Reportage:"Jetzt wird es ernst"

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Fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erbt Zwi Israeli in Jerusalem eine Keksdose mit alten Briefen aus Berlin - geschrieben von seinen Großeltern während der Nazizeit.

Von Peter Münch

Mein lieb, lieb Hannchen", schreibt Aenne Falk am 4. Mai 1936 an ihre Tochter Hannelore. Eingehend erkundigt sie sich nach ihrem Wohlergehen: "Singt und musiziert Ihr viel?", fragt sie. "Bekommt Ihr viel Milch, Butter und Eier? Daß ihr so viel Kühe, Hühner, Maulesel etc. pp. habt, hätte ich nicht gedacht." Es sind vier Seiten voller Liebe und Neugier, geschrieben aus Berlin an die 16-jährige Tochter, die nun im fernen Palästina lebt in einem Kibbuz jüdischer Pioniere. "Mach Dir um uns keine Sorgen", schreibt die Mutter noch, "wir kommen durch!"

Mit dem Brief in der Hand sitzt Zwi Israeli im Wohnzimmer seines wunderschönen Hauses in der "German Colony" von Jerusalem. Mächtige Steine, geschmackvolle Möbel, viele Bücher - es ist ein behaglicher Platz fürs Alter. 70 Jahre ist er alt und voll sanfter Energie. Vier Jahrzehnte lang hat er als Journalist gearbeitet, er war Nachrichtenredakteur beim Radiosender Kol Israel. Ein Leben im ständigen Strom der Konflikte und Katastrophen. Das hat er hinter sich. "Seit zehn Jahren bin ich Töpfer", sagt er strahlend. Man kann das sehen in seinem Haus und im Garten. Jede Schale hier, jeder Krug ist eigene Handarbeit, so wie er auch das ganze Haus selbst gebaut hat im Laufe der Zeit für sich und seine Frau, die vier Kinder und mittlerweile sieben Enkel.

Den Brief legt Zwi Israeli sorgfältig gefaltet wieder zurück zu all den anderen Briefen in eine blecherne Keksdose. Auf dem Deckel ist der Pariser Eiffelturm zu sehen. Der Deckel lässt sich kaum noch schließen, so voll ist die Dose. Für ihren Besitzer ist diese Keksdose eine Schatzkiste, er hat sie gefunden vor anderthalb Jahren, im Nachlass seiner Mutter. Mit 94 Jahren war Hannelore Falk, die längst schon ihren Namen in Chana Israeli geändert hatte, im Dezember 2013 verstorben - und den Nachkommen gab sie den Hinweis, dass sie nicht nur ihren Besitz erben würden. Sie erhielten auch 350 Briefe, die 75 Jahre lang in dieser Keksdose versteckt und verschlossen waren. Zwi Israeli wusste bis dahin nichts von den Briefen und fast nichts von seinen Großeltern. "Sie existierten einfach nicht", sagt er. Es war nicht nur ein Geheimnis. Es war ein Tabu.

Liebe, Hoffnung, aber auch Angst: All das spricht aus diesen Briefen aus den Jahren 1936 bis 1942

"Warum hat sie nie darüber gesprochen? Warum hat sie es vor mir verborgen?", fragt er heute - und gibt sich selbst die Antwort: "Es ist eine Tragödie, meine Mutter war total allein in einer Welt voll Krieg und Horror. Es war ein solches Trauma, dass sie sich nie davon erholte und nicht darüber reden wollte." Aber er fragt sich auch, warum er selbst - der Journalist, der Faktenmensch, der Wahrheitssucher - früher nie hartnäckig nachgefragt hat. Die Erklärung: "In meiner Jugend in den Fünfzigerjahren sprach hier keiner über den Holocaust. Wir wuchsen auf als mutige, starke Kämpfer, und wir wollten nichts hören von denen, die sich wie Schafe zur Schlachtbank hatten führen lassen."

Doch nun geht er den nie gestellten Fragen nach, denn jetzt hat er die Briefe, die ihm Zugang zu seiner Familiengeschichte verschafft haben. Jeden einzelnen hat er aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt, im Eigenverlag hat er die Briefe dann als Buch herausgegeben. Es hat gedauert, denn sein Deutsch aus Kindertagen war wie eingerostet. Doch alles löste sich beim Lesen der warmen, elegant geschriebenen Worte. "Beim Übersetzen habe ich die ganze Zeit geweint, aus Trauer und vor Freude."

