Qualität medizinischer Studien:Altes Wissen kann falsch sein

Wieso werden wieder werden vermeintliche medizinische Gewissheiten als falsch entlarvt? Ein Interview mit Gerd Antes vom Cochrane-Zentrum, das die Güte medizinischer Studien bewertet.

Werner Bartens

Eine umfangreiche Übersichtsstudie hat ergeben, dass Vitaminzusätze nicht nur nichts nutzen, sondern unter Umständen sogar das Leben verkürzen können. Gerd Antes leitet das unabhängige Cochrane-Zentrum in Freiburg, das die Güte medizinischer Studien bewertet.

Qualität medizinischer Studien: Gerd Antes vom Cochrane-Zentrum in Freiburg.

Gerd Antes vom Cochrane-Zentrum in Freiburg.

(Foto: Foto: oh)

SZ: Immer wieder werden vermeintliche medizinische Gewissheiten als falsch entlarvt. Woran liegt das?

Antes: Das ist normal. Medizinischer Fortschritt besteht aus neuen Erkenntnissen und der Einsicht, dass altes Wissen falsch war.

SZ: Zu vielen Fragen gibt es Hunderte Studien. Warum fällt erst so spät auf, dass zum Beispiel Hormone in den Wechseljahren mehr schaden als nutzen oder dass Vitaminzusätze nicht nur nichts nutzen, sondern das Leben verkürzen können?

Antes: Studienergebnisse sind aus diversen Gründen oft widersprüchlich. Aus den Studien wird dann willkürlich ausgewählt, um falsche Gewissheiten zu zementieren. Versucht man, alle Fehlerquellen zu berücksichtigen und Daten systematisch anzuschauen, werden solche Irrtümer offengelegt. Die dänische Vitamin-Studie ist ein Beispiel dafür.

SZ: Warum passiert das so selten?

Antes: Viele Studien geben die Hersteller in Auftrag. Diese Einzelstudien müssen aber bewertet und in Übersichtsarbeiten zusammengefasst werden.

SZ: Was sind die Anforderungen an eine gute Übersichtsarbeit?

Antes: Systematisch werden weltweit alle für das Thema relevanten Studien gesucht und auf ihre Qualität geprüft. Dann werden die methodisch besten zu einer Gesamtaussage zusammengefügt.

SZ: Wie erkennen Laien, was stimmt? Studien verunsichern viele Leute.

Antes: Hier sind Ärzte, Apotheker und Medien gefordert, über fehlenden Nutzen und mögliche Gefahren aufzuklären. Übersichtsarbeiten wie die vorliegende sind dazu unentbehrlich.

SZ: Die Industrie hat daran verständlicherweise wenig Interesse.

Antes: Ja, viele Studien werden nie veröffentlicht, weil sie nicht die erwünschten Ergebnisse liefern. Eine Folge davon ist, dass die Übersichtsarbeiten oft sogar noch ein zu positives Bild von den Wirkungen und Nebenwirkungen zeichnen, weil sie nur die veröffentlichten positiven Ergebnisse einbeziehen können.

SZ: Was muss sich ändern?

Antes: Vitaminpräparate sind zumeist frei verkäuflich und unterliegen nicht dem Arzneimittelgesetz. Wenn ein Mittel aber wirkt, kann es Nebenwirkungen haben, es müsste deshalb wie ein Medikament behandelt werden, das vor der Zulassung Prüfverfahren durchläuft.

Hätten Vitaminzusätze so tiefgreifende Wirkungen, wie von den Herstellern behauptet, müsste es Pflicht sein, diese nachzuweisen und Nebenwirkungen auszuschließen.

In dieser Logik hieße das: Wenn sie nicht dem Arzneimittelgesetz unterliegen, haben Vitaminzusätze auch keine Wirkung.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: