Post aus Israel:Lagerfeuerpolitik

Frei nach Clinton heißt es in Israel: It's all about politics, stupid. Das gilt auch für einen Wochenendtrip in die Negev-Wüste. Für unsere Autorin eine Gratwanderung in doppeltem Sinne.

Julia Amalia Heyer

Den fünften Stein legt Dror in die Mitte. Mit den vier anderen hat er Ecken markiert. Eine Würfel-Fünf aus hellen Sandsteinbrocken auf roter Erde. Hinter uns glüht ein irritierend ebenmäßiges Bergrelief in der untergehenden Sonne. Wir sind auf einer Dreitageswanderung in der Negev. 62 Prozent der Fläche Israels sind Wüste. Trotz David Ben-Gurions Begrünungsplänen lebt dort nur etwa ein Zehntel der Bevölkerung. Die Floristenträume mancher Politiker - subsumiert unter dem Stichwort "blühende Landschaften" - scheinen manchmal einfach nicht aufgehen zu wollen.

Post aus Israel

Selbst Hiking in der israelischen Negev-Wüste kann nicht unpolitisch sein.

(Foto: Foto: Reuters)

Es ist Freitagabend und wir sind auf einem Plateau irgendwo in der Nähe von Dimona. Unser Nachtlager. Die anderen suchen Feuerholz, Dror und ich sitzen in der Hocke, hinter uns die Berge. Vor uns in der Ferne, fatamorgan flimmernd, das Negev Nuclear Research Centre mit seiner silbernen Reaktorkuppel. "Textilfabrik" nennt Dror es ironisch und spielt dabei auf die unzähligen Versuche israelischer Regierungen an, den wahren Zweck der Anlage zu verschleiern. Dann erklärt er mir, wie die Armee in den palästinensischen Gebieten vorgeht, um verdächtige Personen zu stellen.

Dafür hat er die Steine auf den Boden gelegt. Wir umzingeln das Haus, sagt er und deutet auf den Stein in der Mitte. Dann wird der Verdächtige aufgefordert, mit erhobenen Händen herauszukommen. "Wenn er das nicht tut, wird das Haus gestürmt, und wir holen ihn raus", sagt Dror. Er ist 26 und hat vier Jahre gedient. Oft sei er in Schusswechsel geraten. Einmal in Tamoun, einem kleinen Dorf bei Nablus, hätten sie gerade Stellung bezogen, als das Feuer vom Dach eines Nachbarhauses eröffnet wurde. Ein alter Mann schoss mit einem Gewehr hinter einem kleinen Jungen hervor, der ihm zeigte, wo die israelischen Soldaten sich befanden. Höchstens sechs sei der Junge gewesen. "Bevor ich erschossen werde, schieße ich selbst", sagt Dror. Er sieht ein bisschen aus wie der kleine Bruder von Zinédine Zidane und schaut einem faszinierend direkt in die Augen. Vor der in warmes Licht getauchten Negev-Naturkulisse zieht er die Brauen hoch und fragt mich leicht spöttisch: "But maybe you have another solution?"

Irgendwann nachmittags, bei einer kleinen Pause um den Gaskocher mit dem Kaffeepott, bin ich mit Dror ins Gespräch gekommen. Auf einem breiten Weg zwischen zwei Canyonkratern haben wir uns über den Karneval in Salvador de Bahia unterhalten. Auf einem schmalen Pfad durch ein Wadi dann über die unterschiedlichen Bildungssysteme in Israel und Deutschland. Und jetzt, kurz vor dem Lagerfeuer, sind wir beim Konflikt. Ganz unweigerlich. Es gilt, frei nach Clinton: It's politics, stupid! Alles ist politisch. Fast immer und überall. Und "stupid" fühle ich mich manchmal dabei.

Der Strand von Tel Aviv mag eine klischeehafte Ausnahme bilden - aber auch nur, wenn sich das Gespräch auf die Qualität der Beachball-Schläger beschränkt oder man nach dem besten Frühstückscafé auf der Sheinkin Street fragt. Es liegt auch nicht an Annapolis. Annapolis ist den meisten meiner Gesprächspartner, ob Israeli oder Palästinenser, nur einen Satz wert: "It's a joke."

