Post aus Israel:"Ich habe Angst"

Jacov hat den Holocaust überlebt. Heute lebt er in Israel und befürchtet in naher Zukunft ein Blutvergießen.

Julia Amalia Heyer

Jacov schöpft Hühnersuppe aus einem großen, silbernen Kessel, der höchstwahrscheinlich schon eine ganze Weile über der kleinen Flamme des Gaskochers auf dem runden Tisch stand. Sie duftet wunderbar.

Post aus Israel; Heyer

Jacov erzählt gelebte Geschichte.

(Foto: Foto: Heyer)

Die ganze Zeit hält sein linker Arm, ohne zu zittern, das immer voller werdende Tablett. Der Arm ist kräftig, braun von Sonne und Altersflecken. Etwas oberhalb des Handgelenks, über der silbernen Armbanduhr, ist die Nummer 170.083 eingebrannt. Jacov ist 83 Jahre alt, Holocaust-Überlebender und seit 1946 Mitglied im Kibbutz Na'an, 25 Kilometer südöstlich von Tel Aviv. Er und seine Frau Lois haben mich zum Pessach-Fest zu sich eingeladen.

Es ist unglaublich, in welche Gefühlswechselbäder und vor welche "Erfahrungskulissen" dieses Land einen immer wieder zu schleudern vermag. An einem lauen Abend am Yerushalayim Beach in Tel Aviv holt man sich beim Gin Tonic mit israelischen Holiday-Machos (Pessach ist quasi eine Woche lang Schabbat) eine dieser fiesen Sommergrippen. Tappt nach Hause mit leichtem Schwindel und hat alles ein bisschen satt: die Kakerlaken im Treppenhaus, den Sand im Bad und die permanente Drum-'n'-Bass-Party auf dem Dach nebenan.

"Die Tschechen sprechen das schönste Deutsch"

Am nächsten Morgen setzt man sich mit geschwollenen Lymphknoten, drückenden Schläfen und vielen in Mobiltelefone bellende Soldaten in den Zug nach Rehovot.

Und wird am Bahnhof von dem Mann mit der Nummer auf dem Arm abgeholt. Von dem man nicht wusste, dass er diese Nummer hat. Von dem man eigentlich gar nichts wusste. Bis auf die E-Mail-Adresse und die sehr freundliche Einladung zum Pessach-Mahl in seinem Kibbutz. Ich hatte die Einladung im März einfach angenommen.

"Ich werde einen roten Regenschirm halten, damit wir uns erkennen", hatte Jacov mir geschrieben. Erkannt habe ich ihn gleich, sein Alter erraten hätte ich nie. Bereits auf dem Weg zum Auto beginnt er zu erzählen. Sieben Sprachen spreche er, in Ostrau, Mähren, in der damaligen Tschechoslowakei geboren, "25er Jahrgang". Deutsch in der Schule gelernt: "Man sagt, die Tschechen sprächen das schönste Deutsch."

Mit 18 nach Theresienstadt, von dort nach Auschwitz deportiert, nach sechs Monaten weiter nach Schwarzheide in der Lausitz, um in einem Hydrierwerk zu arbeiten: "Ich war als Feinmechaniker registriert, das brauchten die wohl." Er zwinkert verschmitzt. Von Schwarzheide nach Sachsenhausen, von Sachsenhausen auf den Todesmarsch. Meine Schläfen explodieren.

"Schau, die Flaggen, alles für den Unabhängigkeitstag", "Da, rechts, das Weizmann-Institut." Wir fahren durch Rehovot. Das blau-weiße Tuch mit Davidstern flattert im Wechsel mit dem Wappen der Forschungsstadt. Jacov erzählt ohne Pause: Dass er in der Palmach-Bewegung gekämpft hat, wer Chaim Weizmann war, dass ihm seine "E-Mail-Schwester" Monika aus Bayern eines meiner Briefchen geschickt und er mich daraufhin eingeladen habe. Dazwischen sagt er immer: "Weißt du das? Das weißt du doch." Die einzige Frage: Was ich von der schwarz-grünen Koalition in Hamburg halte.

