Retro-Getränke im Trend:Das Bier von gestern

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Bier ist ehrlich, Bier ist Heimat. Bier ist der Stoff, aus dem Erinnerungen sind. Warum die kleinen Traditionsmarken plötzlich Kultstatus haben.

Joachim Käppner

Damals, in St.Pauli, als die Leute noch nicht "Pauli" sagten und es noch die alte Bar gab, in der Freddy Quinn noch viel früher für eine Mark pro Song "Junge, komm bald wieder" auf Bestellung gesungen hat, damals also herrschte einmal große Aufregung in der Hafenstraße. Vermummte liefen schreiend durch die Nachbarschaft: "Die Bullen kommen!" Es gab noch keine Handys, keine SMS und noch keine Blogger; die Revolution musste ihre Truppen noch zu Fuß oder per Fahrrad zusammentrommeln. Die Hausbesetzer verrammelten die Türen. Aber dann: nichts.

Hauptsache retro, Hauptsache "proll": Beim Bier liegt das Ehrliche, Regionale im Trend. Marken wie "Tannenzäpfle", "Astra" und Co. hat das einen Kultstatus beschert. (Foto: AP)

Das Großaufgebot der Ordnungsmacht ignorierte die bunten Häuser und stürmte den Luxusnachtclub nebenan. Unter Gejohle der Zuschauer wurden bald peinlich berührte Herren und kreischende Damen in die Polizeiautos gesetzt und abtransportiert. "Champagnersäufer!" grölten die Autonomen und zogen sich in den "Onkel Otto" zurück, ihre Eckkneipe. Dort gab es nur einen Stoff: Astra-Pils.

Astra war damals das, was die Leute gern "proll" nannten, allerdings noch ganz ohne den Unterton unserer Tage, denen jeder Rest proletarischer Lebensregungen als kultgeeignet gilt. Es passte, dass das Astra-Bier mit A beginnt, gleich all jenen Erscheinungen des Großstadtlebens, die man in den besseren Vierteln der Hansestadt so sehr beklagt: A wie Autonome, Arbeitslose, Arme, Altona (zu dem St.Pauli gehört) und so fort. So gesehen, war jede genommene Molle Astra im "Onkel Otto" ein klassenkämpferischer Akt; und nebenbei half die treue Anhängerschaft der St.-Pauli-Brauerei zu überleben. Spät kam die Zeit, da erkannte diese jählings, welchen Schatz sie da hütete. Das alte Hamburg mochte verschwinden; aber das Bier war immer noch da, ein ehrliches Gebräu: Wir und unser Bier. Seitdem haben die Werber den Hamburger Original-Proll mit spektakulärem Erfolg herausgekehrt. Da grüßt der Schlachter auf dem Plakat zwischen Rinderhälften hervor, das Bier in der Hand, dazu heißt es: "Zwischen Leber und Milz..." Oder man sieht zwei ältere Herren desillusioniert und emotional stark ernüchtert aus einem Rotlichtschuppen treten, darüber die Schrift: "Aber das Bier war gut."

Jahrzehntelang sollte dem Brauereiwesen das Echte, Alte, Authentische ausgetrieben werden, kauften die Konzerne die kleinen Traditionshäuser nur, um sie dichtzumachen. Es begann das große Brauereisterben. Aber jetzt befinden wir uns mitten im Roll Back. Das Ehrliche, Regionale liegt im Trend; neben Fun- und Spezialbieren ist es der einzige Wachstumsmarkt im Bierwesen, seit die Germanen von der alten Sitte abkommen, den Trunk literweise in sich hineinzuschütten (außer auf dem Oktoberfest natürlich, das nun wieder bevorsteht). Dabei waren die Werber der großen Konkurrenten bestrebt, Bier als verfeinertes Genussmittel zu preisen, das zu Leinenhosenträgern auf Segelyachten ebenso passe wie zu Blondinen im gehobenen Restaurant. Die Astratrinker aber hockten mit ihrer bauchigen Flasche vor der Fischbude oder in der U-Bahn, tranken aus der Flasche und rülpsten; proll eben.

Den Anfang der Retrowelle machte wohl schon vor drei Jahrzehnten die Firma Flensburger, dessen Besitzer, Konsul Emil Petersen, aus schierer Hartschädeligkeit jeder verwerflichen Neuerung trotzte. Er behielt in den Siebzigern, als Einziger im Land, sogar den guten alten Bügelverschluss statt der billigen Kronkorken. Ökonomischer Selbstmord, stöhnten die Berater. Und sie hatten recht. Aber dann kam Werner.

