Reinhold Messner:"Wir lernen nur durch Scheitern"

Reinhold Messner ist eine der umstrittensten Figuren der Bergsteigerszene. Ein Gespräch über Glück, Motivation und das Abrufen von Leistung im richtigen Moment.

M. Ruhland, D. Steigenberger

sueddeutsche.de: Sie haben Ziele erreicht, die vorher als unerreichbar galten. Fallen Sie nach jedem bahnbrechenden Erfolg in ein Loch?

Reinhold Messner: Luftige Standplätze ist Reinhold Messner gewöhnt.

Luftige Standplätze ist Reinhold Messner gewöhnt.

(Foto: Foto: dpa)

Messner: Im Grunde funktioniert es immer gleich: Das Entscheidende ist die Identifikation mit einem Ziel, die Auseinandersetzung damit. Natürlich ist auch Training wichtig. Der Gipfelmoment ist aber nicht der wesentliche. Gerade bei den ganz großen Bergen ist er im Grunde nur der Umkehrpunkt. Die starken Emotionen entstehen erst nachher. Der Gipfelpunkt ist nicht das, was sich die Leute unten vorstellen. Das ist nur ein Klischee. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der hoch oben auf einem Achttausender seinen Klimax erlebte.

sueddeutsche.de: Sie empfinden kein Glück, wenn Sie auf dem Gipfel eines Achttausenders stehen?

Messner: Ich habe ein Problem mit Leuten, die dauernd über das Glück reden, weil ich glaube, dass sie ihm nur hinterherlaufen. Natürlich, es gibt dieses Gefühl: "Ich habe Glück gehabt, ich habe den richtigen Gipfel angepeilt." Diese Art von Glück ist ein anderes als das Glück, von dem ich nicht gerne rede. Ich laufe ihm nicht hinterher.

sueddeutsche.de: Sie haben vor ein paar Jahren einmal gesagt: Das Glück ist immer da, wo ich nicht bin.

Messner: Das war eine selbstkritische Aussage, die ich auch gerne wiederhole.

sueddeutsche.de: Was meinen Sie damit?

Messner: Wir Menschen haben die Eigenschaft - und darauf beruht die ganze Romantik -, immer dort sein zu wollen, wo wir gerade nicht sind. Das heißt, wenn ich irgendwo am Basislager am Mount Everest bin und es schneit seit drei Tagen, möchte ich gern daheim sein. Aber wenn ich wochenlang daheim bin, möchte´ ich gern irgendwo da draußen sein.

sueddeutsche.de: Wir machen uns also ständig etwas vor, sind krankhaft getrieben?

Messner: Nein, aber wir sind Menschen. Ich bin kein Wissenschaftler, sondern jemand, der der Menschennatur auf den Fersen ist. Ich möchte herausfinden, wie wir ticken. Ich lebe beim Schreiben nur davon, dass ich uns selber kritisch anschaue. Und es ist nicht so, dass ich die Leute negativ oder positiv beschreibe. Ich beschreibe nur Fakten. Mich interessieren aber weniger Fakten wie: welcher Berg, wie viele Lager oder wie viel Zeit jemand zum Aufsteigen braucht. Mich interessiert die Menschennatur, nicht die sportliche, sondern die psychologische Seite. Ich gehe meinetwegen, das heißt, meiner Menschennatur wegen auf die Berge, und nicht, um irgendeine Erstbegehung zu machen oder um einen Rekord aufzustellen oder die 14 Achttausender zu besteigen. Es kam am Ende heraus.

sueddeutsche.de: Sie sind mit Ihren Expeditionen immer wieder auch gescheitert. Scheitern, schreiben Sie in Ihren Büchern, ist wichtiger als alles andere. Warum?

Messner: Wir lernen fast nur durch das Scheitern. Wir Menschen sind so veranlagt, dass wir nur dann lernen, wenn wir einen Dämpfer kriegen. Solang wir Erfolg haben, solang uns die Umsetzung einer Idee ohne Probleme gelingt, wissen wir gar nicht, warum wir Erfolg haben.

"Wir lernen nur durch Scheitern"

sueddeutsche.de: Bei einem Gipfelaufstieg ist es Ihnen mehr wert, wenn Sie Hindernisse überwinden, als wenn alles glatt geht?