"Ich habe Angst"

In der kleinen Wohnung in Na'an empfängt uns seine Frau Lois. Lois ist wunderbar. Amerikanische Jüdin, 77, in den 50er Jahren aus Kentucky nach Israel emigriert, ist sie das, was man auf Englisch als "witty" bezeichnen würde. Nachdem Jacov Radio und Fernsehen - auf Hebräisch und Englisch - eingeschaltet hat ("In Israel muss man immer Nachrichten hören."), setzen wir uns an den Tisch und trinken, kein Scherz, Jacobs Krönung.

Post aus Israel; Heyer

Vor dem Pessach-Fest: Es werden der Auszug aus Ägypten und der Frühlingsbeginn gefeiert.

(Foto: Foto: Heyer)

Jacov erzählt. Vom Krieg, von der Tschechoslowakei. Von den Lagern. Holt immer wieder Bücher, die ich mir durchsehen soll. Liest mir Textstellen vor. Über den Russlandfeldzug aus dem Kriegstagebuch des Generaloberst Halder: "Weißt du das? Das weißt du doch!" Bücher nehmen sehr viel Raum in der kleinen Wohnung ein. Dann sagt Lois: "Jacov, stopp." Wir gehen zum Essen.

"Kleines Land, großer Ärger"

Na'an wurde 1930 gegründet und ist mit 900 Mitgliedern der größte Kibbutz in Israel. Wir gehen auf den kleinen Straßen, vorbei an flachen Häusern. Alles ist grün, blüht und duftet. Bis auf die schimpfenden Papageien ist es herrlich still.

Der Speisesaal mit der wunderbaren Hühnersuppe atmet genau die Art Sozialismus, die in der Realität selbst hier im Kibbutz nicht mehr existiert. Mit dunklem Holz vertäfelt, ziehen sich über den Steinboden lange Tische mit verschiedenfarbigen Tischdecken. Durchgängig bestuhlt. "Jeder hat seinen Platz", sagt Lois. Nach der Jahrtausendwende wurde Na'an, wie viele andere Kibbutzim, privatisiert. Der Kibbutz besitzt neben Zitrus- und Avocado-Pflanzungen auch eine Fabrik, die Sprenkler herstellt.

Nach dem Essen fahren wir durch die Ländereien. Das fluoreszierende Grün der Zitronenbäume wechselt mit der goldgelben Steppe bereits geernteter Weizenfelder. Auf einer Hügelkuppe in einem Kiefernwäldchen hält Jacov an: "Da hinten am Horizont siehst du Ramallah."

Er hält kurz inne. "Wie klein Palästina doch ist. So viel Ärger um einen so kleinen Streifen Land." Nach dem UN-Teilungsplan von 1947 sollte die Grenze zwischen beiden Staaten direkt durch Na'an verlaufen.

Ob er glaube, dass es Frieden geben könne, irgendwann, frage ich Jacov, als wir wieder um den Küchentisch sitzen. "Nein", sagt er. Allenfalls einen Waffenstillstand. Und zitiert ironisch Marschall Foch bei den Friedensverhandlungen von Versailles.

Allerdings, fährt er fort, habe er 1948 auch nicht geglaubt, dass es den Staat Israel länger als ein Jahr geben werde. "Jetzt gibt es ihn schon 60 Jahre", sagt er und verzieht den breiten Mund zu einem Lächeln.

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Historische Aufnahme vo einem Pessach-Fest.

(Foto: Foto: Heyer)

"Die müssen raus"

Später schauen wir "Tagesschau". Beim Beitrag über den Ausbau der israelischen Siedlungen Elkana und Ariel im Westjordanland schaue ich ihn fragend an. "Was soll ich sagen, begeistert bin ich nicht", antwortet er sarkastisch: "Die müssen raus. Wir können ohne Tempel und Jerusalem leben." Als Lois und er mir einen Bettbezug für das Sofa bringen, sagt er: "Weißt du, es wird hier bald ein fürchterliches Blutvergießen geben. Und ich habe Angst."