Werner, diese gezeichnete Ausgeburt einer Geisteshaltung, die in gewissen Kreisen Norddeutschlands als Humor gilt, liebte seinen "Bölkstoff". "Das zoscht!!!", grölte das Comic-Wesen und ließ, "fummbbb!!!", den Bügel schnappen. Sogar das Magazin Titanic persiflierte den Bügelboom: "Böllstoff - das Bier, das Sie betroffen macht." Und Flensburger, der alte Dampfer, sank nicht. Offiziell sieht die Firmenstory diesen schönen Erfolg natürlich als Ergebnis umsichtiger Planung: "Unter Konsul Emil Petersen wurde die Firma zu einer der führenden Brauereien Schleswig-Holsteins. Mit Beharrungsvermögen, Durchsetzungskraft, außerordentlichem Weitblick und Zielorientierung legte er den Grundstein des späteren Erfolgs. Entgegen dem Tun der gesamten Konkurrenz wurde die Bügelverschlussflasche beibehalten."

Eine ganz ähnliche Erfolgsgeschichte spielt weit fort, in einer ganz anderen Landschaft, durch die einst der Philosoph Martin Heidegger wandelte. Ihm hätte es gewiss besser getan, es mal richtig in der Hirschenstube zoschen zu lassen statt dem Führer zu huldigen und der Nachwelt Sätze zu hinterlassen wie: "Doch das Sein - was ist das Sein? Es ist Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muss das künftige Denken lernen."

Rohe und kenntnislose Gemüter könnten geneigt sein, den großen Mann für den Schwafler vom Schwarzwald zu halten, der sich nicht allein durch den irrlichternden Flug seiner Gedanken, sondern bereits durch seine Geschwätzigkeit vom eher maulfaulen Bewohner des dunklen Tanns abhebt. Dorther jedenfalls stammt ein Gebräu mit seltsamem Etikett, das Kenner als "retro" und damit als Kult preisen. Oder, um im Sinne Heideggers zu sprechen: "Doch das Bier - was ist das Bier? Es ist Es selbst."

Damit wäre nämlich der neue Trend zum ehrlichen Heimatbier auf überwölbende Weise beschrieben. Noch man selbst zu sein, in den Wirren der Globalisierung, wenn man nächtens in der Schenke zum Glase greift. Der Nostalgiker will kein Design-Bier, kein AntiAging-Bier und keine Eventbrauerei. Von dieser unbewussten Sehnsucht nach dem Unverfälschten leben der Schlappeseppel aus Aschaffenburg und das Dithmarscher Pilsener, das neuerdings so erfolgreiche Tegernseer Spezial aus dem Klosterbräu oder eben die Tannezäpflebrauer.

Diese zeigen von je her ein im Heimatstil der Fünfziger gemaltes Schwarzwaldmädel, das dem Betrachter freudig ein Bier hinhält. Auch das Tannenzäpfle verdankt seinen unverhofften Ruhm wohl dem Umstand, dass frühere Braumeister sich weigerten, am Etikett etwas zu ändern. Heute lebt die Brauerei vom Ruf des Echten und Authentischen, wobei keiner der hippen Großstadtjungen, der ein Minifläschle Tannenzäpfle ansetzt, ahnen mag, dass es sich hier um ein großes Staatsunternehmen handelt. Neider sagen ihm gar nach, der Vorstand sei eine Art Austragshäusl für ausrangierte Landespolitiker, ein Gerücht, dem die baden-württembergische Staatsregierung durch die Bestellung des früheren Innenministers Thomas Schäuble machtvoll entgegengetreten ist.

Nun freilich, wo mit der Wiesn wieder die Saison der Bierleichen beginnt, müssen wir beklagenswerterweise daran erinnern: Bier kann, ob kultig oder nicht, auch eine traurige Sache sein, wie folgendes Gedicht belegt, gefunden auf www.bier.de:

"Die fragen mich dann: Wollen Sie Hartz IV?

Ich sage: Aber immer und dazu ein Bier!

Das ist und bleibt mein letzter Trost,

ich fahr nach Haus und sage PROST!"

Astra gehört übrigens inzwischen einer Großbrauerei.

© SZ vom 11./12.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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