Als mein Berliner Freund nach zehn Tagen Besuch wieder gefahren ist, sagte er: Toll hier. Wahnsinnig interessant. Leben würde er hier aber nicht wollen. Auf die Dauer würde ihn verrückt machen, dass alles, aber auch alles, politisch sei.

Einfach ist es nicht. Man kann beobachten, zuhören und abwägen. Urteilen kann man nicht. Dafür ist der eigene Erfahrungshorizont zu anders. Auf Drors rhetorische Frage murmele ich etwas von Misere und Westbank und Siedlungspolitik. Ich bekomme einen mitleidigen Blick. Dror ist nicht für die Aufgabe von Siedlungen im Westjordanland. Das sei der Anfang vom Ende Israels. Jetzt bin ich es, die nach seiner Lösung fragt. "Education", sagt er. Beide Seiten müsse man erziehen, offener füreinander zu sein. Das aber würde dauern. In 50 Jahren, sagt Dror, sei die Situation vielleicht eine andere.

Wir stehen auf und helfen den anderen, das Gemüse für unser kleines Schabbat-Dinner in der Wüste zu schneiden. Die Sonne ist untergegangen. Es wird ziemlich schnell ziemlich kalt.

Später sitzen wir ums Feuer, Eliad spielt Gitarre und wir singen - ganz camping-konventionell - "Let it be".

Weiter zum Eintrag vom 13.11.2007: "Taste the Revolution"

Lagerfeuerpolitik

Taste the revolution

Post aus Israel

Shopping in Ramallah.

(Foto: Foto: J. A. Heyer)

Als Hindi kommt, habe ich gerade die zweite Tasse arabischen Kaffee ausgetrunken. Mein Hallo-Lächeln ist schwarz gepunktet. Er muss grinsen und das Eis ist gebrochen.

Wir sitzen im ersten Stock des Al-Bireh-24-Stunden-Centers in Ramallah und schauen durch eine Fensterfront auf die belebte An-Nahda Street.

Es ist Samstagabend und der kleine grün-weiße Bus mit der Nummer 18 hat für die knapp 15 Kilometer von Jerusalem nach Ramallah fast eine Stunde gebraucht. Die Kilometerzahl, sei sie auch noch so gering, scheint für den Weg zwischen zwei Welten relativ irrelevant.

Mehr über Wege als Straßen, über Schlaglöcher und Steine holpern wir durch Ost-Jerusalem. Es ist dunkel, links und rechts sind durchgehend Häuser. Meine Orientierung ist dahin. Dann hören die Häuser auf der rechten Seite auf. Wir fahren an der Mauer entlang. Der Sicherheitszaun, wie er offiziell von israelischer Seite genannt wird, erinnert an einen gigantischen Lärmschutzwall. Geschätzt doppelt so hoch wie die Betonplatten, die in deutschen Stadtgebieten manche Autobahnabschnitte einmauern. Plötzlich wird es gleißend hell und der Bus hält an. Qalandia-Checkpoint.

Die Orientierung ist wieder da. Eine israelische Soldatin steigt ein, nervös krame ich nach meinem Pass. Die palästinensische Familie vor mir hält bereits ihre Permits auf Brusthöhe. Die Soldatin kontrolliert die Papiere, während sich ein zweiter Soldat an der Tür postiert, das Maschinengewehr im Anschlag. Meinen Pass nimmt sie nicht in die Hand, der weinrote Einband genügt. Wir fahren weiter, das Ganze hat vielleicht fünf Minuten gedauert.

Hindi fragt mich, ob es am Checkpoint irgendwelche Probleme gegeben habe. Ich verneine. "Good", sagt er. Hindi ist Palästinenser und in einem kleinen Dorf bei Nablus geboren. Er ist 26. Zwei Jahre lang hat er in Jerusalem studiert, dann lief seine Aufenthaltserlaubnis ab. Eine neue hat er nicht bekommen, in den Nachwehen der zweiten Intifada. Jetzt arbeitet er als Übersetzer für ausländische Medien und NGOs. Die Westbank darf er nicht mehr verlassen, seit er ohne gültige Papiere in Jerusalem von der israelischen Polizei erwischt worden war. Er hat mich nach Ramallah eingeladen.