Wie eine Schatzkiste aus der Vergangenheit: Zwi Israeli hat die Briefe seiner Großeltern Aenne und Erich übersetzt. Für die Enkel. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Entdeckt hat Zwi Israeli bei seiner Arbeit eine Geschichte über die elterliche Liebe in Zeiten der Finsternis. Die jüdische Familie Falk lebte mit den beiden Töchtern Hannelore und Eva gut situiert in Berlin-Dahlem. Erich Falk, Jahrgang 1880, war im Bankgeschäft tätig. Im Ersten Weltkrieg hatte er auf deutscher Seite gekämpft, es gibt Fotos, die ihn stolz in Uniform zeigen. Er war assimiliert, unreligiös und als Deutscher natürlich auch ein Vereinsmeier, besonders engagiert im Wanderverein. 1929 hat er ein Büchlein veröffentlicht mit dem Titel "Jugendwanderer auf großer Fahrt". Er hat es seiner Tochter Hannelore gewidmet, "zur Erinnerung an das Paradies der Jugend".

Die Vertreibung aus dem Paradies begann mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Erich Falk verlor seine Arbeit, die Töchter wurden von der Schule geworfen - und als Ausweg wenigstens für die Kinder bot sich die "Aliyat Hanoar" an, die von zionistischen Gruppen organisierte Jugend-Einwanderung ins Gelobte Land. Im Frühjahr 1936 bestieg erst Hannelore ein Schiff Richtung Haifa, anderthalb Jahre später folgte Eva, die schon bald darauf in einem Kibbuz an Typhus starb. Die Eltern, so war es besprochen und geplant, wollten später ebenfalls nach Palästina kommen.

Geschrieben haben sie in der Anfangszeit fast jede Woche. Die Briefe stammen aus den Jahren 1936 bis 1942, die Eltern selbst haben sie, meist links oben, einzeln nummeriert. "Sie hatten ein Gefühl für die Historie und haben meine Mutter aufgefordert, sie alle aufzubewahren", erklärt Zwi Israeli.

Die Liebe, die Hoffnung, aber auch die Angst: All das spricht aus diesen Briefen. Wenn die Mutter Aenne an ihre Tochter schreibt - an "Mein Hannechen, mein Gutes", an "Mein Gold-Mariechen" oder "Mein kleines Vernunfts-Kästchen" -, dann zeichnet sie ein Bild jener Jahre, ein Bild der Bedrängnis. Viel ist vom deutschen Alltag die Rede, der beschwerlicher wird, von den Umzügen in immer kleinere Wohnungen. Aber die Tochter soll auch nicht allzu sorgenvoll zurückblicken nach Berlin, sie soll Fuß fassen und Sicherheit finden in ihrer neuen Heimat. "Lass Dich nicht unterkriegen und sei stark", heißt es dann. Und: "Pflege Dein Haar gut."

Der Vater ist sachlicher, direkter, klarer. Er schreibt über seine zunehmenden gesundheitlichen Probleme, dass man "ja doppelt gehandicapt ist, wenn man hier Jude und außerdem alt und etwas klapprig ist". Er berichtet über die immer prekärer werdende wirtschaftliche Lage der Familie, von Arbeitslosenunterstützung und Mietbeihilfen der christlichen Wohlfahrt. "Nun wirst Du Dich fragen, warum ich als früherer Verdiener mit dieser miesen Schnorrer-Existenz nicht unzufrieden bin? Weil ich es nicht ohne Weiteres ändern kann", schreibt er am 14. Juni 1937. Doch auch der Vater legt großen Wert darauf, die Tochter zu beruhigen: "Satt sind wir immer noch geworden, und gut schlafen können wir auch. Was darüber ist, das ist Luxus, d.h. entbehrlich."

Die Korrespondenz schleudert ihn wie eine Zeitmaschine zurück in das Berlin der Dreißigerjahre

Wenn er das heute lese, bekomme er eine Gänsehaut, sagt Zwi Israeli. "Es ist jedes Mal wie eine Reise in eine andere Welt." Die Zeitmaschine schleudert ihn durchs Berlin der Dreißigerjahre und zugleich durch das britische Mandatsgebiet Palästina, in dem junge Mädchen wie seine Mutter mit bloßen Händen ein Land der Hoffnung und einen rettenden Hafen mit aufbauen sollten. Er selbst ist schon in diesem Land geboren, er hat die Verfolgung in der Diaspora und die enormen Probleme der Pioniere nie erlebt.