Messner: Das will ich nicht unbedingt sagen. Mir geht es in erster Linie um die Frage: Wie mache ich das, und das Wie ist wesentlich bei der Problemstellung. Nicht das Ob. Beim Felsklettern ist der Fels das Hindernis. Auch der Berg, das Gebirge ist ein Hindernis. Die Antarktis ist ein gewaltiges Hindernis. Die Bürokratie aber war bei meinem Museumsprojekt das größte Hindernis. Ich habe sehr viel dabei gelernt. Durch den Versuch, diese Hindernisse zu überwinden, mache ich Erfahrungen. Beim Herausfinden, warum ich gescheitert bin, kann ich lernen und es nochmals versuchen. Wir Menschen lernen durch Versuch und Irrtum.

sueddeutsche.de: Ist dieses Denken das, was Sie und Ihre besonderen Fähigkeiten am Berg ausmachen? Sie sind immerhin einer der wenigen, die solche extremen Abenteuer in dieser Vielzahl auch überlebt haben.

Messner: Nein, nein, es gibt Hunderttausende, die extrem klettern. Die Abenteuer sind natürlich verschieden groß. Inzwischen gibt es viele, die schwieriger klettern als wir 1968 geklettert sind. Ich bin keine alleinstehende Figur.

sueddeutsche.de: Für viele sind Sie das eben doch.

Messner: Ich bin einer der wenigen, der ganz andere Interessen hat als Sportler. Das Bergsteigen und das Abenteuer wird mehr und mehr zum Sport. Das ist nur eine Beobachtung, die ich jetzt mache: Das Klettern findet heute zu 99 Prozent in der Halle statt. Dort gibt es Wettkämpfe, die Halle ist aber nicht der Berg. Sie ist ein Als-ob-Gefahrenraum. Ich habe nichts dagegen, Klettern ist eine großartige Sportart. Aber mit dem, was ich tue, hat es wenig zu tun.

sueddeutsche.de: Für Sie war es nie Sport, für Sie war es eine Lebenseinstellung.

Messner: Für mich war es von Kindheit an Abenteuer, im klassischen Sinne. In das Unbekannte hinausgehen, ist es! Wenn der Berg aber schon bekannt ist, bleibt die Frage, ob ich ohne Atemmaske hochsteigen kann oder ob ich 2000 Kilometer weit laufen kann. Wir Menschen sind Mängelwesen und damit zu Erfahrungen fähig. Ich behaupte sogar - und hab das mit Peter Sloterdijk im Fernsehen diskutiert: Wir sind zur Sprache und zur Intelligenz gekommen, weil wir Mängelwesen sind.

Wir sind im Grunde in dieser Kette von vielen, vielen Lebewesen auf dieser Erde eins der schwächsten gewesen, als wir von den Bäumen herunterkletterten und in der Savanne laufen lernten. Wir mussten irgendetwas Einmaliges erfinden, um zu überleben. Wir haben kein dickes Fell, keine idealen Klettermuskeln, keine große Kraft. Uns fehlt Geschicklichkeit. Wir waren den meisten Raubtieren unterlegen. Und deshalb mussten wir die Sprache entwickeln. Nur dank der Kommunikation untereinander konnten wir uns organisieren, Hirsche erlegen oder einen Säbelzahntiger umbringen. Weil wir zusammen bessere Möglichkeiten haben.

"Wir lernen nur durch Scheitern"

sueddeutsche.de: Nun mussten Sie sich in Ihrer Sozialisation aber nicht mehr gegen wilde Tiere wehren. Woher kommt die Abenteuerlust?

Messner: Wir hatten in Villnöß, wo ich groß geworden bin, weder ein Schwimmbad noch einen Fußballplatz. Die Möglichkeit, uns auszutoben und uns zu vergleichen, waren kleine Felsen zum Klettern. Die Erkenntnis, dass das Bergsteigen im Grunde die Eroberung des Nutzlosen ist, hatte ich erst später...

sueddeutsche.de: ... als Sie Albert Camus` "Der Mythos des Sisyphos" gelesen haben.

Messner: Camus hat im Grunde die Vorlage für das moderne Bergsteigen gegeben. Ursprünglich sind die Leute ja auf die Berge gegangen, um die Gipfel aus wissenschaftlichen Gründen zu erreichen. Später, um die Gipfel zu erobern, um zu sagen: Ich war als erster da. Dann kam die nächste Phase: Ich bin hinaufgestiegen, um eine bestimmte Schwierigkeit zu überwinden. Nicht mehr der Gipfel war wichtig, sondern der Weg zum Gipfel. Und dann kam die Erkenntnis, dass das Ganze unnütz ist, reiner Selbstzweck.

sueddeutsche.de: Es ist aber nicht unnütz, wenn es Selbstzweck ist.