Gemeinsam schlendern wir zum Al-Manara-Platz, wo steinerne Löwen, gestützt von einem eisernen Gerüst, im Kreis sitzen. Sehr viele Menschen sind auf der Straße, fast ausschließlich Männer, die meisten in unserem Alter. Überall hängen Plakate von Arafat. Dessen dritter Todestag wurde letzte Woche gefeiert. Hindi ist kein Arafat-Anhänger. Der habe genau ein Verdienst: Das brilliant funktionierende Korruptionssystem. "Do you vote for Hamas?", frage ich. Ich kenne Hindi seit einer Viertelstunde. "Never", antwortet er. Sein Vater sei Hamas-Anhänger, er habe sich deshalb mit seiner Familie überworfen.

"Challas", sagt er auf Arabisch. Das heißt soviel wie "Schluß jetzt!". In der Altstadt treffen wir Omar, Hindis besten Freund. Auch er arbeitet für eine NGO. Während Hindi in einem kleinen Laden mit riesiger Fleischtheke Hühnchen kauft, erzählt Omar mir, dass er versuche, in die Vereinigten Staaten auszureisen. Seine Freundin ist Amerikanerin. Außerdem sei die Situation beschissen, hier in der Westbank. Hindi und er hätten Glück, sie haben Arbeit. Sie sprechen gut Englisch. Manche beziffern die Arbeitslosigkeit bei den unter 30-Jährigen im Westjordanland mit 40 Prozent.

Als Hindi mit zwei vollen Tüten aus dem Laden kommt, steckt Omar ihm einen Schein in die Brusttasche. Dabei fällt sein Ausweis aus dem Geldbeutel. Ich möchte ihn aufheben, doch er kickt ihn weg, lächelt mich an und sagt: "It's crap, anyway." Dann sammelt er ihn wieder ein. Hindi möchte von mir kein Geld. Als ich insistiere, höre ich: "Challas". Ich darf auch keine Tüte tragen.

Gott ist der Spielleiter

In Hindis Wohnzimmer sitzen ungefähr zehn Leute. Babylonisches Stimmengewirr um den Tisch, auf dem Pappbecher, Wein und Bier stehen. An der Wand hängt ein Free-Palestine-Plakat. Daneben ein Werbeposter für Taybeh-Bier, das im Dorf mit dem gleichen Namen, nicht weit von Ramallah, gebraut wird. Der Slogan lautet "Taste the revolution". Omar stellt mir Hindis Mitbewohner Achmed und Annan vor. Annan kommt aus Taybeh. "Full house, always", sagt Omar grinsend. Dann gehen sie in die Küche, um zu kochen. Hilfe ist unerwünscht, schließlich sind wir die Gäste. Ich höre sie auf Arabisch scherzen und setze mich neben John.

John ist Ire, er hat in Dublin Human Rights studiert und lebt seit einem Jahr in Ramallah. Eine interessante Erfahrung sei dieses Jahr für ihn gewesen, aber zurück in Europa möchte er eine Kunstgalerie eröffnen. Sein Vater wird ihn dabei unterstützen, er ist Investmentbanker. Die internationale Gemeinschaft ist stark vertreten am Tisch. Allesamt arbeiten sie für kleine NGOs in Ramallah oder woanders in der Westbank: Vanina, eine Italienerin, arbeitet in einem Kindergarten. Yannis, ein Grieche mit Peace-Now-T-Shirt, nennt sich Friedensaktivist: hauptberuflich blockiere er Siedlerstraßen.

Nach dem Essen spielen wir ein Spiel. Karten werden ausgeteilt. Verdeckt. Derjenige, der das Ass bekommt, ist der Mörder, der den König bekommt, ein Spion. Die anderen sind friedliche Bürger. Sie müssen versuchen, mit Hilfe des Spions den Mörder unter ihnen auszumachen. Es gibt einen Spielleiter: Gott. Bei uns übernimmt die Rolle eine Amerikanerin, sie erklärt die Regeln für Runde eins: Ein Verdächtiger muss gefunden werden - dann wird abgestimmt. Wenn mehr als fünf jemanden für verdächtig befinden, scheidet derjenige aus. Achmed wird verdächtigt, der Mörder zu sein. Rot sei er geworden, als er sein Karte aufgedeckt hat, sagt Omar. Sechs Leuten in der Runde klingt das plausibel.

Bevor Achmed ausscheidet, darf er einen letzten Satz zu seiner Verteidigung sagen. Er sagt: "You know, I am Palestinian. I am desperate because you voted against me, I can blow myself up now." Ich muss schlucken, die anderen lachen. Hindi zwinkert mir beschwichtigend zu. Für die nächste Runde schlägt Yannis vor, denjenigen, der das Ass hat, also den Mörder, Siedler zu nennen. "Wie wäre es mit Engländer?", fragt John neben mir. Paulina, eine Polin, die bisher eher still war, sagt plötzlich laut: "We also have a German girl here ...". Wir spielen das Spiel bis halb vier Uhr morgens.

Weiter zum Eintrag vom 12. November: "Schabbat Schalom"

Lagerfeuerpolitik

Schabbat, AP

Das Schabbat-Fest am Freitagabend begeht die Familie mit Gebeten und gutem Essen.

(Foto: Foto: AP)

Zum Glück gibt es die Stuhllehne. An der kann man sich festhalten. Wenn man sonst nicht so recht weiß, wohin mit den Händen. Zu sechst stehen wir um den feierlich gedeckten Tisch, jeder hinter seinem Stuhl. Die zwei Schabbatkerzen brennen geschützt in kleinen gläsernen Schälchen.

Zusammen mit Christoph und Johanna, zwei Freunden zu Besuch aus Berlin, bin ich zum Schabbat-Essen am Freitagabend bei David eingeladen. David ist der Vater von Yoni und Yoni ist ein Freund von Johanna. Er ist in Jerusalem geboren und hegt eine Art Hassliebe zu seiner Geburtsstadt wie zu den Ritualen und Traditionen seiner Religion. Beiläufig hat er die Einladung ausgesprochen, die wir neugierig angenommen haben.

Ein bisschen befangen stehen wir um den ovalen Tisch, während David am Kopfende mit geschlossenen Augen den Kiddusch, den Schabbat-Segen, singt. Vor ihm steht ein gefüllter Kelch Wein. Ab und zu hebt er die Stimme, dann stimmen Yoni und seine Freundin Avital in das Gebet mit ein. Sie halten sich an den Händen und haben die Augen geschlossen. Sie kennen das Procedere. Wir nicht. Christoph hat die Hände gefaltet und weiß nicht so recht, wohin mit dem Blick. Ab und zu blinzelt er nach links, zu mir. Ich habe meine Hände auf der Stuhllehne abgelegt, nachdem ich mich gegen das Falten entschieden habe. Weil ich mir mit gesenktem Blick immer bigott vorkomme, schaue ich unverwandt zu David. Der wiegt sich zum Klang seiner Stimme.

Als wir bei Davids Haus im Jerusalemer Stadtteil Abu Tor ankommen, regnet es. "Der erste Regen", sagt Avital und klingt überhaupt nicht unglücklich. Es ist kalt, ich trage zum ersten Mal meine Winterjacke. Manchmal soll es im Winter in Jerusalem schneien.

"Schabbat Schalom", begrüßt uns David. Wir stellen uns vor und gehen dann zur Spüle, in der ein Krug mit Wasser steht. Dreimal gießt man sich Wasser erst über die linke, dann über die rechte Hand. David macht es vor und segnet dann seinen Sohn. Er nimmt Yonis Kopf in beide Hände und spricht ein Gebet, dann küsst er ihn auf die Stirn.

Nach dem Kiddusch gießt David den Wein aus dem Kelch in sein Glas, sagt etwas auf Hebräisch und nimmt einen Schluck. Als wir sehen, dass auch Yoni und Avital zum Glas greifen, machen wir dasselbe. David nimmt jetzt die bestickte Decke von den beiden Challot und zerteilt sie in kleine Stücke. Challah ist das Schabbatbrot, eine Art dunkler Hefezopf mit Mohn oder Sesam bestreut. Die zwei Laibe erinnern daran, dass am Freitag immer die doppelte Portion Manna gesammelt wurde, da man an Schabbat nicht arbeiten darf. David nimmt ein Stück, salzt es und isst es und reicht dann die Platte mit Brot samt Salzstreuer weiter. Wir machen es ihm nach und schieben das gesalzene Stück Brot in den Mund.

Ein bisschen ist es wie beim ersten Abendmahl: Man nimmt die Oblate, der Weg von der Hand zum Mund wird plötzlich ungewohnt lang, unnatürlich bewusst öffnet man den Mund. Man hofft, dass die Feinmotorik nicht versagt und die Oblate auf der Zunge landet.

Allerdings klebt die Challah nicht ganz so fest am Gaumen. Trotz Salz schmeckt sie süßlich nach Brioche. Yoni nimmt einen Schluck Wein, ich finde das eine gute Idee.

Danach gibt es eine klare Hühnerbrühe mit Dill, dazu verschiedene Salate aus Okraschoten und Quinoa. In kleinen Schälchen auf dem Tisch verteilt stehen Oliven und mixed pickles, in Essig eingelegte Gurken und Blumenkohl. Die sind hier, egal ob arabisch oder israelisch, so sauer, dass man, fasziniert von seinen erschreckten Geschmacksnerven, immer wieder probiert.

Bei Truthahn und Huhn mit Süßkartoffeln und Auberginen lässt die Befangenheit dann nach. Yoni und Johanna erzählen sich Geschichten von früher, Christoph und ich fragen David, der Rechtsprofessor an der Hebräischen Universität ist, nach den Aussichten der Friedenskonferenz in Annapolis. Im Augenblick lehrt er in Belfast. Als wir seinen konsternierten Gesichtsausdruck sehen, wechseln wir das Thema und Christoph erzählt von seiner Radtour durch Irland.

Nach dem Essen wird wieder gebetet. Birkat ha-Mazon heißt das abschließende Tischgebet. Wir bekommen ein kleines Büchlein mit englischer Übersetzung. "Jewish Prayers" steht auf dem Titel. Während David, Yoni und Avital mit geschlossenen Augen mehrstimmig auf Hebräisch singen, lesen wir ziemlich oft die kleine, vergilbte Seite, die David uns aufgeschlagen hat. Psalm 137: By the rivers of Babylon.

Mitsingen können wir nicht, obwohl wir den Text auch aus dem Alten Testament kennen. Die Melodie ist nicht die von Boney M.

Weiter zum Eintrag vom 6.11.2007: Die Gretchenfragen in Israel

Lagerfeuerpolitik

in Jerusalem

Jerusalem: Die Religion spielt eine Rolle, wenn man in der Hauptstadt des Monotheismus lebt.

(Foto: Foto: J. A. Heyer)

"Are you Jewish?" fragt mich meine koreanische Sitznachbarin im Hebräischkurs. Nein, sage ich. "Then why are you here?", fragt sie. Die Antwort bleibe ich ihr schuldig, weil wir wieder anfangen, im Chor das Verb trinken zu konjugieren.

"Sag, wie hältst du's mit der Religion?" ist in Jerusalem nach wie vor die Gretchenfrage beim Kennenlernen. Marthens Garten ist weit weg, aber die Frage nach der Konfession kommt gleich nach "Wie heißt du?" und "Woher kommst du?". Und wie im Faust geht es dabei meistens weniger um den reinen Glauben, als vielmehr um den Versuch, das Verhalten des anderen ein bisschen zu entschlüsseln. Für jemanden, der seine Glaubensangehörigkeit bisher eher passiv mit sich herumgetragen hat, eine ganz schöne Umstellung.

Mit meinem Nachbar Elad kann ich über alles sprechen. Zum Beispiel über kleine Dörfer an der Küste im südlichen Tamil Nadu oder über den Geschmack des Açaí-Safts, der aus einer Amazonas-Beere gewonnen wird. Ob der besser dickflüssig oder verdünnt getrunken werden sollte. Elad ist nach den drei Jahren Armee erst einmal zwei Jahre lang gereist und hat viel gesehen. Als ich ihm die Gretchenfrage stelle, zuckt er mit den Schultern. Koscher sei er nicht, dafür liebe er das Schweinefleisch beim Chinesen zu sehr - und um Schabbat streng gemäß der Regeln einzuhalten, lebe seine Familie zu weit weg.

