Psychologie:Warum manche Menschen ihr Leben für andere riskieren

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Nach Attentaten von Paris: Ein Herz und das Wort 'Courage' auf einer Fensterscheibe des Restaurants 'Casa Nostra'. (Foto: Marius Becker/dpa)

Woher dieser Impuls kommt, das erklärt eine Motivationspsychologin. Und auch, warum er manchen Menschen fehlt.

Interview von Tanja Mokosch

Spendenaufrufe, Weihnachtsmythen und Jahresrückblicke halten uns in der Adventszeit vor Augen, was wir das Jahr über wieder nicht genug getan haben: helfen. Weniger an unser eigenes Wohl denken. Selbstlos sein. Vorbilder gibt es genug. Nach den Anschlägen von Paris berichtet die Band "Eagles of Death Metal" wie Konzertbesucher nicht flüchten, als Terroristen in den Saal eindringen. Sie stellen sich schützend vor andere. Im Schnellzug Thalys halten im August vier Männer einen Bewaffneten auf. Das ist Altruismus in reinster Form. Mindestens Zivilcourage ist aber auch, wenn 120 Mitarbeiter des Mainzer Staatstheaters die Ode an die Freude singen, um eine AfD-Kundgebung zu übertönen. Oder, wenn eine Rechtsanwältin jeden Montag mit Megafon, Kochtopf und -löffel auf ihrem Balkon Lärm gegen den Düsseldorfer Pegida-Ableger macht.

Warum machen diese Menschen das? Sie bringen sich selbst für andere in Gefahr oder nehmen Konsequenzen in Kauf. Studien zeigen, dass in besonders brenzligen Situationen fast nie der Verstand entscheidet. Im Gegenteil: Menschen, die ihr Leben für andere riskieren, sagen fast immer, sie hätten überhaupt nicht nachgedacht. Woher kommt dieser Impuls? Veronika Brandstätter-Morawietz ist Professorin für Motivationspsychologie an der Universität Zürich. Sie forscht zur Frage, welche Persönlichkeitsmerkmale und Wertvorstellungen Zivilcourage und Altruismus fördern.

Süddeutsche.de: Wie entscheiden Menschen sich dazu, anderen zu helfen?

Veronika Brandstätter-Morawietz: Es gibt im Prinzip zwei Wege. Der eine ist, dass man gar nicht darüber nachdenkt. Das ist oft so, wenn man einen sehr hohen Handlungsdruck hat, also wenn jemand in Gefahr ist. Da reagieren viele impulshaft, ohne Konsequenzen abzuwägen. Dann gibt es Situationen, in denen man mehr Zeit zum Nachdenken hat. Wenn man am Arbeitsplatz beobachtet, dass jemand ausgeschlossen oder schikaniert wird, würde man beobachten und abwägen: Was kann ich tun, was muss ich tun, ist meine Wahrnehmung zutreffend oder sehe ich Gespenster?

Spielt es eine Rolle, wie gefährlich die Situation ist?

Personen handeln trotz hohen Risikos sehr impulsiv. Das ist erstaunlicherweise nicht davon abhängig, welchen Eskalationsgrad eine Situation hat. Oft greift jemand beherzt in eine Schlägerei ein, um den mutmaßlichen Täter zurückzuhalten.

Wovon hängt es dann ab, ob wir eingreifen oder nicht?

Hauptsächlich von verschiedenen Ausprägungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Das ist einmal emotionale Stabilität: die Fähigkeit in kritischen, hektischen, belastenden Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, im Gegensatz zu jemandem, der schnell in ängstliche Anspannung gerät oder gestresst ist. Ein weiteres Merkmal ist die Empathiefähigkeit: Wie gut kann ich mich in die Gefühlslage und Gedankenwelt einer anderen Person hineinversetzen? Jemand, der das gut kann, wird eher eingreifen und besser erkennen, was eine kritische Situation ist. Eine große Rolle spielt das Selbstvertrauen: Habe ich das Bild von mir, dass ich mit Schwierigkeiten gut zurechtkomme? Dass ich mir etwas einfallen lassen kann, wenn ich mit einer kritischen Situation konfrontiert werde? Der letzte Aspekt, den wir aus der Forschung kennen, sind Wertvorstellungen: Ist mir das Wohl anderer wichtig? Trage ich soziale Verantwortung? Da kommt es darauf an, ob man generell für Friedfertigkeit, Toleranz, gegenseitigen Respekt einstehen möchte.