Messner: Es hat keinen Nutzen für die Gemeinschaft, also ist das Bergsteigen an und für sich unnütz. Umweltschutz darf nicht Selbstzweck sein. Ich akzeptiere ihn nur, wenn jemand wirklich etwas verbessern will. Aber ich will ja nichts verbessern, indem ich auf die Berge hinaufsteige. Ich will Erfahrungen machen für mich.

sueddeutsche.de: Sie haben sich immer wieder in Todesgefahr begeben. Warum?

Messner: Weil ich in die Gefahrenwelt hinausgehe und nicht in eine Als-Ob-Gefahrenwelt. Das ist der Punkt, an dem sich 99 Prozent der Bergsteiger - allen voran der Deutsche Alpenverein - mit mir streiten. Ich behaupte, der Berg ist a priori gefährlich. Jeder Berg. Um einen Berg sicher zu machen, nicht nur für mich, sondern für eine große Zahl von Hinaufsteigenden, muss ich am Berg eine Infrastruktur anbringen: einen Klettersteig, eine Bahn, eine Serie von Hütten und so weiter. Ich aber sage: Das ist ein Sakrileg. Das dürfen wir nur dort tun, wo wir die Bergwelt für den Tourismus nutzen: Wo der Bauer wirtschaftet, hat er die Möglichkeit, von diesem Land zu leben und eine Verpflichtung, diese Landschaft weiterhin zu pflegen. Nutzen und schützen zugleich.

Messner: Über der Waldgrenze macht das keinen Sinn. Warum soll ich in einer Gegend, wo nur Fels ist und Steine und Eis, eine Infrastruktur schaffen? Diese Infrastruktur erlaubt es zwar vielen Leuten, die keine Fähigkeit und auch kein Können haben, hinaufzugehen, wo sie plötzlich in Gefahr sind. Gebe ich dem Trend nach, muss ich die Infrastruktur immer höher hinauftreiben.

sueddeutsche.de: Nun: Die Menschen suchen nach Naturerlebnissen und Spaß.

Messner: Dem Bergsteigen ist dank Alpenverein genau das gleiche passiert wie dem Skifahren. Früher ist niemand auf einer Piste Ski gefahren. Die Leute sind im Winter mit Brettern hinaufgerutscht und wieder heruntergerutscht. Und dann hat man einen Zirkus daraus gemacht. Wo Lawinengefahr herrscht, dann hat man die Hänge mit Stahlgerüsten bestückt. Man packt die Piste ein: Links und rechts ist jede Aktivität verboten. Man hat als Liftbetreiber Verantwortung übernommen, und daraus wurde das Pistenskifahren. Heute passiert das Bergsteigen zu 99 Prozent, bis zum Mount Everest, auf Pisten. Wir hatten den Eroberungsalpinismus, wir hatten den Schwierigkeitsalpinismus.

Wir hatten den Verzichtsalpinismus, den ich geprägt habe: Ich verzichte auf Sauerstoffgeräte, auf Bohrhaken, ich verzichte auf immer mehr. Und heute leben wir im Zeitalter des Pistenalpinismus. Sie werden sehen, in 100 Jahren sagen die Leute: 1990 bis 2020 war die Periode des Pistenalpinismus. Es wird nicht ewig dauern. Es werden junge Leute kommen, die werden das Thema neu besetzen. Sie werden das Bergsteigen völlig neu erfinden. Ich wäre neugierig, wo es dann hingeht.

sueddeutsche.de: Was halten Sie von den jungen Bergsteigern, die jetzt versuchen, die Leistung in punkto Schnelligkeit in die Höhe zu treiben und Speedrekorde am Manaslu oder an der Nose im Yosemite zu erreichen?

Messner: Völlig langweilig, interessiert mich null. Mich interessiert, wie wer mit wie viel Kreativität in die Wildnis geht. Ein Alexander Huber zum Beispiel, der im Felsklettern so viel Kreativität zeigt, der auch die Schwierigkeiten nach oben treibt an Routen, die früher nicht denkbar, geschweige denn kletterbar waren. Natürlich muss man sich dort absichern, das kann er nicht ohne Bohrhaken machen. Dabei geht es auch nicht um die Schnelligkeit oder um die Höhe, sondern darum, ob er das Problem, das er sich selber stellt, das er erfindet, auch löbar ist. Ich habe aber auch nix gegen Wanderer, Trekker, sie müssen alle selber erkennen, was sie tun können.

sueddeutsche.de: Über die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffgerät haben Sie gesagt: Wir waren nur noch eine einzige nach Luft schnappende Lunge. Ist es dort oben nur noch reiner Wille weiterzugehen?