"Ich bin jüdisch, weil ich so geboren bin", sagt Elad. Das sei eben so. Allerdings, fügt er hinzu, könne er sich nicht vorstellen, eine Nicht-Jüdin zu heiraten.

Die Religion spielt eine Rolle, wenn man in der Hauptstadt des Monotheismus lebt. Auch im Alltag. Auch beim Busfahren.

Wenn ich in die Altstadt möchte, fahre ich normalerweise mit der Nummer 1. Die Nummer 1 ist ein kleiner, grün-weißer Minibus, der ohne Umwege zur East Jerusalem Central Bus Station am Damaskustor fährt. Es ist ein arabischer Bus und die East Jerusalem Central Bus Station an der Sultan Suleyman Street ist der arabische Busbahnhof. Meine jüdische Mitbewohnerin Leora weigert sich, die Nummer 1 zu nehmen. Wenn wir zusammen einkaufen gehen, warten wir auf einen der jüdischen Busse. Die kommen seltener, brauchen länger und fahren auch nicht direkt zum Damaskustor.

Meine Freundin Simonne nimmt überhaupt keinen Bus. Das haben ihre Eltern verboten. Aus Angst vor einem Attentat. Sie fährt Taxi. Ich nicht, und deshalb gehen wir zu Fuß in die Stadt. Als wir in der Nähe des American Colony Hotels in Ost-Jerusalem nach dem Weg fragen, werden wir zum Tee eingeladen. Malek lebt in einem flachen, unverkleideten Betonbau. Unter einer Plane hat er eine Veranda eingerichtet und bietet uns den einzigen Sessel an. Er ist Vater von vier Töchtern, neben seinem Haus repariert er Autos. Er fragt uns, woher wir kommen. Deutschland, sage ich. Kanada, sagt Simonne.

Sie sagt nicht, dass sie auch Israelin ist.

Ich muss an den Abend während meiner ersten Woche hier in Jerusalem denken. Simonne und ich sitzen in einer Bar in der Rivlin Street in der New City, West-Jerusalem. Wir kommen mit John und Aaron am Nebentisch ins Gespräch. Beide haben ihre Kippot mit Klemmchen am Hinterkopf befestigt, beide haben Alija gemacht. Alija bedeutet "Aufstieg" im Hebräischen und wird als Synonym für die Einwanderung nach Israel verwandt. Aaron ist Informatiker aus Tennessee und lebt seit fünf Jahren in Jerusalem. "I love it", sagt er.

John hat England im August verlassen und hofft, in die israelische Armee aufgenommen zu werden. Er möchte seiner neuen Heimat dienen. Außerdem, sagt er und grinst ein bisschen, sei das der beste Weg, sich schnell zu integrieren. "Are you Jewish, too?", fragen sie. Nein, sage ich. Dann unterhalten sich die drei darüber, wie wunderbar es ist, als Juden in einem jüdischen Staat leben zu können. Dass sie die USA, England und Kanada nicht vermissen: Sie fühlen sich hier zu Hause. Etwas über sieben Millionen Menschen leben in Israel, davon sind ungefähr 76% jüdisch. Simonne sagt zu John, dass sie, wenn sie einen Soldaten sieht, immer daran denken müsse, wie gut es sei, ihr Land verteidigt zu wissen. Ich kann da nicht mitreden.

Malek fragt nicht nach unserer Religion. Er fragt, ob wir studieren und deutet in Richtung Skopusberg, auf dem wie eine moderne Festung die Hebräische Universität thront. Als seine älteste Tochter Aziza den Tee bringt, erzählt er stolz, dass sie Lehrerin ist.

"Do you like Jerusalem?", fragt er, als wir uns verabschieden. "Ja, sehr", antworten wir.

Auf der Straße sagt Simonne fast ein bisschen verwundert, dass das jetzt doch sehr nett war.

Eun Kyung aus dem Hebräischkurs ist übrigens Buddhistin und konvertiert gerade zum Judentum, weil sie ihren Freund, einen jüdischen Israeli, heiraten möchte.

Die Kolumne "Post aus Israel" erscheint jeden Dienstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/israel. Der Aufenthalt der Autorin wird gefördert von der Herbert-Quandt-Stiftung.

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