Ist sich also doch nicht jeder selbst am nächsten, wie man so schön sagt?

Das ist eine fruchtlose Debatte. Unser Handeln ist nie ganz selbstlos. Es gibt sicher Menschen, die auch helfen, weil sie sich stark fühlen möchten. Wir wissen aus der Hilfeleistungs- und Machtmotivforschung, dass Hilfe zu leisten dem Helfenden auch ein Gefühl von Überlegenheit gibt. Wobei ich das nicht als den typischen Fall betrachten würde.

Helfen wir eher, wenn Freunde oder Bekannte in Notsituationen sind?

Das Empathievermögen ist stärker, wenn es um jemanden geht, der uns ähnlich ist. Insofern ist es wahrscheinlicher, dass wir Menschen helfen, mit denen uns etwas verbindet.

Wenn ich merke, diese Persönlichkeitsmerkmale treffen auf mich nicht ganz zu, kann ich versuchen, sie mir anzutrainieren? Etwa, wie sich vorzunehmen vom Zehnmeterbrett zu springen - und es dann einfach zu tun.

Wenn ich in kritischen Situationen gerne mehr eingreifen würde, muss ich mir überlegen, woran es liegt, dass ich es nicht tue. Da gibt es verschiedene Hürden. Ich muss mir klar werden, woran ich scheitere. Angst wird man sich nie abtrainieren können - das wäre auch nicht gut. Sie ist ein wichtiger Signalgeber. Die Frage ist nur, wie ich damit umgehe. Wenn wir wissen, was wir tun können und was wir auf keinen Fall tun dürfen wird die Angst weniger. Wenn ich weiß, ich darf in eine gewalttätige Auseinandersetzung von zwei Personen nicht physisch eingreifen, habe ich zumindest ein Handlungskonzept. Denn das ist etwas, wovon die Polizei dringend abrät. Es geht darum, Optionen zu kennen.

Es gibt also auch Situationen, in denen man besser nicht eingreift?

Wenn es um körperliche Auseinandersetzungen geht, wenn ein Täter eine Person bedroht, ist es definitiv besser Sicherheitsabstand zu halten, den Täter nicht beschwichtigen zu wollen und ihn auf keinen Fall zu berühren. Männer gehen häufig drauf los, Frauen wollen oft beschwichtigen. Beides nehmen Täter als Grenzüberschreitung wahr. Wenn ich einschreite - den Täter etwa duze - fühlt er sich als Opfer meiner Grenzüberschreitung. Das kann krasse Gegenreaktionen hervorrufen.

Was kann ich dennoch tun?

Einfach den Notruf abgeben. Viele Leute halten das nicht für Zivilcourage, aber das ist es eben auch.

Gibt es Gruppendynamiken in solchen Situationen?

Die gibt es in zwei Facetten. Die eine ist, dass man nicht wahrnimmt, dass etwas passiert. Zivilcourage-Situationen sind oft uneindeutig. Was machen wir, wenn wir nicht wissen, was vor sich geht? Wir orientieren uns an anderen. Das geht jedem so. Jeder schaut in das fragende Gesicht des anderen - und ein fragendes Gesicht gibt kein Signal. Also greift keiner ein, weil alle fragend gucken. Man nennt das "pluralistische Ignoranz". Oft schiebt man die Verantwortung auf andere, die vielleicht schon länger dabei stehen. In Kombination wäre das der sogenannte "Bystander-Effekt".

Wenn aber jemand in einer kritischen Situation das Drehbuch schreibt und sagt: "Wenn nicht ich, wer dann?", und wenn jemand Leute auffordert zu handeln, entsteht eine Dynamik. Dann stehen viele auf und gehen mit. Oft helfen Menschen in sehr bedrohlichen Situationen aber eher, wenn sie alleine sind, weil sie sich dann nicht auf andere verlassen können.

Neben den Charaktereigenschaften, gibt es Merkmale, an denen festgemacht werden kann, wer eher eingreift und wer nicht?

Ein wichtiger Aspekt ist neben den Eigenschaften einer Person die Umwelt. Wie ist das gesellschaftliche Klima im Hinblick auf grundlegende Werte? Wird in einer Familie, in einer Schulklasse, im Sportverein Respekt und Offenheit hoch gehalten? Werden in einem Team auch kritische Geister geduldet? Haben wir Vorbilder für Zivilcourage?

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