Messner: Der Wille lässt oben auch nach. Was ist denn unser Wille? Er ist nicht fähig, 100 Prozent aus uns herauszuholen. Dazu ist er nur fähig, wenn es ums Überleben geht. Dann greifen animalische Instinkte. Ein Kamel kann bis zum Umfallen gehen. Dann ist es tot.

sueddeutsche.de: Und Sie wollten beweisen, dass der Mensch durch seine geistig-seelischen Fähigkeiten mehr noch als durch Kraft und Ausdauer über sich hinauswachsen kann und den Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen erreichen kann?

Messner: Der Trick, Sachen zu machen, die scheinbar unmöglich sind und die man sich vielleicht selbst nicht zutraut, ist das Verschieben von Vorurteilen. Bei der Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffgeräte haben Peter Habeler und ich am Ende nur mehr 50 Höhenmeter in der Stunde geschafft. Damit erschien die letzte Strecke, die man sah, unendlich lang.

100 Höhenmeter: An der Zugspitze schau ich das an und denke, da bin ich in drei Minuten oben. Bei uns entstand das Gefühl, weil das Gehen ja immer langsamer wurde: Der Gipfel kommt nicht näher, sondern rückt immer weiter weg. Es galt zu erkennen, dass das eine Täuschung ist. Wenn ich nur noch 50 Höhenmeter pro Stunde schaffe, muss ich eben zwei Stunden lang mit der gleichen Willensanstrengung weitergehen - das ist eine zuallererst mentale Angelegenheit. So komme ich ans Ziel. Ganz einfach.

sueddeutsche.de: Denkt man in der Todeszone über 8000 Metern noch so logisch?

Messner: Man muss sich mit all den Beschränkungen auseinandergesetzt haben. Das Sich-Auseinandersetzen ist mindestens genauso wichtig wie das Training. Ich behaupte sogar, die mentale Kraft ist wichtiger als die physische Kraft. Die mentale Kraft entsteht nur, wenn ich mich lange mit einer Sache beschäftige. Mentale Kraft ist auch angestaute Motivation. Wenn ich Motivation anstaue, dann wird sie ein Momentum, gebündelte Energie, die in eine bestimmte Richtung wirkt. Sie macht die Möglichkeit auf, das scheinbar Unmögliche - es ist immer nur scheinbar unmöglich - zu schaffen.

"Wir lernen nur durch Scheitern"

sueddeutsche.de: Sie sind damals am Nanga Parbat mehrere Tage im Grenzbereich zwischen Leben und Tod gewesen...

Messner: .. aber nicht freiwillig, es war eine erzwungene Situation, und in dieser absolut lebensbedrohenden Situation greifen viel mehr animalische Instinkte als intellektuelle. Der Instinkt hat mir mehr oder weniger vorgegeben, was zu tun ist, um nicht umzukommen. Nur in solchen Momenten ist es möglich, 99 Prozent seiner Energie, Kraft und Ausdauer aus sich herauszuholen.

sueddeutsche.de: Hatten Sie Angst vor dem Tod?

Messner: In der Schlussphase nicht mehr. Aber solange eine Hoffnung auf Leben bestand, ja.

sueddeutsche.de: Die Angst müsste doch größer sein, wenn keine Hoffnung mehr besteht?

Messner: In meinen Büchern sage ich: Ich ließ mich in den Tod fallen. Ich will damit sagen, wenn jemand wirklich an die absolute Grenze kommt und es kein Ausweichen mehr gibt, dann lässt sich der Mensch in den Tod fallen.

sueddeutsche.de: Was, glauben Sie, kommt danach? Ist der Tod das Ende oder nur ein Übergang?

Messner: Ich glaube gar nichts. Ich bin für alles offen. Ich werde aber nicht von Gott reden. Ich finde es symptomatisch, dass alle Religionen ihre Götter auf menschlicher Basis darstellen. Wie die amerikanischen Spielfilme, die Außerirdische darstellen. Immer sind sie an Menschen angelehnt. E.T. ist ein menschliches Wesen, und dadurch sind Emotionen die Folge. Aber wenn es das Göttliche gibt - ich benutze jetzt Ausdrücke von Hölderlin -, dann ist es außerhalb unseres Vorstellungsvermögens.

