Reportage:Die Mutprobe

Negin Khpalwak wuchs in dem Glauben auf, dass Frauen kein Instrument spielen dürfen. Heute ist die 18-Jährige dabei, die erste Dirigentin Afghanistans zu werden.

Von Stefan Klein

Negin lässt sich nichts anmerken, aber man kann doch ahnen, dass da eine Ungeduld ist, die sie nur mit Mühe zügelt. Es ist Camilo Jauregui, ihr Lehrer, der dirigiert, und sie, die Schülerin, kann im Moment nichts anderes tun als zusehen und mit dem rechten Arm die Figuren imitieren, die der Mann am Dirigierpult mit dem Taktstock schwungvoll in die Luft malt. Es ist eine Art von Schattendirigieren, so wie Trockenschwimmen, nicht das Wahre, nicht das Echte, aber doch eine unverzichtbare Etappe beim Erlernen einer schwierigen Kunst.

Sultan-e-Qalbha heißt das leicht schwermütige Stück, König des Herzens. Crescendo, ruft Camilo Jauregui den Musikerinnen zu, lauter werden! Es sind zwei Dutzend junge Frauen, die mit ihren Instrumenten vor ihm sitzen, klassischen Instrumenten wie Oboe, Cello, Bratsche, Violine und Klarinette, aber auch solchen wie Sitar und Rubab, Zupfinstrumente aus der Region. Hinter dem Orchester am anderen Ende des Raums, dem Dirigenten gegenüber, steht Negin und dirigiert mit. Aber dann hält sie es nicht mehr aus. Plötzlich steht sie neben Camilo Jauregui am Pult und sagt: "Lassen Sie mich mal?"

Kabul galt einst als Paris Zentralasiens, es war eine kulturell geschliffene Stadt, aber inzwischen ist es ein Ort zum Fürchten, vollgepfropft mit abstoßend hässlichen Betonmauern, mit Barrieren, Schlagbäumen, Wachtürmen, Stacheldraht und scharf bewachten metallenen Toren. Doch auch in der unwirtlichsten Wüste gibt es Oasen, und dies ist eine davon. Mauer, großes Tor und Schranke auch hier, aber bei der Leibesvisitation hört man schon klingendes Spiel aus dem Gebäude. Viele Kinder sind auf dem Hof, darunter drei Knirpse, die neugierig näherkommen.

"Welches Instrument spielst du?", fragt einer den Reporter.

"Leider keins. Und du?"

"Sitar und Trompete."

So ist das im Afghanischen Nationalinstitut für Musik, jeder spielt hier ein Instrument. Es sind mehr als zweihundert Studenten, und das bedeutet, dass an jedem Schultag mehr als zweihundert Instrumente im Einsatz sind. Auch Negin Khpalwak, die 18-Jährige, die Dirigentin werden will, hat erst ein Instrument gelernt. Es ist die Sarod, die in der nordindischen Musik weit verbreitete Laute. Später kommt noch Klavierunterricht dazu. Zusammen mit den ganz normalen Schulfächern, Mathe, Geografie, Englisch ergibt das ein Pensum, das so nicht vorgesehen war im Leben der Negin Khpalwak.

Sie stammt aus der abgelegenen, rückständigen und konservativen Provinz Kunar im Nordosten Afghanistans, wo das Leben von der Religion bestimmt wird und vom Paschtunwali, dem überkommenen Ehrenkodex der Paschtunen. In Negins Dorf gilt Schulbildung für Mädchen als überflüssig. Für ihre fünf Brüder gibt es eine Schule, für sie und ihre drei Schwestern gibt es keine. Was also macht ein Mädchen in so einer Gegend, wenn es sich damit nicht abfinden will? Wenn es zur Schule gehen, lernen und weiterkommen will? Es bedrängt seinen Vater so lange, bis der ein Einsehen hat und es in die große Stadt Kabul bringt. In ein Waisenhaus.

Das ist ein hoher Preis für Negins Lernbegierde. Sie ist ja erst neun Jahre alt, ein schmales, zartes Kind, das plötzlich ganz alleine dasteht. In einer Stadt, in der es niemanden kennt. Die erste Woche hört Negin gar nicht mehr auf zu weinen. Aber immerhin, sie kann jetzt zur Schule gehen, und dann kommt der Tag, an dem ihr der Leiter des Waisenhauses eine verwirrende, neue Möglichkeit eröffnet: Ob sie vielleicht eine Musikausbildung machen möchte?

Musikschule

Negin Khpalwak dirigiert das Orchester des Afghanischen Nationalinstituts für Musik in Kabul. Links neben ihr steht Ahmad Sarmast, Direktor der Schule.

