Reportage:Gegen den Strom

Wasserkraft ist die wichtigste saubere Energiequelle in Europa. Doch neue Kraftwerke stoßen auf Widerstand. Ein Besuch im Ötztal , wo sich viel Ärger aufgestaut hat.

Von Titus Arnu

Das Leben erwacht im oberen Platzertal. Es liegt noch ziemlich viel Schnee Anfang Juni auf 2300 Metern Höhe, aber dort, wo die Sonne länger hin scheint, explodiert die Natur. Die Bergwiese sieht aus wie ein pointillistisches Gemälde: hellgrünes Gras, dazwischen lila, blaue und gelbe Farbtupfer - die Blüten von Alpenastern, Enzianen und Arnika. An den Hängen stehen Murmeltiere auf ihren Beobachtungsposten. Ihre grellen Pfiffe hallen von den Felsen wider.

Es kommt nicht oft vor, dass die Nager Besuch von einem Wanderer bekommen. Das Platzertal liegt abgeschieden in den Ötztaler Alpen, zwischen Reschenpass, Inntal und Kaunertaler Gletscher. Ein dreistündiger Fußmarsch führt vom Bergdorf Greit aus in den Talkessel. Verfallene Hütten zeugen davon, dass hier früher mal Menschen gehaust und gearbeitet haben. Bis vor gut 100 Jahren wurde im Platzertal bis in 3000 Meter Höhe Blei und Kupfererz abgebaut. Seit 1910 gehört die Gegend wieder ganz den Murmeltieren, den Steinböcken, den Schneehühnern und den Steinadlern. Von ein paar Wochen im Hochsommer abgesehen, wenn auf der Platzeralm Kühe weiden, ist es sehr ruhig hier oben.

Nur der Platzerbach rauscht ziemlich eindrucksvoll, besonders im Frühsommer, wenn der Schnee unterhalb der Gebhardspitzen schmilzt. Das Wasser kommt von den beiden Gletschern an der Nordseite der Dreitausender, es sprudelt aus Löchern auf der Wiese, es schießt unter Schneefeldern hervor, sammelt sich in Becken und Rinnen, vereint sich zu einem kleinen Fluss, der sich über die blühende Wiese schlängelt und weiter unten über Felsstufen in eine Schlucht donnert. Eine Naturgewalt, die von 2500 Metern Höhe ungebändigt hinabrauscht bis auf 930 Meter, nach Tösens im Inntal.

Noch. Denn wenn es nach den Plänen der Tiroler Wasserkraft AG (Tiwag) geht, wird im Platzertal ein 120 Meter hoher und 450 Meter breiter Staudamm gebaut, der den Bach aufstaut und das Hochtal in einen künstlichen See verwandelt. Das gewaltige Becken mit 42 Millionen Kubikmetern Fassungsvermögen wäre aber nur Teil eines riesigen Wasserkraftprojekts. Für den Ausbau des Kraftwerks Kaunertal will die Tiwag vier ökologisch intakte Wildflüsse über 25 Kilometer lange Stollensysteme in den bereits bestehenden Gepatschspeicher umleiten und diesen mit dem neuen Platzertalspeicher verbinden (siehe Karte). Um die riesigen Speicherseen zu füllen, reicht das Wasser des Platzerbachs nicht aus - die Tiwag plant, drei Täler weiter die Gurgler und die Venter Ache anzuzapfen und das Wasser bis ins Platzertal zu pumpen. Die Bauarbeiten würden acht Jahre dauern und mehrere Schutzgebiete bedrohen.

Reportage: Ungebändigte Kraft: Der Platzerbach rauscht durch ein unberührtes Hochtal. Genau hier plant die Tiroler Wasserkraft AG einen 120 Meter hohen Staudamm.

Ungebändigte Kraft: Der Platzerbach rauscht durch ein unberührtes Hochtal. Genau hier plant die Tiroler Wasserkraft AG einen 120 Meter hohen Staudamm.