Am Morgen des Erev Pessach werde ich um sieben Uhr von Jacov und dem ziemlich lauten Vivaldi-Konzert in A-Dur geweckt. Beim Morgenspaziergang gehen wir an der Synagoge vorbei. In dem flachen Häuschen, das sich durch nichts von den anderen unterscheidet, sitzen Männer im weißen Tallit, Gebetsmantel, im Kreis und singen. Jacov sagt: "Du kannst mich alles fragen. Geschichte, Geographie. Was du möchtest. Nur nichts über Religion." Orthodoxe jedes Glaubens sind ihm suspekt. Das Judentum betrachtet er eher als Klub denn als Religion.

Am Frühstückstisch, wo es entgegen der Pessach-Vorschrift neben den ungesäuerten Matzen auch ganz normales Brot gibt, erzählt Jacov schmunzelnd von Magda Goebbels und ihrem früheren jüdischen Geliebten Viktor Arlosoroff. Vitali hätte diese ihn zärtlich genannt. "Weißt du das? Das weißt du nicht!" Magda Goebbels hatte auch einen jüdischen Stiefvater. Auch das wusste ich nicht.

Während der Mittagsruhe - einer Pause, die ich sehr nötig habe, denn zuhören strengt an - lese ich von Norbert und Stephan Lebert das Buch "Denn du trägst meinen Namen". Über das für manche mehr, für manche weniger schwere Erbe eines Nazi-Elitenschergen-Namens. Das Buch habe ich im Regal neben dem Sofa gefunden. 222 Seiten, die thematisch zu diesem Nachmittag wie die Faust aufs Auge passen.

Am frühen Abend machen wir uns auf den Weg zum Pessach-Mahl in der festlich geschmückten Sporthalle. Dem größten Seder in ganz Israel. 1200 Menschen feiern hier gemeinsam den Auszug aus Ägypten - und den Frühling. Wir essen "gefilte Fisch" und gefülltes Huhn und singen aus der buntverzierten Haggada, der Pessach-Liturgie.

Glücklich und ein bisschen erschöpft sitze ich zwischen Lois und Jacov und lausche den Kibbutzkindern, die auf der Bühne als Sklaven verkleidet, singen: "Je mehr man uns quälte, desto stärker wurden wir."

"Ich habe Angst"

Post aus Israel; Heyer

Beduine mit Sohn

(Foto: Foto: Heyer)

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"Ich habe Angst"

Israels Minderheiten-Komplex

Es gibt israelische Staatsbürger, für die der 60. Geburtstag "ihres" Landes keinen Grund zum Feiern darstellt. Darunter dürfte zum Beispiel der Großteil der 1,2 Millionen Israeli Arabs fallen - der Palästinenser mit israelischem Pass.

Zu ihnen gehört auch Faisal, 53 Jahre alt, Vater von acht Söhnen und drei Töchtern. Ehemann von zwei Frauen. Herr über 60 Schafe und zwei Kamele. Faisal gehört zur Beduinen-Minderheit in Israel. Über 150.000 Nachfahren des einst nomadischen Hirtenvolks leben im Süden des Landes in der Negev-Wüste.

60 Prozent der Fläche Israels besteht aus Wüste. "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist" wird David Ben-Gurion gern zitiert. Ganz ernsthaft hatte der "Vater der jüdischen Nation" deshalb avisiert, die 12.000 Quadratkilometer Sand und Steine für sein Volk zum Blühen zu bringen.

Fährt man jetzt auf dem Highway 40, unter bereits sengender Aprilsonne, in Richtung Be'er Sheba, sieht man in der Tat kleine Wunder: Sattgrüne Wiesen, Felder, Wäldchen. Soweit die jeweilige Bewässerungsanlage der jeweiligen jüdischen Gemeinde reicht.

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Beduinen-Frauen beim Kochen

(Foto: Foto: Heyer)

Jenseits dieser Oasen: sandige Wüstenei. Ab und zu Wellblechverschläge und große mit Plastikplanen bedeckte Zeltgerüste. Ein paar kleine, flache Häuser aus Stein. Hier leben die Beduinen.

