Prenzlauer-Berg-Mütter:Schlank, hübsch, verhasst

Zwischen Bioladen und verwöhntem Nachwuchs: Warum ist in der deutschen Öffentlichkeit die Kritik an den Prenzlauer-Berg-Müttern so heftig? Offenbar haben viele noch ein Problem mit der Emanzipation.

Stephan Speicher

Wenn vor zwanzig Jahren das Bild von der "blonden Bestie" aufschien, dann dachte man an Nietzsche und den SS-Offizier, schlank, gutaussehend, erbarmungslos. Heute denkt man an Nietzsche und die Mutter vom Prenzlauer Berg, schlank, gutaussehend (oder jedenfalls gepflegt), rücksichtslos.

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Die neuen Edeleltern: Sie leben sorglos in großen Altbauwohnungen, kaufen Bio-Gemüse, Landbrot und Fleisch aus artgerechter Haltung und stellen ihre Kinder in den Mittelpunkt des Lebens.

(Foto: dpa)

Da ist zum Beispiel "Carlottas Spaß" von Ulrike Draesner, eine Erzählung aus ihrem neuen Band "Richtig liegen. Geschichten in Paaren" (Luchterhand, München 2011), die so beginnt: "Man konnte im Gefängnis stecken, in einer psychiatrischen Anstalt mit Gittern vorm Fenster und Chemie im Hirn oder in einem der Regierungsgebäude umgeben von Leibwächtern, Panzerglas und fünffachem Ganzkörper-Scannerschutz, nichts war so sicher wie ein von Müttern bewachter Spielplatz zu Beginn des neuen Jahrtausends in Berlin."

Eine junge Vietnamesin muss damit fertigwerden. Als Hilfskraft in einer Kita bekommt sie es mit Carlotta zu tun, "vorlaut und sehr selbstsicher", typisch für ihr Milieu wie die Mutter, eine "knochige, blonde Frau", die den Vormittag im Fitnessstudio verbringt, und in engster Beziehung zur Tochter lebt. Kurz scheint ein idyllischer Moment auf, die Tochter "verwandelte sich in der Nähe der Mutter, sie schien plötzlich in sich zu ruhen und schaute neugierig auf die Welt". Aber vorherrschend ist die verbissene Wahrnehmung der eigenen Position. Ein rassistisches Moment ist auch dabei, deutsches Übermenschentum dank deutscher Mütter.

Zu dem Kreis, in dem die kleine Geschichte spielt, könnte auch Ulrike Draesner gehören: Jahrgang 1962, selbst Mutter, blond, in Berlin Prenzlauer Berg wohnend. Man wird also unterstellen, dass die Autorin dies nicht ohne einen ironischen Knips schreibt. Aber sie erzählt aus dem Blickwinkel einer Vietnamesin, die wie ihre Familie schwer zu kämpfen hat, das gibt den Eindrücken einen eigenen, schwer bezweifelbaren Ernst.

Und so sehen eben viele die neuen Familienverhältnisse im akademischen Bürgertum. Die Grundzüge sind schnell beschrieben: man lebt materiell sorglos bis luxurierend in großen Altbauwohnungen mit frisch abgezogenen Dielen, man kauft Bio-Gemüse, Landbrot und Fleisch aus artgerechter Haltung, und, dies vor allem: die Frauen stellen ihre Kinder in den Mittelpunkt des Lebens. Sie wollen "Edeleltern" sein, wie es in der taz einmal hieß, die Kinder sollen dem Leben Sinn verleihen.

Sie werden nach den jüngsten Grundsätzen erzogen, ausstaffiert wie kleine Lords und Ladys und so mit einem "me first"-Gefühl geimpft, zugleich müssen sie höchsten Ansprüchen genügen, Klavier spielen, Ballett tanzen, am besten Mandarin lernen. Eine Generation von unmäßiger Rücksichtslosigkeit wächst da heran. Die Mütter aber, West-Frauen, die nicht vollzeitberufstätig sind, vertun ihre Zeit im Müßiggang zwischen Spielplatz und Café, wo Latte macchiato getrunken wird (und nicht etwa der Café au lait, den nur noch der schlurige Langzeitstudent herunterschlabbert).

Es ist eine Welt der Nichtsnutzigkeit, die uns in der jüngsten Zeit oft und spöttisch erregt vorgestellt wurde, besonders häufig im linken Teil des politischen Spektrums. Man möchte meinen, jeder angehende Journalist müsste sich einmal dazu bewährt haben - früher hießen die Probe-Themen "Backstage bei einem großen Musical" oder "Eine Einsatzfahrt im Peterwagen".