(Foto: Regina Schmeken)

Der Vater unterstützt Negins Wunsch zu musizieren. Damit stellt er sich gegen die Familie

Ahmad Sarmast, 54, hatte die Idee einer Musikschule schon lange. Vielleicht hatte er sie schon, als er in den Achtzigerjahren am Konservatorium in Moskau Musik studierte. Später setzt er seine Studien in Australien fort und macht seinen Doktor in klassischer afghanischer Musik. Doch seine Gedanken sind meist daheim in Afghanistan, und als die Taliban verjagt worden sind, da sieht er seine Chance. Sarmast kommt zurück nach Afghanistan, präsentiert seine Idee, und 2010 nimmt das Nationalinstitut für Musik mit ihm als Direktor seinen Betrieb auf, bald unterstützt von Sponsoren aus aller Welt.

Talente suchen, Talente fördern: Sarmast sucht vor allem unter den vielen benachteiligten Kindern in den Waisenhäusern des Landes. Er hat es sich zur Regel gemacht, genau diesen Unglücklichen die Hälfte seiner Studienplätze zu reservieren, und wenn es Mädchen sind, umso besser. Derzeit machen sie ein Drittel der Studenten aus. Klingt ideal für Negin Khpalwak, die allerdings schier überwältigt ist von der Aussicht: ich? Ein Instrument spielen? Als Mädchen?

Diesmal keine Barrieren aus Metall oder Beton, sondern solche der kulturellen und religiösen Art. Es hat in Afghanistan seit Menschengedenken keine Instrumentalistin gegeben. Die erste Musikschule entsteht in den Dreißigerjahren in der Armee und kennt nur junge Männer. Später gibt es dann eine zweite, die ist offen für alle, es trauen sich jedoch nur vier Mädchen hin. Immerhin, es könnte ein Anfang sein, aber 1996 kommen die Taliban an die Macht, und fortan ist jegliche Musik verboten.

Nach ihrer Schreckensherrschaft kehrt die Musik zurück ins Land, aber Mädchen zum Musizieren zu animieren bleibt für die meisten Afghanen ein Tabu, weil man es verstehen könnte als Lockerung der Sitten, und das geht gar nicht. Negin hatte bis dahin noch nie eine Frau ein Instrument spielen sehen - und nun soll sie es selber tun? Zwei Tage und zwei Nächte denkt sie darüber nach, dann sagte sie Ja und geht zur Aufnahmeprüfung. Musikalische Vorbildung hat sie keine, aber die Prüfer sehen ihr Talent und nehmen sie auf.

Für die Familie daheim ist das ein Schock, nur für den liberalen Vater nicht, aber den setzt die Großmutter unter Druck: "Wenn du Negin in diese Schule gehen lässt, bist du nicht mehr mein Sohn." Negin müssen die familiären Turbulenzen erst mal nicht kümmern, für sie ist jetzt eine ganz neue, aufregende Welt zu entdecken. Nicht nur die Welt der Musik, sondern auch die jenseits des Hindukusch. Die Orchester des Instituts sind gern gesehene Gäste in den Spielstätten der Welt, denn schließlich sind das willkommene Gelegenheiten, das düstere Bild dieses malträtierten Landes etwas aufzuhellen.

2013 ist Negin dabei, als Musiker des Instituts in die USA aufbrechen zu einer umjubelten Tour. Die Carnegie Hall in New York - ausverkauft. Das Kennedy Center in Washington - ausverkauft. Präsident Obama schickt Glückwünsche, und John Kerry nimmt sich an seinem ersten Tag als Außenminister sogar Zeit, den afghanischen Musikern zuzuhören. Negin schwärmt noch heute von der Reise und erzählt lachend von Begegnungen mit amerikanischen Musikern, die sich gar nicht genug darüber wundern konnten, dass die Afghanen, jedenfalls die männlichen unter ihnen, ohne Bärte und statt mit Maschinengewehren mit richtigen Instrumenten angereist waren und darauf sogar hervorragend spielen konnten.

Musikschule

Auf dem Umschlag der Cello-Noten des Mädchen-Ensembles steht: "Leben verbessern durch Bildung und Musik."

(Foto: Regina Schmeken)

Doch nicht lange nach dem Abstecher in die USA wird die Musikstudentin Negin Khpalwak von den strikten Moralvorstellungen ihrer Familie eingeholt. Sie ist für ein paar Ferientage zu Hause, und weil der Vater gerade einen Job hat in Tadschikistan, sieht dessen älterer Bruder die Gelegenheit, die Nichte zurückzuführen auf den Weg, den er für den rechten hält. "Niemand", so predigt er dem Mädchen, "niemand in unserem Clan hat jemals Musik gemacht", musizieren sei unislamisch und eine Sünde. Für ihn hat ein 16-jähriges Mädchen Ehefrau zu sein, wenn nicht schon Mutter, und sich unsichtbar zu machen unter einer Burka. Er lässt Negin nicht zurück nach Kabul.

