Sack Reis:Kein Schnee, kein Eis

Woran glauben Chinesen? Nun das kann hier nicht erschöpfend beantwortet werden, nur so viel: Sie glauben felsenfest an die Wettervorhersage. Wenn demnach ein Schneesturm angekündigt wird, dann weiß jeder Chinese genau, was er zu tun hat.

Kommentar von Kai Strittmatter

Wir haben jetzt Winter. Seit genau 53 Sekunden. Ich weiß dass, weil vor 53 Sekunden auf dem Twitterkonto von Chinas amtlicher Nachrichtenagentur Xinhua die ersten beiden Pandas durch den Schnee gerollt sind. "You You und Si Jia purzeln und rollen durch den Schnee", meldet Xinhua. Also ist jetzt Winter. Das ist jedes Jahr so. Ich brauche keinen Kalender. Ich brauche in meiner Twitter-Timeline bloß Xinhua. Wenn die Pandas purzeln, dann weiß ich: Oha, jetzt warm anziehen.

Das war in Istanbul ähnlich. Bloß dass den Istanbulern der Sommer wichtiger ist. In all meinen Jahren dort warteten wir stets sehnsüchtig auf das erste Foto von Eda Taşpınar. Eda Taşpınar war eine zeitlose Schöne, von der - wie bei den von der Südhalbkugel heimkehrenden Störchen - keiner so genau wusste, woher sie eigentlich kam und wohin sie ging. Jahr für Jahr erschien sie wie aus dem Nichts auf den Titelseiten der Boulevardblätter, wo sie dann, sich in Bikinis auf Sonnendecks räkelnd, die nächsten Monate verbrachte. Sie lag, und sie räkelte. Und der Zweck ihres Daseins war es, den Istanbulern zu verkünden: Es ist Sommer.

Eda Taşpınar war der Panda der Türken. Weil der Panda eine Erfindung für Ausländer ist, kratzt er die Chinesen selbst übrigens wenig. Sie halten sich an ihren alten Sonnenkalender. 8. November: lidong. "Winteranfang". Es ist sogar meine Erfahrung, dass die Chinesen sich viel lieber an ihren Kalender halten als ans Wetter draußen. Ich erinnere mich an mein Jahr an der Uni in Xi'an. Wie wir Europäer unsere chinesischen Kommilitonen bestaunten, die auch noch dann mit zwei Schichten langen Unterhosen und wattierten Jacken über den Campus watschelten, als wir uns schon längst an der Frühlingssonne wärmten. Dann aber, Sonnenkalender: lixia, 6. Mai. "Sommeranfang". Und zack, wie auf Befehl fielen am selben Tag campusweit, stadtweit, landesweit die langen Unterhosen, und es schälte sich heraus der Frühlingschinese.

Noch lieber als an Kalender und ans real existierende Wetter halten sie sich heute an den Wetterbericht. Letzte Woche war uns in Peking ein "Schneesturm" vorhergesagt. Als ich aufwachte, lag auf unserem Dach tatsächlich Schnee, und zwar ziemlich genau einen puderzuckerweichen Zentimeter hoch. Ein leises Lüftlein wehte. Ich schaltete das Radio ein. "Schneechaos", hörte ich. Die Moderatoren berichteten atemlos von gestrichenen Flügen und gestrandeten Passagieren. Ich schaute zum Fenster hinaus: Die Sonne schien. Später nahm ich ein Taxi. Unglaublich: Die Straßen waren leer. Trocken waren sie sowieso, keine Flocke, kein Fleckchen Schnee oder Matsch war mehr zu sehen, nirgendwo. Im Wagen lief ein Minifernseher. Sondersendung zum Schneesturm in Peking. Warnungen, Tipps: Warm anziehen! Wanderstiefel, wer hat! Ihr Frauen, jetzt nix Hochhackiges! Unterlegt war die Sendung mit Bildern von wüstem Schneetreiben. Archivbildern.

Ich blickte hoch in den blauen Himmel, deutete auf die leeren Straßen: "Wo sind denn die anderen alle?" - "Haben alle Angst", sagte der Fahrer. "Wovor denn?" Er schaute mich an, als sei ich schwer von Begriff. "Na hier", er deutete auf das Schneetreiben auf dem Bildschirm: "Schneechaos!" - "Aber ...", setzte ich an, und ließ es dann sein. "Keine Bange", sagte der Fahrer: "Ich bin aus dem Nordosten, praktisch im Schneetreiben aufgewachsen." Und dann, abschätzig: "Feiglinge."

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