongkong gebangt.

Hongkong ist eng. Sehr eng. Schluchten findet man da, in denen man den Kopf im Neunzig-Grad-Winkel in den Nacken legen muss, um ein Stück vom Himmel zu erhaschen. In denen das Stadtgetöse jedes Telefongespräch unmöglich macht. Wo man als Fußgänger gleichzeitig heiß und kalt gebadet wird: Von links blasen einen die Eisböen aus den klimaanlagengekühlten Läden vom Gehsteig, von rechts halten die heißen Abgaswinde der Busse dagegen. Wo die Wohnungen so klein sind, dass sich der Ehemann meiner besten Hongkonger Freundin entschuldigen ließ, als sie mich und meine Familie nach jahrelanger Freundschaft erstmals zum Essen nach Hause einlud: Er hätte schlicht keinen Platz mehr gefunden am Esstisch.

Hongkong ist groß. Ganz groß. Für Kinder sowieso. Die einzige Stadt der Welt, in der der Straßenbahnführer mitten auf der Strecke eine Vollbremsung hinlegt, wenn man brüllend der Tram hinterherläuft, weil es einem beim zweiten Nachzählen auf dem Gehsteig endgültig dämmerte, dass da ein Blondschopf zu wenig steht. Die einzige Stadt der Welt, in der dem Siebenjährigen das Vergessenwerden in der Tram schnurzegal ist, weil es sich so schön träumt da oben in dem Doppeldecker, ganz vorne am Fenster, mit dem Kopf auf den verschränkten Armen, inmitten all dem Geklingel und dem Gekreische der Bremsen, während links und rechts die Neonreklamen vorbeiziehen. Die einzige Stadt der Welt, in deren Restaurants ein halbes Dutzend krakeelende und Purzelbaum schlagende Gören kein bisschen auffallen, weil da alles braust und tobt.

Und dann die Zeitmaschine. Zwei Hongkong-Dollar fünfzig, keine 30 Cents. Ein letztes schrilles Klingeln. Schnell. Endlich: Taue los. Das Brausen legt sich, das Toben verstummt. Weite. Horizont. Stille. Sieben, acht endlose Minuten. Auf den eisernen Kähnen der Star Ferry. Minuten, in denen die Stadt zu sich kommt. Momente, in denen man vergisst. Den pausenlosen Angriff auf alle Sinne. Den Schatten Chinas über der Stadt. Das Bangen. Hongkong hat auch sieben, acht Stunden Vergessen im Angebot. Oder sieben, acht Tage. Dazu nimmt man eine der anderen Fähren. Die nach Lamma. Oder die nach Lantau. Hongkonger Inseln. Von Central gerade mal eine halbe Stunde entfernt. Zu unserem Haus in einer abgelegenen Bucht führte ein Dschungelpfad. Eine halbe Stunde Fußmarsch durch dichtes Gestrüpp. Die Rattenschlange sah Sohn Nummer eins zuerst. Die Bambusviper Sohn Nummer zwei. Als die Wasserbüffel den Strand herabgaloppierten, war die kleine Tochter die erste, die davonrannte. Hongkong ist wild. Ganz wild. Abenteuerurlaub bis zum letzten Tag, als die Hongkonger Freundin uns zum "traditionell britischen Dim Sum" ausführen wollte.

Holla. Traditionell britisches Dim Sum. Klang nach Kolonialverbrechen. Nervös zupften wir an der weißen Tischdecke. Am Ende, Gott sei Dank, war nur die Hardware britisch: der Kronleuchter, das Silberkännchen für den Woolong-Tee, der grimmige Zug um die Mundwinkel der Kellnerinnen. Original Hongkong dann, und eine Attacke direkt aufs Euphoriezentrum, der gedämpfte Lo Bak Go, die fluffigen Char Siu Bao und die knackigen Har Gow, die Shrimpstäschchen, ja, die vor allem. Mit einem Tupfer körniger Chillipaste. Himmel, Hongkong. Bleib!

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