Was folgt, sind neun überaus traurige Monate. Schwermütig das Mädchen, einsam, isoliert. Wacht es morgens auf, denkt es an die anderen Studenten im Institut und beneidet sie für all die Möglichkeiten, die ihr nun verwehrt sind. Die Familie lebt nicht mehr im Dorf, sondern ist in die Stadt Dschalalabad umgezogen; dort könnte Negin in die Schule gehen, um das Loch in ihrem Leben mit etwas Sinnvollem zu füllen, aber selbst das lässt der Onkel nicht zu. Dann kommt endlich der Vater zurück, mit einem Blick erkennt er das Unglück seiner Tochter und geht sofort daran, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen.

Er trifft sich mit Sarmast in Kabul, er sagt, wie leid ihm alles tue, und ob er, der Direktor, wohl bereit sei, Negin wieder aufzunehmen. Der Vater sagt fast flehentlich: "Behandeln Sie Negin bitte wie Ihre eigene Tochter. Keinem wird es jemals erlaubt sein, sie noch einmal herauszuholen aus der Schule." Das ist ein Wort. Es ermöglicht Negin nicht nur den Wiedereinstieg in den Schulbetrieb, es eröffnet ihr auch eine überraschende Perspektive. Warum sie es denn nicht mal mit Dirigieren versuche, fragt eines Tages Allegra Boggess, ihre amerikanische Klavierlehrerin.

Zwanzig Musiklehrer hat das Institut, einige von ihnen sind Gastdozenten aus dem Ausland. So wie Frau Boggess. Sie sieht die Zweifel in Negins Augen, als sie ihr den Vorschlag macht, aber sie denkt, dass Negin genau die Richtige ist. Schon oft haben sie im Institut talentierte Mädchen verloren, weil die Familien sie verheiraten oder als Hilfe im Haushalt einsetzen wollten, aber hier nun ist eine, die ganz offensichtlich auf ihren Vater zählen kann und überdies Führungsqualitäten zu haben scheint - warum also die Chance nicht nützen? Frau Boggess sagt zu Negin: "Du kannst das, ich weiß, dass du es kannst."

Aber es ist natürlich ein geradezu revolutionäres Projekt. Für radikale Muslime, die Taliban und andere, die ja schon Männergesang für Frevel halten, ist es eine doppelte Provokation. Noch nie hat es eine afghanische Dirigentin gegeben, doch das wird sich jetzt ändern. Negin ist auf ihrem Weg, und wie sie das ist.

Übungsstunde bei Camilo Jauregui, ihrem kolumbianischen Lehrer, auch er ein Gastdozent. "Negin", sagt er, "was passiert in Takt dreißig?" Die beiden haben die Partitur der Ouvertüre des "Barbier von Sevilla" vor sich. Negin muss nicht lange nachdenken. Sie sagt: "Flöte und Oboe spielen die Melodie, die Streicher begleiten." Sie lernen zusammen, sie spielen zusammen, und manchmal ist es Negin, welche die Musiker unterbricht: "Lehrer, Sie sagten doch fortissimo, und jetzt spielen sie piano."

Camilo Jauregui sagt, Negin sei eine Begabung, sie mache gute Fortschritte, aber für viel entscheidender hält er ihre Willensstärke. Ihre Bereitschaft, sich zu plagen für ihr Ziel, Dirigentin zu werden. Kleine Konzerte vor Publikum hat Negin bereits dirigiert. Auch als das Institut, wie später auf allen afghanischen Fernsehkanälen zu sehen und zu hören ist, mit Chor und Orchester die "Afghanische Kinderhymne 2015" aufnimmt, steht Negin am Dirigierpult.

Musikschule

In Afghanistan hat es seit der Herrschaft der Taliban keine Musikerin mehr gegeben, heute sind ein Drittel aller Studenten an der Musikschule junge Frauen.

(Foto: Regina Schmeken)

Die vielen Gastdozenten wissen, dass sie am Institut in Kabul ihr Leben für die Musik riskieren

Aber das Leben in Afghanistan ist zerbrechlich. Das Institut mag eine Oase sein, rundherum jedoch ist Kriegsgebiet, und da kann jederzeit alles passieren, den Studenten, den Lehrern. Frau Boggess, die Amerikanerin, weiß, dass sie für ihre Tätigkeit im Institut ihr Leben riskiert, "wir alle hier wissen das", sagt sie, die letzten zwei Jahre in Kabul seien schrecklich gewesen. Aber sie liebt die Arbeit mit den Studenten, die so eifrig sind und fleißig, weil sie wissen, dass die Musik ihre einzige Chance ist. Mag das Risiko auch allgegenwärtig sein.