Zwi Israeli lebt in Jerusalem. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Nun blickt er vom Sofa aus hinüber zu seinem Wohnzimmerregal, dorthin, wo ein gerahmtes Bild seiner Mutter inmitten der vielen Bücher steht. Und diesen Büchern hat er nun ein neues, ein eigenes hinzugefügt. Ein Buch, das ihn verbindet mit seinen Wurzeln. "Sie sind so wundervolle Menschen", sagt er. "Ich bin stolz, ein Nachkomme dieser Familie zu sein."

Mit seinem Sohn ist Zwi Israeli vor zwei Jahren nach Berlin geflogen. Auf den Spuren des Großvaters

Den nie persönlich erlebten Großvater hat Zwi Israeli durch die Briefe kennengelernt, als fantasievollen Denker und als glühenden philosophischen Kopf. Denn viel lieber als über die eigene missliche Lage hat Erich Falk in den Briefen an seine Tochter zum Beispiel über Nietzsches "Zarathustra" geschrieben. Das sei ein "sehr bedeutsames Werk", lässt er sie wissen, "auf steiler Höhe der weltanschaulichen Philosophie". Er mokiert sich darüber, dass ausgerechnet sein Nietzsche "im gegenwärtigen Deutschland als eine geistige Grundsäule der Bewegung gilt, die sich zum Führer-Prinzip bekennt". Und er lästert, "daß die Mehrzahl der Deutschen von Nietzsche selbst nur so viel gelesen oder verstanden hat, wie sie etwa von Goethes ,Götz von Berlichingen' nur den sogenannten Kernspruch kennen."

Ein wenig Häme über die tumben Nazis hat sich der Großvater noch erlaubt, deren brutale Macht hat er indes so lange wie möglich ignoriert. Noch im Juni 1938 schreibt er an seine Tochter: "Ich hoffe, daß man Euch nicht mit übertriebenen Meldungen unnötig geängstigt hat. Tatsächlich ist bei uns alles ganz unverändert. Nur die Nervosität ist natürlich bei allen unseren Freunden so groß, da könnte ein Dutzend Nervenärzte bequem von leben."

Wenige Monate darauf allerdings, nach der Pogromnacht im November 1938, ist auch er alarmiert: "Jetzt wird es ernst mit unserer Ausreise, denn im April müssen Mutti und ich Deutschland verlassen - andernfalls wird es, gelinde gesagt, lebensgefährlich." An die Tochter ergeht die Bitte, bei den britischen Behörden ein "Eltern-Zertifikat" zur Einreise nach Palästina zu beantragen. "Aber, Lore Kind, es eilt!"

Solche Sätze sind es, die Zwi Israeli noch heute die Tränen in die Augen treiben können. Dem Großvater fühlt er sich jetzt so nah, dass ihm sein Unglück Schmerz bereitet, und nicht nur ihm selber geht es so. "Vor zwei Jahren ist mein Sohn zu mir gekommen und hat gesagt: Lass uns nach Berlin fahren", erzählt er. Ausgerechnet Berlin.

Zwi Israeli hat ein schwieriges Verhältnis zu Deutschland. Immer schon gehabt. Als Journalist ist er ein paar Mal dort gewesen, und jedes Mal hat er sich unwohl gefühlt. Er erinnert sich an einen Schaffner im Nachtzug, der "Achtung, Achtung" rief. "Da habe ich gezittert, das ist wohl in meiner DNA", meint er. "Aber meinem Sohn habe ich diese Reise ja nicht abschlagen können." Also sind sie zusammen nach Berlin geflogen. Zur Spurensuche. Sie sind von Haus zu Haus gezogen, und irgendwann standen sie in Weißensee auf dem jüdischen Friedhof, an einem einfachen Grab. "Es war furchtbar kalt, minus zehn Grad, und es hat geschneit", sagt Zwi Israeli, "aber wir hatten das Grab von Erich Falk gefunden."

