Sack Reis:Gefallene Helden

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Es gibt diese Geschichten, die einen Reporter immer verfolgen. Nicht, weil er sie schlecht geschrieben hat. Nicht weil er das Wichtigste vergessen hat. Nicht weil ihn das Leben eines Besseren belehrt hat. Nein, es sind jene Geschichten, die er nie geschrieben hat. Eine wie diese...

Von Kai Strittmatter

Lose Enden. Mein Korrespondentenleben ist voll davon. Glücklicher- oder sträflicherweise nie geschriebene Geschichten. Eine dieser Geschichten wurmt mich mehr als alle anderen. Es ist eine Geschichte, die mir vor vielen Jahren in den Schoß fiel. Das heißt, eigentlich hat sie ihren Anfang noch früher, während meiner Studientage in Xi'an. Damals, das ist nun auch schon 30 Jahre her, trällerte das ganze Land ein Frühjahr und einen Sommer lang einen Ohrwurm, der auch uns Gaststudenten nicht mehr aus dem Kopf ging - auch deshalb, weil die Lautsprecher unseres Universitätscampus uns damit jeden Morgen um sieben Uhr aus dem Bett bliesen.

Es dauerte eine Weile, bis wir Chinaneulinge merkten, dass es sich bei dem Hit um einen Propagandaschlager handelte. Einer unserer Lehrer übersetzte den Text für uns und zeigte uns den umjubelten Fernsehauftritt des Sängers: Es war ein in Chinas Grenzkrieg gegen Vietnam 1979 verletzter Offizier, seither querschnittsgelähmt. Er kam im Rollstuhl auf der Bühne, stark geschminkt, in Uniform und mit Orden dekoriert. Er sang von Kampf und von Vaterland, von Ruhm und von Ehre, und vom Blut der gefallenen Helden, das die chinesischen Fahnen in ein tiefes, stolzes Rot färbe. Während seines Auftritts wurde er, so gut es ging, von einer Reihe ihn mit langen Seidenbändern umschwänzelnden Tänzerinnen in seinem Rollstuhl auf der Bühne hin- und hergeschubst. Der Auftritt machte den Mann zum umjubelten Helden der Armee, der Partei und des Landes.

Ich hatte Lied und Sänger schon fast vergessen, als ich Jahre später als Korrespondent nach Peking zurückkehrte. Bis zu jenem Tag, an dem mich ein chinesischer Freund zur Seite nahm und mir zuflüsterte, er habe einen guten Freund, der wolle dringend einen ausländischen Journalisten sprechen. Streng geheim das Ganze. Es gehe um einen bestellten Mord, na ja, vielleicht auch Totschlag. Zwei Männer seien in einer Bar in Streit geraten, der eine habe per Handy Kumpel zu Hilfe gerufen, und die hätten dann den anderen auf sein Geheiß umgelegt. Was das Ganze so heikel mache: Der Täter, also der Anstifter, sei Armeeoffizier, ein dekorierter Kriegsheld dazu, ja, er sitze im Rollstuhl und sei sogar einmal ein berühmter Sänger gewesen. Es war tatsächlich der Star unserer Studententage. Er habe Angst, nun im Stillen hingerichtet zu werden, sagte mein Freund, deshalb wolle er der Welt seine Seite der Geschichte erzählen. Ob er aber denn nicht im Gefängnis sitze, fragte ich ungläubig. Nein, nein, er sei schließlich ein dekorierter Kriegsheld mit vielen Freunden, die Armee halte ihn vor seinem Prozess lediglich in Hausarrest in einer Kaserne. Wie um alles in der Welt ich ihn dann treffen könne? "Lass das meine Sorge sein", sagte mein Freund, "fahr einfach hin."

Und so fuhr ich in seine Stadt. Ohne Handy. Telefonierte von öffentlichen Fernsprechapparaten in Nudelläden und Gemüsemärkten aus, fühlte mich wahnsinnig konspirativ und supernervös und schaute alle paar Augenblicke über die Schulter, ob mir nicht schon der Militärgeheimdienst auf den Fersen war. Und dann hatte ich ihn am Apparat.

So. Wenn Sie wissen möchten, wie es unserem Autoren erging, ob der Sänger dem Tod entrinnen konnte und warum verdammt noch mal diese Geschichte bis heute nie in der Zeitung stand, dann schauen Sie nächste Woche hier wieder vorbei. Noch so ein loses Ende.

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