Wie nahe die Katastrophe ist, zeigt sich am 11. Dezember 2014. Da wird im Französischen Kulturinstitut von Kabul unter Beteiligung von Sarmasts Musikstudenten ein Stück aufgeführt, eine Art musikalisches Ballett, das die Schrecken von Selbstmordanschlägen zum Thema hat. Ausgerechnet da schlägt ein Selbstmordattentäter zu und lässt das Stück Realität werden.

Der Täter, ein 17-jähriger Junge, sitzt unter den Zuschauern direkt hinter Ahmad Sarmast, eine Armlänge entfernt, es hätte tödlich ausgehen können für ihn. Aber Sarmast überlebt - mit elf Splittern im Kopf und perforierten Trommelfellen. Ein Toter und fast zwanzig Verletzte sind zu beklagen, Sarmasts Studenten aber bleiben unverletzt. Auch Allegra Boggess hat Glück, weil sie Kopfschmerzen an dem Abend hat und zu Hause bleibt. Negin ist, als es passiert, bei ihrer Familie. Als sie von dem Anschlag erfährt, reagiert sie schockiert wie alle anderen, aber es ist nicht so, dass das Entsetzen über die Tat sie verängstigt hätte. Eher das Gegenteil ist der Fall. Negin sagt: "Wir haben deswegen kein Konzert abgesagt. Die Leute sollen wissen, dass wir uns nicht fürchten."

Negin könnte bereits verheiratet sein und Mutter. Stattdessen steht sie vor einem Orchester

Großer Mut und ein Hauch von Stahl, man würde es nicht vermuten in der zierlichen, kleinen Person. Schon gar nicht jetzt, da sie auf Strümpfen und um den Hals das lässig geschlungene Kopftuch den Taktstock nimmt, den Camilo Jauregui ihr reicht, und ans Dirigierpult tritt. Ein Walzer ist zu spielen, Opus 36 Nummer 3, komponiert von Amy Marcy Beach. Sie war einst die erste Amerikanerin, die eine Sinfonie schrieb und so in eine Männerdomäne einbrach - nur zu passend, dass es Negin ist, die dieses Stück jetzt dirigiert.

Sie ist dabei sehr konzentriert, sie hat es bereits lieben gelernt, dieses mächtige Gefühl, vor einem Orchester zu stehen und es mit den Bewegungen ihrer Arme zu führen. Eine junge Frau, die, wenn der Onkel sich durchgesetzt hätte, jetzt vielleicht schon Kinder hätte und eine Burka trüge, dirigiert zwei Dutzend junge Frauen, die unter anderen Umständen Opfer sein könnten von Krieg und Terror. Die vielleicht von ihrem ererbten Hass beherrscht würden auf die jeweils anderen Ethnien, aber hier in dieser Schule gelernt haben, dass es beim Musizieren nur miteinander geht und nicht gegeneinander. Eine Klarinette kiekst, und Negin lacht.

Noch lernt Negin, aber im Institut sieht man sie bereits als Dirigentin des Mädchen-Ensembles. "Das würde gut passen", sagt Camilo Jauregui. Auch Lehrerin Allegra Boggess sieht es so, aber das wäre dann nicht mehr als die erste Zwischenstation auf einem sehr langen Weg, den Negin noch vor sich hat. Gut möglich, dass er irgendwann aus dem Institut und aus Afghanistan herausführen wird in ein Land, in dem sie, vielleicht als Stipendiatin, die Möglichkeit bekäme, im Austausch mit anderen Dirigentenschülern ihren Stil zu verfeinern und noch andere Techniken dazuzulernen.

Aber sie würde zurückkehren. Sagt ihr Lehrer. Negin selber beschäftigt sich noch nicht mit solchen Fragen, sie lebt ihren großen Traum, und in diesem Traum wird sie eines Tages der beste Dirigent ihres Landes sein. Nicht der beste weibliche Dirigent, sondern der beste überhaupt. Sie wird dann einem großen nationalen Orchester vorstehen und mit ihm auf Tour gehen durch die ganze Welt. "Und ich", sagt Direktor Sarmast, der zufällig hört, wie Negin ihre Zukunft ausmalt, "werde dann irgendwo stehen und dich um ein Autogramm bitten."

Er sagt es lachend. Es soll ein Scherz sein. Vielleicht ist es aber auch nur ein halber.

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