Wir haben ein Sensorium, eine breite Möglichkeit des Erkennens: durch den Intellekt, das Gefühl, die Augen und die Sinne. Was aber dahinter liegt, ist das Jenseitige. Auch was nach unserem Tod kommt, ist jenseitig. Das Göttliche ist, wenn schon, das Jenseitige. Wir sollten vermeiden, es zu benennen, zu beschreiben, zu malen.

sueddeutsche.de: Was ist Ihre Motivation, sich immer wieder in Todesgefahr zu bringen?

Messner: Die Motivation ist ja nicht per se da, ich schaffe mir Motivation an. Indem ich mich mit meinen Zielen beschäftige. Je länger ich mich mit meinen Zielen beschäftige, umso mehr wächst Neugierde, Motivation. Motivation ist nicht etwas, das man kaufen kann. Ich lache über all die Motivationstrainer, die herumlaufen und Menschen Motivation verkaufen wollen. Das ist alles Humbug.

Die Motivation steckt im Grunde als Keim in uns drinnen. Jeder Mensch ist motivierbar. Wie wir Blut im Körper haben, haben wir Motivation als Keim in uns. Und diesen Keim gilt es wachsen zu lassen, ein Feuer gilt es zu entfachen. Und das kann ich nur tun, indem ich mich mit meiner Sache identifiziere. Wenn ich meine Sache verfolge, ist die Tat viel leichter, als wenn ich eine Sache tue, die nicht die meine ist.

sueddeutsche.de: Was ist es denn, was Sie in den Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod suchen?

Messner: Meine Motivation heißt nicht: Ich will eine Grenzerfahrung machen zwischen Leben und Tod. Das alles könnte die Folge meines Tuns sein. Ich bin im Grunde nur ein Kreator, ich mache Ideen wahr. Wenn Sie unter einer Felswand stehen, die ich geklettert habe, sehen Sie natürlich gar nix. Trotzdem ist das eine reale Geschichte, die ich da gemacht habe. Ich sehe nachher sogar die Linie, nicht als reale Linie, sondern ich sehe genau, wo ich hochgestiegen bin.

Das ist die Schöpfung des Nichts. Die Kunst der Zukunft: Die braucht man nicht mal mehr aufzubewahren. Sie brauchen dafür keinen klimatisierten Raum, gar nix. Trotzdem ist es ein Kunstwerk.

sueddeutsche.de: Ein sehr persönliches für Sie. Das erschließt sich nicht für einen anderen.

Messner: Ich kann den Akt vielleicht beschreiben, dafür aber brauche ich ein zweites Kunstmittel: Die Sprache. Im Idealfall ist es ein doppeltes Kunstwerk. Was ich augenblicklich mache, ist im Grunde das Gleiche, was ich am Everest gemacht habe. Ich hab eine Idee entwickelt, diese Idee hat ein paar Jahre gebraucht, bis sie ausgereift war. Dann habe ich sie gegen alle Widerstände durchgesetzt. Ich habe noch nie so viele bürokratische Widerstände erlebt, noch nie soviel Geld ausgegeben für eine Idee.

Aber ich bin gleich vorgegangen wie auf Expedition. Ich habe zehn Jahre lang all meine Mittel, all meine Zeit, all meine Begeisterung hineingesteckt. Dabei ist das Bergmuseum entstanden, nicht ein Bergmuseum. Wir haben heute schon viermal so viele Besucher wie das zugkräftigste Bergmuseum der Welt, und ich bin sicher, dass ich in fünf bis zehn Jahren auf das Zehnfache komme.

"Wir lernen nur durch Scheitern"

sueddeutsche.de: Das Besondere an Ihrem Konzept?

Messner: Es ist kein Kunstmuseum und kein Naturkundemuseum, ich habe das Thema in die Berge getragen und nicht im Ballungszentrum gelassen - die Fachleute haben alle abgeraten - und ich habe es in fünf Häuser zerschlagen und nicht nur ein Haus gemacht, was viel billiger wäre.

sueddeutsche.de: Und warum?

Messner: Ich habe alle Häuser dorthin gestellt, wo die Landschaft das Thema trägt. Das Eismuseum ist unter einem Gletscher, das Felsmuseum ist auf einem Gipfel, außenherum 1000 Gipfel. Das Museum der Heiligen Berge ist an einem Kultplatz des Ötzi, das Bergvölkermuseum stelle ich ins Pustertal. Es steht am Ende mitten in der Bergbauerngegend. Auch, weil ich dorthin wieder zurückwollte, von wo ich hergekommen bin.

sueddeutsche.de: Was macht für Sie den Unterschied aus zwischen Bergtourist und Bergsteiger?