Die Ausreise nach Palästina war für Erich Falk ein Traum geblieben. Er starb 1941 im Alter von 61 Jahren an seinen Krankheiten, seine Frau blieb allein in Berlin zurück. Schon mit Kriegsbeginn 1939 war der Briefkontakt zur Tochter schwieriger geworden, ab und an nur wurden über das Rote Kreuz noch Telegramme ausgetauscht. Doch außer den Briefen hatte der Vater seiner Tochter Hannelore zuvor noch etwas anderes mit der Post geschickt. Das Manuskript für einen Roman. Titel: "Die weißen Reiter".

"Es ist eine Tragödie, sie war total allein in einer Welt voll Krieg und Horror." - Zwi Israeli über seine Großmutter. (Foto: Alessandra Schellnegger)

In einem grünen Plastikhefter liegen die Romanseiten vor Zwi Israeli nun auf dem Wohnzimmertisch, neben der Keksdose. "Das Buch sollte ihnen den Weg ebnen nach Palästina", sagt er. Der Plan klang einfach und bestechend: Eine Veröffentlichung in den USA, der Schweiz und in Jerusalem sollten dem Ehepaar Falk jene 1000 Pfund einbringen, die von der britischen Mandatsmacht zur Erteilung der Einreiseerlaubnis gefordert wurden. "Natürlich hat das nicht geklappt", sagt Zwi Israeli. Bis heute ist das Buch unveröffentlicht.

"Die weißen Reiter" ist ein utopischer Roman in der Tradition von Theodor Herzl, garniert mit ein wenig Jules Vernes, geschrieben 1937/38. Zehn Jahre vor der Staatsgründung Israels nimmt Erich Falk darin die ruhmreiche Eroberung eines Reichs namens "Erez Israel Hagadol" vorweg, also Groß-Israel. Eingenommen wird es von einer jüdischen Reiterschar, die sich in Raumschiffen fortbewegt. Regiert wird es von "Exzellenz Abba", der wohl niemand anders ist als Falk selbst. "Abba" heißt Vater im Hebräischen, zur Seite steht ihm "Prinzessin Chava", die tote Tochter Eva also, und natürlich taucht auch Hannelore auf, als Chana. Groß-Israel ist im Buch ein idealer Staat, zumindest für das jüdische "Volk der Arbeit". Die Araber kommen weniger gut weg, werden als "primitive und raffgierige Räuber" beschrieben und allesamt nach Iran abgeschoben. In Jerusalem entsteht das Hauptquartier der Weißen Reiter, der muslimische Felsendom und die Al-Aksa-Moschee werden dafür eingeebnet. Harter Stoff also, politisch ziemlich unkorrekt, doch für Falk war der Roman wohl ein Fluchtpunkt, ein Gedankenspiel ohne Grenzen.

"Alle Geschwister fort! Keine Adresse. Unsägliche Trauer! Lebt wohl."

Vielleicht wird Zwi Israeli sich auch noch daran machen, die Utopie des Großvaters zu veröffentlichen. "Natürlich ist einiges darin ein Problem für mich, ideologisch", sagt er und erzählt von seinem Sohn, der richtig erbost war über manche Fantasien seines Urgroßvaters. "Aber man muss wohl versuchen, das aus der Situation heraus zu verstehen, aus der Welt der Ideen jener Zeit", meint Zwi Israeli.

Zunächst sind ihm die Briefe wichtiger, die Berichte aus der Wirklichkeit, die Worte seiner Großeltern an seine Mutter. Als das Brief-Buch fertig war, hat sich die ganze Familie bei ihm im Wohnzimmer getroffen. "Jeder hat sich ein Kapitel ausgesucht und vorgelesen, wir haben stundenlang gelesen", erzählt er. Inzwischen hat die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem sich gemeldet und nach den Briefen gefragt. "Irgendwann werden sie dort sein", sagt Zwi Israeli. Doch bis auf Weiteres will er sie noch in seiner Nähe haben. "Vielleicht macht meine Tochter einmal etwas daraus", meint er, "das kann ein Roman sein, ein Theaterstück, ein Film. Das kann alles sein."

Dann zieht er noch ein Telegramm aus dem Stapel der Briefe, datiert auf den 1. Oktober 1942: "Alle Geschwister fort! Keine Adresse. Unsägliche Trauer! Bald muss auch ich verreisen, lebt wohl, Abschiedsgrüsse allesamt. Betet für uns! In Liebe. Aenne."

Es ist das letzte Lebenszeichen von Aenne Falk. Sie starb in Auschwitz.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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