Dass manche der Beobachtungen richtig sind, dass es etwas strenge Formen von Mutterschaftsfreude gibt, das wird ja niemand bestreiten. Aber Schärfe und Dauerhaftigkeit der Missbilligung sind doch auffällig. Die Comiczeichnerin Ulli Lust, die aus Wien stammt und seit einigen Jahren in Prenzlauer Berg lebt, wo sie Comicreportagen zeichnet, eine Frau, die ihre Umgebung genau im Blick hat ("Fashion Victims, Trendverächter", Avant-Verlag, Berlin 2008), ist regelrecht "erschreckt, wie derzeit auf diese Mütter eingeprügelt wird".

Was erregt die Zeitgenossen so? Zwei Erklärungen liegen auf der Hand. Wo wenige Kinder geboren werden, fehlt es an Verständnis für sie und die Eltern. Vielleicht tut sich auch eine Generation, die mit dem Forever-young-Ideal lebt, auch besonders schwer mit Kindern; sie führen vor Augen, dass wir altern und demnächst Platz machen müssen. Und natürlich gibt es das Argument, die Konzentration auf die Kinder schade dem Erfolg im Beruf und damit der Sache der Emanzipation.

Suspekt: Mütter, die ihr Kind selbst betreuen

Aber das allein dürfte die Empörung nicht erklären. Zwei andere Berliner Hassgruppen, die zugezogenen Schwaben und die Touristen, geben vielleicht einen Hinweis. Sie leben aus eigenen Mitteln, eine Provokation für den Altberliner, der gern betreut wird oder betreut. In ihrem Programm zur Abgeordnetenhauswahl im September haben die Grünen ihr Ideal der betreuten Stadt noch einmal ausgebreitet. Die Mutter aber, die sich um ihr Kind selbst kümmert, macht da nicht so ganz mit, sie will wohl was Besseres sein.

Gentrification Of East Berlin Continues

Weit verbreitet: das Klischee von den West-Frauen, die nicht vollzeitberufstätig sind, und ihre Zeit zwischen Spielplatz und Latte macchiato vertun.

(Foto: Getty Images)

Das will sie wirklich, sie will auch für ihr Kind das Bestmögliche. Das ist auch legitim, es würde der Gesellschaft vielleicht nicht einmal schaden, wenn es mehr Leute gäbe, die sich und die ihren steigern wollten. Das Beste haben Eltern immer für ihre Kinder gewollt. Aber weil es feste Muster gab, fiel es nicht auf. Man tat, was alle gewohnt waren. Das ist anders geworden. Die Latte-macchiato-Mütter können nicht den Vorbildern folgen, die bis in die frühe Nachkriegszeit galten, und die ihren Müttern oder Großmüttern eine gewisse Unbesorgtheit ermöglichten.

Die Kritik an dem verwöhnten, ich-starken Nachwuchs hat einen offenkundig konservativen Hintergrund: Späte Mütter verziehen ihre Kinder, sie legen überspannte Erwartungen in sie hinein, und überhaupt: das sorgsam geplante Kind rückt nahezu unvermeidlich in die Kronprinzen-, respektive Kronprinzessinnenrolle ein. Später wird es dann, wie eine Leitartiklerin der taz bemerkte, unfähig sein, "Verantwortung für andere zu übernehmen". An den Bedenken mag ja etwas sein. Vielleicht war die Selbstverständlichkeit, mit der frühere Generationen ihre Kinder in die Welt setzten und erzogen, ganz bekömmlich. Aber diese Selbstverständlichkeit ist eben dahin, und jeder kann das wissen. Geburtenplanung ist ein Teil der allgemeinen emanzipatorischen Bewegung, Emanzipationsgewinne aber gehen mit Sicherheitsverlusten einher.

Und das ist das ganz und gar Erstaunliche an der Kritik dieser neuen Mütter. Sie möchte den Konservatismus der neuen Familienseligkeit aufdecken und spricht doch selbst aus einem viel tiefer konservativen Loch. Sie stößt sich an den Verspanntheiten, dem Absichtsvollen. Ihr Ideal sind Mütter (und natürlich Väter), die wie von selbst das Richtige tun und treffen, das richtige Maß der Liebe, der Strenge, der Sorge. Aber das Verspannte und Absichtsvolle ist notwendige Folge einer Lebenswelt, die uns nicht mehr in selbstverständliche Aufgaben hineinwachsen lässt.

Hinter der Kritik an den Müttern steht das Ideal der Natürlichkeit, das gerade die Frauen seit je regiert. Die Mutter soll sein wie der Bär in Kleists "Marionettentheater": unbeirrt von Technik und Künstlichkeit mit sicherem Auge das Notwendige tun - aber auch nicht mehr. Das Natürliche steht in hohem Ansehen, das ist nicht überraschend. Wäre es anders, hätte "Über das Marionettentheater" seine kanonische Geltung längst verloren. Aber dass die Missgriffe des Künstlichen unvermeidlich sind, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben, das ist ja auch gut bekannt. Für die Mütter soll das nicht gelten? Das Übermaß der Kritik an ihnen zeigt, dass viele und ausgerechnet viele Linke noch ein Problem mit der Emanzipation haben.

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