Sack Reis:Im Auge des Orkans

Sack Reis: undefined

In China ist unbestitten immer was los. Aber besonders viel los ist, wenn eigentlich nichts los sein soll, nämlich in den Ferien. Weil die aber in der Goldenen Woche alle Chinesen gleichzeitig haben, verlangt der Ferienspaß eine Organisation, die antizyklisch genannt wird.

Von Kai Strittmatter

Es gibt im Chinesischen Wörter, die geben vor, die Übersetzung ihres deutschen Pendants zu sein, und meinen am Ende doch nur scheinbar das Gleiche. Die "Liebe" ist so ein Wort, das "Wiener Schnitzel" ein anderes (zumindest in der "Deutschen Gaststätte", die wir unlängst aufsuchten, der Himmel ertränke sie in der nächsten Sintflut). Und dann ist da das Wort "Ferien".

Ich habe schon einmal von der Pekinger Architektin erzählt, die ich auf Recherchereise im idyllischen Hangzhou traf. Wir saßen bei Bambusrauschen und Vogelgezwitscher im Frühstücksgarten, als mir der behagliche Seufzer herausrutschte: "Aah, wie in den Ferien ..." Woraufhin ihre Gesichtszüge einfroren. "Vielleicht wie in den europäischen Ferien", flüsterte sie, als sie sich wieder gefangen hatte. Furcht war in ihren Augen aufgeflackert; sie musste Schreckliches erlebt haben in den chinesischen Ferien. Ich verstand sie. Reisen zur Ferienzeit, das kann man hier nur Menschen empfehlen, die Nahtoderfahrungen als bereichernden Kitzel empfinden.

An diesem Samstag beginnt wieder die "Goldene Woche", die Ferienwoche zum Nationalfeiertag. "Goldener Wahnsinn" nannte es die Presse im letzten Jahr. Das Konzept "Ferien" kennt China seit 1999. Damals befahl die Regierung die Chinesen erstmals in den Urlaub, um den Konsum anzukurbeln. Seither reisen die braven Untertanen von Jahr zu Jahr mit wachsender Lust. Das Problem: Auf Wunsch ihrer Regierung tun sie es alle zur gleichen Zeit. 1,3 Milliarden Chinesen, die sich mit Ihnen den Eisenbahnwaggon teilen und zur gleichen Stunde die Große Mauer bei Badaling erklimmen. Die "elf Stunden Chaos, Zorn, Verzweiflung und Hunger", wie sie laut Pekinger Abendzeitung die zehntausend über Nacht auf dem Gipfel des Hua-Berges Gestrandeten im letzten Jahr erlebten, sind dann eher die Regel als die Ausnahme.

Das letzte Mal, dass ich zur Goldenen Woche eine Reise tat, ist 13 Jahre her. Da fuhr ich mit einer Pekinger Reisegruppe gen Shanghai, und schon damals schubsten sich die Massen gegenseitig in den Kaiserkanal. Wir hatten Glück. Nicht unbedingt, weil unser Reiseleiter, Kleiner Bär, ein passionierter Spaßmacher war (vornehmlich ging es um Ärsche und Nutten). Nein: Er entpuppte sich als Stratege. "Wenn die anderen sich ausruhen, gehen wir besichtigen. Und wenn die anderen besichtigen, ruhen wir uns aus." Genial. Zum Lingyin-Tempel in Hangzhou prügelte er uns um vier Uhr morgens. Hinein kamen wir um die Zeit nicht. "Fotografiert das Tor", sagte er. "Drin ist eh langweilig".

Es war ein Wunder: Überall wo wir hinkamen, waren wir die Einzigen. Wie wir das schafften? Auf Shanghais berühmter Einkaufsmeile, der Nanjing-Straße, tauchten wir erst kurz vor Mitternacht auf. Ins schicke Barviertel Xintiandi hingegen, Spielplatz der Schönen und Reichen, führte Kleiner Bär uns morgens um halb neun. Antizyklisch. Muss man erst mal draufkommen.

Trotzdem. Ich beschloss damals: nie wieder! Dabei waren in jenem Jahr erst 80 Millionen Chinesen unterwegs. Und in diesem Jahr? In diesem Moment? Sind es 750 Millionen. Zehn Mal so viel. Da draußen tobt, jetzt, da Sie dies lesen, ein Orkan. Und doch: einen Ort des Friedens gibt es. Im Auge des Wirbelsturms. Dann, wenn alle unterwegs sind, ist es mitten in Peking so still und beschaulich wie nie. Hier sitze ich jetzt. Spiel toter Mann. Bitte nicht stören.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: