Reportage:Richtung Europa

Agadez, eine Stadt in Niger, ist das wichtigste afrikanische Drehkreuz für Flüchtlinge, die in den Norden wollen.

Von Tobias Zick

Der Ansturm beginnt, wie jeden Montag, in der Abenddämmerung. Weiße Pick-ups fahren vor, halten an den Lehmmauern, die hier fast jedes Grundstück umfassen. Junge Männer laufen durch die Stahltore, drängen sich auf die Ladeflächen, Köpfe und Gesichter mit Turbanen umwickelt, jeder von ihnen hält einen dicken Holzstock in den Händen. Die Gefährte setzen sich in Bewegung, ziehen Fahnen von aufgewirbeltem Sand hinter sich her, jedes fährt in eine andere Richtung, diese Stadt hat viele Ausgänge, und durch die Wüste führen einige Wege nach Libyen, Richtung Mittelmeer.

So geht das bis in die Nacht; unmöglich, die Pick-ups zu zählen, die in der staubigen Dunkelheit verschwinden, Menschentrauben auf Ladeflächen, rote Bremslichter. Niemand weiß, welchen Weg sie nehmen werden. Sicher ist nur: Viele dieser Menschen werden das Ziel nie erreichen. Manche werden sterben, schon bevor sie das Mittelmeer auch nur riechen können.

Im grellen Licht einer Neonröhre steht ein junger Mann, kerzengerade, einen weißen Schal um den Hals gelegt. "Klar ist es riskant", sagt er, "aber zu Hause kannst du doch auch sterben. Zum Beispiel wenn eine Mauer auf dich fällt." Adoumba Indiaye ist 34 Jahre alt, er kommt aus Dakar, der Hauptstadt Senegals. Seit sechs Tagen ist er unterwegs, Mali, Burkina Faso, etliche Polizeikontrollen, jedesmal musste er bezahlen, fünf Euro, zehn Euro, zwanzig Euro. Die Weiterfahrt nach Libyen hat ihn insgesamt fast 300 Euro gekostet. "Das ist nun mal der Preis der Reise", sagt er.

Als Junge träumte er davon, Pilot zu werden, oder General der Armee. "Aber das schaffst du in unserem Land nur, wenn du Sohn eines Ministers oder eines großen Anwalts bist." In der Schule war er immer der Klassenbeste, bis zum Abitur, dann fehlte seiner Familie das Geld für ein Studium, er arbeitete als Automechaniker. "Wir kommen zu euch nach Europa", sagt Adoumba Indiaye, "um uns ein bisschen was von eurem Reichtum zu holen. So wie ihr nach Afrika gekommen seid. Aber keine Angst, wir kommen nicht mit Waffen, nur mit unseren Händen."

Reportage: Adoumba Indiaye, aus dem Senegal, kurz vor dem Aufbruch in die Wüste.

Adoumba Indiaye, aus dem Senegal, kurz vor dem Aufbruch in die Wüste.

(Foto: Tobias Zick)

Er will in Europa als Mechaniker arbeiten. Und dann will er eines Tages als gemachter Mann zurück nach Dakar kommen und eine eigene Werkstatt aufmachen. Am liebsten würde er es bis nach Deutschland schaffen, oder auch nach Schweden. Er hat gehört, dass man dort ältere Frauen heiraten könne, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Nein, natürlich werde er Salima nicht vergessen, seine Verlobte, die in Dakar auf ihn wartet, auch nicht seine Eltern, die drei ihrer Ziegen und ihr ganzes Gold verkauft haben, um seine Reise zu bezahlen. Sein Vater, ein Griot, ein traditioneller Sänger und Geschichtenerzähler, hat ihm ein Lied komponiert: "Mein Sohn wird endlich zum Mann, mein Sohn tritt eine große Reise an. Was immer du auf dem Weg siehst oder hörst, mein Sohn, hab Geduld. So wirst du dein Ziel erreichen."

Adoumba Indiaye holt ein zweites Tuch aus seiner Tasche, wickelt es um sein Gesicht. "Jetzt liegt alles an mir", sagt er. Dann hält vor ihm ein Motorrad; sein Schlepper wird ihn an den Stadtrand fahren, wo er auf einen Pick-up steigen wird. Begleiten darf man ihn nicht, schon jetzt schnauzt der Schlepper ihn an, ein sehniger Mann in Trainingsjacke: Was der Europäer hier zu suchen habe. Und was er mit dem riesigen Wasserkanister wolle, 25 Liter, dafür sei kein Platz im Auto. Adoumba Indiaye läuft zu einem kleinen Verkaufsstand ein paar Meter weiter und kauft zwei kleinere Kanister, mit denen schwingt er sich auf den Sitz hinter den Schlepper. Zweimal fünf Liter, das muss reichen bis Libyen. "Wird schon", murmelt er und knattert in die Dunkelheit.

Agadez, Niger, letzte Stadt am südlichen Rand der Sahara. Drehkreuz für die Migration nach Europa. Hauptstadt der Schlepper. Zwei Drittel aller Afrikaner, die Lampedusa erreichen, sind laut Schätzungen durch Agadez gekommen; bis zu 150 000 Durchreisende erwartet die Internationale Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr in dieser Stadt. Seit Mai gilt in Niger ein neues Gesetz, das Menschenschmuggel unter schwere Strafen stellt, doch bis jetzt hat das Gesetz nur dazu geführt, dass die Schlepper sich bemühen, ihr Geschäft etwas weniger öffentlich zu betreiben. Aufhalten lässt sich davon aber niemand. Es verdienen einfach zu viele Leute zu viel Geld damit.

Reportage: Colis Agubor, Migrant und Folteropfer.

Colis Agubor, Migrant und Folteropfer.

(Foto: Tobias Zick)

Einer der Schleuser hat sich zum Treffen bereit erklärt, nicht in seinem Haus, seinem "Ghetto", wie hier die Massenschlafstätten der Migranten heißen, sondern im Innenhof eines Hotels, das früher mal voller Touristen aus Europa war, bis das Geschäft mit den Touristen nach mehreren Entführungen durch islamistische Banden zusammenbrach. Per Motorrad fährt er vor: ein Mann wie ein Berg, Sonnenbrille im Haar, jungenhaftes Lächeln. Händedruck wie ein Schraubstock. Man soll ihn bei seinem Spitznamen nennen, Noma Darani. Noma: der Landarbeiter; Darani: der in der Trockenzeit Geborene. Er sei ursprünglich nicht von hier, er stammt aus dem Süden des Landes, sein Traum als Junge war es, eines Tages gut für seine Eltern zu sorgen. "Das habe ich immerhin geschafft", sagt er und mustert sein Gegenüber verschmitzt. "Migration", fügt er hinzu, "ist eine Aktivität, die Einkommen generiert. Welche Alternativen haben wir denn?"

Er hätte gern studiert, sagt er, oder wäre Beamter geworden, aber als Sohn von Kleinbauern? Keine Chance. Erst importierte er Kekse, Bonbons und Batterien aus dem benachbarten Nigeria, doch eines Tages beschlagnahmte der Zoll eine ganze Ladung. Er ging nach Libyen, wo es unter Gaddafi noch einiges zu tun gab für afrikanische Gastarbeiter; er arbeitete als Maurer in Tripolis und Misrata, "das waren gute Zeiten".

Dann, im Frühjahr 2011, erzählte ihm ein libyscher Bekannter von seinem Geschäft: "Reisenden auf dem Weg nach Europa behilflich sein". Der Mann meinte, er suche noch einen Verbindungsmann in Agadez, jemanden, der dort die Reisenden am Busbahnhof in Empfang nimmt, sie für ein paar Tage beherbergt und sie dann an die Fahrer der Pick-ups weiterreicht. Das macht Noma Darani jetzt seit vier Jahren: er reicht Menschen weiter. Er konnte sich schon ein Motorrad anschaffen, und bald wird er sich ein Haus kaufen. Sieben seiner zwölf Kinder gehen zur Schule, und es ist noch Geld übrig, um seine Eltern zu unterstützen. "Es lohnt sich", sagt er. "Aber ich lebe nicht in Frieden."

Seit dieses neue Gesetz in Kraft ist, seien mehrere seiner Kollegen verhaftet und ins Gefängnis gesperrt worden. Der offizielle Anlass für das Gesetz war der Fund von 92 Verdursteten nahe der Grenze zu Algerien, offiziell will die nigrische Regierung Menschen vor dem Tod in der Wüste bewahren. Nebenbei und nicht ganz uneigennützig hat die Europäische Union kräftig beratend mitgewirkt.

Dabei könne man es sich in seinem Business gar nicht leisten, das Leben seiner Kunden aufs Spiel zu setzen, sagt Noma Darani, "schon deswegen nicht, weil die Konkurrenz groß ist". Die Fahrer passen auf, dass niemand unterwegs von der Ladefläche fällt. Und jeder Passagier bekommt einen Stock, den er zwischen die Taschen und Kanister klemmt, auf denen man kauert. Der Stock sei "eine Art Sitzgurt". Bleibt trotz aller Vorsorge ein Wagen liegen, schicke man umgehend einen anderen hin, mit Wasser und Essen.

Reportage: Aklou Sidi Sidi, Vizepräsident der Regionalregierung von Agadez.

Aklou Sidi Sidi, Vizepräsident der Regionalregierung von Agadez.

(Foto: Tobias Zick)

Ein bisschen anders klingt das alles, wenn man sich unter den Helfern umhört, die sich in Agadez um die Gestrandeten kümmern. Zum Beispiel Maliki Hamidine, den Leiter eines "Transit-Zentrums", das die Internationale Organisation für Migration (IOM) vor einem halben Jahr am Rand von Agadez eröffnet hat. Nach Schätzungen der Organisation ist die Sahara ebenso tödlich für Migranten wie das Mittelmeer. Wie viele Menschen genau unterwegs in der Wüste liegen bleiben, diesem "riesigen Nirgendwo", das könnten nur die Schlepper selbst beantworten, sagt Maliki Hamidine.

Die IOM oder das Rote Kreuz kennen nur die Fälle, die durch Zufall bekannt werden. Den des jungen Ghanaers etwa, der nahe der Oasenstadt Bilma gefunden wurde, gerade noch rechtzeitig vor dem Verdursten, er stammelte nur unzusammenhängendes Zeug. Ein Senegalese behauptete unbeirrt und immer wieder, er sei Italiener. Die beiden sind in der Glut der Sonne verrückt geworden, aber sie haben überlebt. Anders als die zwei Dutzend Menschen, deren Pick-up vor zwei Jahren auf dem Weg zur libyschen Grenze verschwand, erst vor Kurzem wurde er zufällig gefunden. Manche der Leichen saßen noch mit zusammengelegten Händen auf der Ladefläche.

Maliki Hamidine kennt die Stöcke, die angeblich so effektiv wie Sitzgurte sein sollen, die aber nichts mehr nützen, wenn man während einer 72-stündigen Fahrt versehentlich kurz den Griff lockert. "Und wenn jemand von der Ladefläche fällt, bleiben die Fahrer oft gar nicht erst stehen." Immer wieder kommt es vor, dass ein Fahrer seine Passagiere in der Wüste zurücklässt; sich von einem anderen Fahrzeug mitnehmen lässt und lügt, er werde mit Ersatzteilen und Wasser schnellstmöglich zurückkehren.

Doch die betrügerischen Schlepper sind nur eine Spezies unter vielen, die Migranten auf dem Weg durch die Wüste fürchten müssen. Der Grund, warum die meisten Pick-ups immer Montagabends aufbrechen, ist einfach: Jeden Montagabend macht sich auch ein Konvoi von Militär und Polizei auf den Weg Richtung Norden. Es ist sicherer, wenn man in deren Windschatten fährt. Sicherer vor Banditen. Aber es kostet. An Checkpoints müssen die Migranten oft von der Ladefläche absteigen und zahlen, jedesmal 40 Euro; wer sich weigert, riskiert, mit Stöcken, Gürteln und Schläuchen verprügelt zu werden.

Für die Gestrandeten und die Geprügelten und die Ausgenommenen hat die IOM Anfang des Jahres dieses Zentrum eröffnet. Maliki Hamidine führt den Besucher in den Innenhof, zwei Hektar groß. Mittendrin zwei Fußballtore im Sand. Es ist Platz für 400 Menschen - aber nur ein paar Männer sitzen da im Schatten eines Wellblechdachs. Einer von ihnen kauert etwas abseits auf seiner Bastmatte, starrt auf die Wand gegenüber, sein nackter Oberkörper ist von Brand- und Schnittwunden übersät, die Haut an Unterarmen und Hals verschrumpelt, das rechte Ohr verstümmelt. Wer den Mann gefoltert hat, weiß Maliki Hamidine nicht, er hat erst vor zwei Tagen wieder angefangen zu sprechen.

Mit starrem Blick und zitternden Lippen beginnt der junge Mann zu erzählen: Er heiße Colis Agubor, sei 34 Jahre alt, stamme aus Benin City, Nigeria. Er wisse nur noch, dass er im Dunkeln durch einen Ort ging und plötzlich von hinten niedergeschlagen wurde. Er verlor das Bewusstsein, wachte irgendwann in einer Zelle auf, sah die blutenden Wunden an seinem Körper, schrie. Ob es Polizisten waren, die ihn so zugerichtet hatten, oder gewöhnliche Kriminelle, oder libysche Banditen, die eine Polizeistation besetzt hatten, weiß er nicht. Aber er weiß, dass sein vierjähriger Sohn Dustin heißt und die zweijährige Tochter Joy, und dass er jetzt zu ihnen zurückwill, auch wenn er mit leeren Händen kommt: Aber die Tasche mit den Kleidern und den Telefonnummern ist weg. "Meine Tasche", murmelt er immer wieder, "wo ist meine Tasche?"

Reportage: Noma Darani, Schlepper.

Noma Darani, Schlepper.

(Foto: Tobias Zick)

Verbrechen wie diese könnte man nur verhindern, wenn man den Menschen legale Wege nach Europa eröffnet, sagen die Mitarbeiter der IOM, des Roten Kreuzes, das sagt auch Mohamed Husseini Namadina, einer der führenden Imame von Agadez. Immer wieder sieht er junge Muslime aus Gambia oder Senegal vor der Großen Moschee beten, er sieht ihre Ehrfurcht vor dem Minarett aus Lehm, erbaut 1515, "allein von der Segenskraft, die auf diesem Bauwerk liegt, fühlen sich viele bestärkt, in die Wüste aufzubrechen".

Immer wieder spreche er junge Männer an und versuche sie umzustimmen, mit Botschaften aus dem Koran: "Ein Muslim soll durchaus reisen", sagt er, "aber nicht auf diese Weise." Für eine Reise nach den Regeln des Islam müsse der Familie, die man daheim zurücklässt, der genaue Zielort bekannt sein, und es müsse klar sein, was man an jenem Ort tun wird. So gelinge es ihm immer wieder, junge Muslime abzuhalten von der tödlichen Reise. Einige seien umgekehrt, zurück zu ihren Familien. In fünf Jahren allerdings nicht mehr als zwei Dutzend. "Wenn ein junger Mann sich diese Idee von Europa so fest in den Kopf gesetzt hat", sagt der Imam, "ist es nicht leicht, ihn umzustimmen."

Die EU will in Agadez noch dieses Jahr ein "multifunktionales Zentrum" einrichten, in dem westafrikanische Migranten, die in Europa keine Aussicht auf Asyl haben, zur Umkehr bewogen werden sollen. Aber selbst europäische Beamte und Diplomaten in der Region zweifeln daran, dass das helfen wird: Die geringen Besucherzahlen im IOM-Zentrum zeigen doch, fast niemand will zurück, fast niemand will sich auf seiner Reise nach Europa aufhalten lassen.

Reportage: Mohamed Husseini Namadina, Imam.

Mohamed Husseini Namadina, Imam.

(Foto: Tobias Zick)

Und die nigrischen Behörden verbinden mit dem Thema nicht unbedingt dasselbe wie die europäischen. "Für uns in Agadez ist Migration in erster Linie ein Wirtschaftsfaktor", sagt Aklou Sidi Sidi, Vizepräsident der Regionalregierung, ehemaliger Tuareg-Rebell mit weißem Turban und Schnauzbart, "ihr Europäer seid darüber mehr beunruhigt als wir." Seit dem Niedergang des Tourismus, ausgelöst durch Reisewarnungen westlicher Regierungen, habe Agadez keine wirtschaftlichen Alternativen. "Wir werden jedenfalls nichts umsetzen", sagt Aklou Sidi Sidi, "was den Interessen unseres Volkes zuwiderläuft."

Drei Tage nach seinem Aufbruch aus Agadez meldet sich Adoumba Indiaye, der junge Senegalese, per SMS: Er sei in Dirkou angekommen, der letzten Oasenstadt vor der Grenze, alles gut gelaufen, keine Toten, das Wasser hat auch gereicht. Morgen geht es, so Gott will, weiter nach Libyen.

Und Noma Darani, der Schlepper, sagt: Wenn sich die wirtschaftliche Lage bessern würde und er eine Alternative fände, dann würde er "sofort damit aufhören". Schließlich leide er als guter Muslim manchmal darunter, dass er bei dieser Arbeit immer wieder lügen müsse - obwohl ihm seine Religion dies doch verbietet. Doch bis auf Weiteres sieht er leider keine Alternative. "Selbst wenn man auf die Pick-ups schießen würde, die Überlebenden würden trotzdem versuchen weiterzukommen."

Und dann hat er, der Schlepper, noch eine Botschaft an die Leute in Europa. "Wenn diese Leute bei Ihnen ankommen", sagt Noma Darani, "bitte seien Sie nett zu ihnen. Es sind doch Menschen."

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