Messner: Das geht heute Hand in Hand. Nur, die Bergsteiger werden nie ausreichen, um zum Beispiel Garmisch-Partenkirchen zu füllen. Wir haben ja in den Alpen einen Bergtourismus, der die Basis unserer Wirtschaft ist. Ich habe dazu ein Buch gemacht, in dem ich frage: Wie machen wir in den Alpen weiterhin Tourismus, auf dass wir die Alpen auch in 100 Jahren noch als touristische Anziehungskraft nutzen können.

sueddeutsche.de: Wie sieht Ihre Vision aus?

Messner: Im Kern ist es die Verzahnung von lokaler, extensiver Landwirtschaft mit dem Tourismus. Und dass wir nicht mehr weiter nach oben gehen. Über etwa 2400 Metern sollten wir keine weitere Infrastruktur schaffen.

sueddeutsche.de: Da soll die Wildnis erhalten bleiben ...

Messner: ... weil wir sonst den Bergen Flair nehmen. Umgekehrt ist es aufgrund der globalen Erwärmung nicht mehr vernünftig, auf einer Höhe von gerade einmal 1000 Metern Skilifte mit Schneekanonen zu bauen. Da werden Investitionen zum Fenster rausgeschmissen. Das, was man in Bayern jetzt in den Voralpen gemacht hat, ich weiß nicht genau wo ...

sueddeutsche.de: ... am Spitzingsee meinen Sie wahrscheinlich ...

Messner: ... ist einfach Blödsinn. Man wird die teure Infrastruktur nur selten nutzen können. Die Garmischer haben wiederum ein großes Problem, ihr Garmisch weiterhin so zu positionieren, dass sie ihre Fremdenbetten 200 Tage im Jahr füllen können. Garmisch ist leider ein Allerweltstourismusort geworden. In der globalen Welt gilt es, etwas Unverwechselbares zu schaffen.

sueddeutsche.de: Was wäre das Unverwechselbare an Garmisch?

Messner: Nicht die Lifte oder die Lüftlmalerei, die inzwischen auf jedem Haus zu sehen ist, oder ein paar auf den Balkon genagelte Brettln, sondern die ursprüngliche lokale Architektur. Die ursprüngliche lokale Küche, das ursprüngliche Bergpanorama, und nicht ein verdrahtete. Bis auf die Gipfel.

sueddeutsche.de: Was wäre, wenn Sie eines Tages nicht mehr reisen könnten ...

Messner: Das gab`s ja bereits. Ich war monatelang an ein Klinikbett gefesselt...

sueddeutsche.de: ... als Sie sich die Ferse bei einem Sturz von Ihrer Burgmauer gebrochen hatten. Aber der Glaube oder die Hoffnung daran, dass Sie danach wieder laufen können würden, war doch nicht weg?

Messner: Doch. Im ersten Moment hat mir die Ärztin gesagt, ich bleibe Invalide.

sueddeutsche.de: Was haben Sie da gefühlt?

Messner: Ich habe am nächsten Tag meine Frau angerufen und gesagt: In der und der Schublade liegen die Unterlagen für ein Buch, das bring` mir morgen bitte mit. Ich habe monatelang geschrieben.

sueddeutsche.de: Das Schreiben als Ersatz, als Reisen im Kopf?

Messner: Das Schreiben ist für mich mehr Aufarbeiten. Schreiben ist eine schlecht bezahlte Tätigkeit und schwierig. Ich schreibe aus mehreren Gründen. Erstens, um Sachen genau zu formulieren. Ich kann auf der Bühne nur gut erzählen, wenn ich Themen genau kenne.

sueddeutsche.de: Und die kennen Sie nur, wenn Sie sie geschrieben haben?

Messner: Ja. Bevor ich etwas nicht schriftlich formuliert habe, ist es nicht sauber formuliert. Ich komme beim Schreiben viel dichter an eine Sache heran. Natürlich lerne ich Texte nicht auswendig. Wenn ich einmal darüber geschrieben habe, hole ich mir die Bilder wieder schneller heraus. Nummer zwei: Das Schreiben hilft, das Gehirn jung zu halten. In Zukunft werde ich in erster Linie schreiben, um nicht so schnell zu altern.

Das Interview ist bereits in "Leonart - das Kulturmagazin fürs Oberland" erschienen.

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