(Foto: Titus Arnu)

Seitdem die Tiwag vor zwölf Jahren 16 Standorte für neue oder modernisierte Wasserkraftwerke in Tirol ins Auge fasste, regt sich Widerstand. In den Tälern formierten sich Bürgerinitiativen. Lokalpolitiker wandten sich von der Regierung und der landeseigenen Tiwag ab. Eine Petition mit 20 000 Unterschriften ging bei der Landesregierung ein. Naturschutzverbände wie WWF und Mountain Wilderness machten gemeinsam mit Bürgerinitiativen, Fischereiorganisationen und Kajakschulen gegen den Energiekonzern mobil. Bauern aus dem Ötztal drohten mit Gegenwehr: "Um Leitungen zu graben, müsste die Tiwag durch unser Land, das werden wir verteidigen", sagte Reinhard Scheiber, Obmann der Agrargemeinschaft Obergurgl, bei einer Versammlung. "Wenn es sein muss, mit Gabeln und Sensen."

"Wir müssen aufpassen, dass nicht die letzten intakten Wildflüsse zerstört werden."

Die Menschen im Kaunertal, im Ötztal, in Pfunds und Lüsens unterhalb vom Platzertal lehnen das Großprojekt mehrheitlich ab. Das ist nachvollziehbar, aber es führt auch zu einer schwierig zu beantwortenden Grundfrage: Wie viel Natur darf man zerstören, um saubere Energie zu gewinnen? Und wie lässt sich die europäische Energiewende jemals umsetzen, wenn selbst Grünen-Wähler und Naturschützer gegen Wasserkraftprojekte auf die Barrikaden gehen? Es ist ähnlich wie bei der Diskussion um sauberen Strom in Deutschland: Windkraft, ja bitte - aber bitte kein Windrad in Sichtweite. "Wasser ist Tirols weißes Gold", sagt Ingrid Felipe, Tiroler Landesrätin für Verkehr, Natur- und Umweltschutz. Die 37-jährige Grünen-Politikerin ist seit 2013 in der Landesregierung, deren erklärtes Ziel die Energiewende ist. "Wir wollen bis zum Jahr 2050 bei halbiertem Energiebedarf ohne Öl und Gas auskommen und uns selbst mit erneuerbarer Energie aus heimischer Erzeugung versorgen", sagt Ingrid Felipe, Atomkraft sei keine Option. Auch die Tiwag "unterstützt die nationalen und europäischen Energieziele und ist treibende Kraft für den ökologischen Wandel in Tirol", wie es im Leitbild des Unternehmens heißt, "wir streben dabei eine nachhaltige, ökologische und umweltverträgliche Nutzung dieser erneuerbaren Ressource an."

Doch was ist nachhaltig, was umweltverträglich? Aus ökologischer Sicht wäre das Drei-Täler-Pumpspeicherkraftwerk ein Desaster. Das von menschlichen Eingriffen fast unberührte Platzertal beherbergt EU-rechtlich geschützte Lebensräume: alpine Moorlandschaften, Trockenbiotope und selten gewordene "mäandrierende Gewässerabschnitte". Weiter unten, im Inntal, gibt es eine Schnellstraße, Industriebauten, Städte - und mehrere Wasserkraftwerke. Auf dem Weg ins Platzertal kommt man bei Prutz an einer Großbaustelle vorbei: Im Oberinntal entsteht derzeit das Gemeinschaftskraftwerk Inn (GKI) - das größte im Alpenraum neu gebaute Laufwasserkraftwerk. In Ovella (Schweiz) wird dem Inn Wasser entnommen und durch einen 23,2 Kilometer langen Stollen bis Prutz in Tirol geleitet, wo es Turbinen antreibt. Von 2018 an soll das E-Werk 400 Gigawattstunden Strom jährlich produzieren. Schon jetzt erwirtschaftet Tirol mehr Strom, als im Bundesland benötigt wird.

Mit rund 70 Prozent Anteil an den alternativen Energien ist Wasserkraft die wichtigste regenerative Energiequelle in der EU. Österreich hat geografisch gesehen optimale Voraussetzungen, um saubere Energie zu produzieren: viel Wasser, viel Gefälle. Der Wasserkraft-Anteil liegt in Österreich bereits bei mehr als 60 Prozent (in Deutschland dagegen bei nur vier Prozent), in Tirol sogar bei mehr als 90 Prozent. "Österreich hat bereits 5000 Wasserkraftwerke, und jedes fünfte davon steht in Tirol", sagt Christoph Walder, Leiter des Alpenflüsse-Programms beim österreichischen WWF. "Prinzipiell sind wir für Wasserkraft", sagt Walder, "aber gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass nicht die letzten intakten Wildflüsse zerstört werden."

