Sack Reis:Blut in der Altstadtgasse

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Es gibt diese Träume, die surreal sind und furchteinflößend - aber sie sind und bleiben Träume. Und dann gibt es diese Träume, die einfach nicht aufhören, weil man irgendwann merkt: Moment, das ist ja gar kein Traum.

Von Kai Strittmatter

Haben Sie auch manchmal diesen Traum? In dem Sie, von merkwürdigen Geräuschen geweckt, schlaftrunken zur Tür torkeln, diese öffnen, und dann einem Pulk Fremder gegenüberstehen? Fremde, die im Halbkreis vor Ihnen stehen, Sie mit ihren Blicken durchbohren, um dann mit ausgestrecktem Finger auf Sie zu zeigen und im Chor zu rufen: "BLUT!"? Nein? Echt nicht? Ich schon. Aber das mag daran liegen, dass mir genau das einmal passiert ist. Na ja, es waren keine Fremden, es waren die Nachbarn. Trotzdem ein leicht traumatisierendes Erlebnis, und nein, das lag jetzt nicht daran, dass ich ausgerechnet an dem Morgen das viel zu enge Schlafanzugoberteil mit dem pelzigen Winnie-the-Pooh-Aufsatz aus dem Kleiderschrank von Sohn Nummer eins trug, weil am Abend zuvor, ach, lange Geschichte. Daran lag's jedenfalls nicht.

Wir wohnen im Hutong. In einer Pekinger Altstadtgasse. Wo gestandene Kerle am helllichten Tag in Bärchen-Schlafanzügen zur Pfannkuchenfrau spazieren. Dafür tragen dann ihre Pudel Leopardenfell. Oder Louis Vuitton. Beziehungsweise Luosi Vutton, das muss sein chinesischer Vetter sein. Es war so um acht Uhr herum. Ich war allein zu Hause, schlief noch. Schläge gegen unsere mächtige Holztür weckten mich. Begleitet von Rufen: "Jemand da? Hallo. HALLO!" Vielleicht der Kurier, dachte ich. Es waren aber zwei Polizisten, die zuerst irritiert den Winnie-the-Pooh auf meiner Brust und dann meine schlagartig erwachenden Gesichtszüge musterten. Wieso schauen die mich so an, dachte ich? Erst dann registrierte ich die im Halbkreis versammelte Nachbarschaft, die mich nicht weniger durchdringend musterte. Ich versuchte, die Arme unauffällig vor dem Bären zu verschränken.

"Guten Morgen!", sagte einer der Polizisten. "Was ist das?" "Hä?", sagte ich, und folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger, der ungefähr auf Bärenhöhe in Richtung Türrahmen deutete. Da war ein tellergroßer roter Fleck, getrocknet schon, dessen Ausläufer hinab bis an den Boden rannen. "Hä?", sagte ich, diesmal eine Oktave höher. Ich dachte sofort an die roten Kerzen in unserem Kerzenhalter, die den Tisch oft verunstalten, und begann mit dem Fingernagel zu kratzen. War kein Wachs. Ein drittes Mal: "Hä?" Dann, erpicht darauf, höchst unschuldig und erstaunt zu klingen, die Frage meinerseits: "Was ist das?" Das war das Signal für den Chor der Nachbarn: "BLUT!", hallte es vielstimmig von den Wänden wider. Der Polizist nickte. "Blut", sagte er leise, ohne den Blick von mir zu lassen. Dann erst sah ich, dass eine dicke Blutspur von unserer Tür zur Straße hin führte. Himmel, dachte ich, und noch während ich in meinen Erinnerungen nach Anhaltspunkten dafür kramte, ob ich vielleicht am Vorabend einen blutverschmierten Leichnam im Wohnzimmer übersehen hatte, drängten die Beamten schon ins Haus. "Bei Ihnen in der Familie alles in Ordnung?" fragte der eine. "Alles in Ordnung", stammelte ich.

Der Friseur wusste Bescheid, zwei Tage später: Der Koch war's. Der von dem Nudelladen vor unserem Haus. Offenbar hatte sein Chef ihn mal wieder gescholten, da schnappte er sich das Küchenbeil und rannte hinaus. Vor unsere Tür. Der Chef brüllte, der Koch zückte das schwere Messer - und hackte sich vor Wut in die eigene Hand. "Ehrlich?", flüsterte ich, atemlos lauschend. "Er war aber wirklich kein guter Koch", sagte der Friseur.

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