Reportage: Geplantes Wasserkraft-Projekt in den Ötztaler Alpen. SZ-Karte

Geplantes Wasserkraft-Projekt in den Ötztaler Alpen. SZ-Karte

Die Studie zur Prüfung der Umweltverträglichkeit umfasst 13000 Seiten und 650 Pläne

Dafür setzt sich auch Markus Wilhelm ein, Bergbauer und Umweltaktivist aus Sölden. Seit 2004 kämpft er gegen die Projekte der Tiwag in den Ötztaler Alpen. Anfangs galt er im Tal noch als Querulant. Nicht wenige Unternehmer und Lokalpolitiker hofften auf lukrative Deals mit der Tiwag - Seilbahngesellschaften hätten zum Beispiel Baugrund und Zufahrten gegen billigen Strom eintauschen können. Dann fand Wilhelm immer mehr Verbündete: Kajaksportler, die befürchteten, die Ötztaler Ache könnte zu einem Rinnsal verkommen; Bauern, die verhindern wollten, dass ihre Felder austrocknen; den Ötztaler Tourismusverein, der zunächst für das Tiwag-Projekt war, sich aber schließlich ganz klar gegen die Ableitung der Venter und Gurgler Ache aussprach. Und im April 2016, nach mehr als zehn Jahren, fasste auch der Söldener Gemeinderat einen einstimmigen Beschluss gegen die Ableitung der Ötztaler Gewässer Richtung Kauner- und Platzertal. Und zwar mit dem Zusatz, die Sache sei bei anstehenden Gesprächen mit der Tiwag oder der Landesregierung "unverhandelbar". Die Söldener würden lieber ein eigenes, kleines Wasserkraftwerk für den Eigenbedarf bauen - welches aber ebenfalls noch nicht genehmigt ist.

Die Umweltverträglichkeitsprüfung für das Drei-Täler-Projekt mit dem Speichersee Platzertal umfasst 13 000 Seiten und 650 Pläne. Das Verfahren wurde 2012 von der Tiwag eingereicht und 2015 wegen nicht geklärter Wasserrechtsansprüche "ruhend gestellt". Juristisch und politisch ist keine Lösung absehbar. Es erscheint unwahrscheinlich, dass im Platzertal bald gebaut wird - aber ausgeschlossen ist es noch nicht. Also eine Erfolgsgeschichte für den Naturschutz? Nicht nur. "Die Zeit hat uns auch geholfen", sagt Markus Wilhelm. Denn die Entwicklung auf dem Strompreis-Markt hat das geplante Projekt wirtschaftlich unattraktiv gemacht. Pumpspeicherkraftwerke waren früher ein Erfolgsmodell: Mit billigem Strom wird nachts Wasser nach oben gepumpt, am Tag rauscht es wieder nach unten und erzeugt Strom. Die Preisdifferenz zwischen Tag- und Nachtstrom warf lange ordentliche Erträge ab. Das ist heute nicht mehr so. Tagsüber produzieren auch Wind- und Solaranlagen Strom - manchmal so viel, dass sie abgeschaltet werden müssen, damit das Netz nicht überlastet wird. Pumpspeicherkraftwerke seien deshalb "Auslaufmodelle", stellt ein WWF-Gutachten fest.

Wozu dann noch ein gigantisches Kavernenkraftwerk, das schätzungsweise 1,3 Milliarden Euro kosten und unberührte Natur zerstören würde? "Das Projekt kommt aus einer anderen Ära", sagt Christoph Walder vom WWF. "Gegen das GKI spricht nicht sehr viel, gegen das Kaunertal-Projekt schon", findet er. Auch als Naturschützer müsse man allerdings einen "moderaten Ausbau" der Wasserkraftwerke hinnehmen. Was moderat ist und was nicht, muss immer wieder neu definiert werden, letzten Endes von Gerichten.

Ganz oben im Platzertal weist nur wenig auf den Kampf der Umweltschützer gegen den Energiekonzern hin. An mehreren Stellen ragen seltsame graue Pfähle aus dem Boden. Schon vor fünf Jahren führte die Tiwag hier geologische Erkundungen durch, die Bohrlöcher sind noch zu sehen. Die Forststraße zur Platzeralm wurde damals verbreitert und befestigt, damit die schweren Maschinen überhaupt in den Talkessel gelangten. Die Riesenbohrer sind längst wieder weg. Der Weg gehört nun den Wanderern und Mountainbikern. Ab und zu sieht man ein Murmeltier rüberhuschen.

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