Bis 1948 waren die mittlerweile sesshaften Hirten mit ihren Viehherden mehr oder minder allein in der Wüste - weder die Osmanen noch die Briten zeigten größeres Interesse am ockergelben Ödland. Das hat sich seitdem geändert und soll sich nach den Plänen der israelischen Regierung noch weiter ändern: Mehr jüdische Familien sollen sich dort ansiedeln. Das Militär braucht Platz.

Beduinen-Nakba

Nach der Staatsgründung 1948 flüchteten fast 100.000 Beduinen in dem Nakba (Katastrophe) genannten Exodus in die Nachbarländer, nach Jordanien, Syrien oder Ägypten. Vertrieben von der, zynisch gesprochen, ethnisch motivierten "Landschaftsgärtnerei" der israelischen Regierungen. Die Verbliebenen wurden in einem auf 1500 Quadratkilometer begrenzten Dreieck, Seyag genannt, im östlichen Negev "konzentriert": Ein Viertel der gesamten Wüsten-Bevölkerung auf circa zehn Prozent des gesamten Wüstengebiets.

Seither kämpfen sie um ihre Existenz: ihr Land. Israel erkennt die traditionellen, soll heißen mündlich überlieferten, Landmarken der Beduinen nicht an. Deshalb wird die indigene Bevölkerung auch nach Staats-Gusto umgesiedelt. Seit Ende der sechziger Jahre hat die israelische Regierung zu diesem Zweck sieben Beduinen-Siedlungen zwischen Be'er Sheba, Arad und Dimona gebaut. Dort lebt mittlerweile etwa die Hälfte der arabischen Hirten-Bauern.

Die andere Hälfte lebt in sogenannten unrecognized villages. Kleinen Dörfern ohne Elektrizität, fließend Wasser, weitgehend ohne jede Infastruktur. Bedroht von Räumungsbescheiden und Bulldozern, mit denen die Regierung das schafft, was man Facts on the ground nennt. Sie betrachtet diese Dörfer als illegal. Seit 2001 sind über 350 dieser nach israelischem Recht illegalen Behausungen abgerissen worden. Illegale Äcker mit Gift besprüht oder plattgewalzt worden.

Ali Abu Sbayyih sitzt in seinem kleinen Büro im Zentrum der Wüstenstadt Be'er Sheba bei Burekas und Minztee und zitiert sinngemäß Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Er sagt, dass es nur ein Ziel gebe, für das sich lohne zu kämpfen: In Würde zu leben.

Er kämpft, indem er für den RCUV arbeitet. Das Akronym steht für "Regional Council for the Unrecognized Villages in the Negev", eine NGO von Beduinen für Beduinen. Ein Versuch, den Negev-Plänen der israelischen Regierung etwas von der Betroffenen-Seite entgegenzusetzen. Abu Sbayyih schreibt Petitionen an den Obersten Gerichtshof, Berichte für die UN, organisiert Konferenzen und spricht mit Journalisten. Versucht mit allen Mitteln einer nicht auf Gewinn ausgerichteten, vom Staat weder organisierten noch abhängigen Organisation, auf die "katastrophale Lage", wie er sagt, seines Volkes aufmerksam zu machen.

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Stoppt die Stippvisiten: Besucher sollten sich Zeit nehmen für Israel.

(Foto: Foto: Heyer)

Israelische Staatsbürger zweiter Klasse

Es könne nicht sein, dass Beduinen in Israel Bürger zweiter Klasse seien, deren Belange schlicht ignoriert werden. Die man behandelt, als stellten sie eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar.

"Wir haben Rechte. Wir sind israelische Staatsbürger", sagt Abu Sbayyih und klingt ein bisschen verzweifelt: "Als solche wollen wir auch behandelt werden. Nicht mehr und nicht weniger." Weder forderten sie eine unabhängige Regierung, noch hätten sie etwas gegen die Existenz des Staates Israel. Nur in Ruhe leben wollten sie. Mit ihrem Vieh auf ihrem Land. Wie früher auch.

Man könne sie doch nicht einfach umsiedeln, sagt er entsetzt. Außerdem sei der Raum in den vom Staat gebauten Beduinen-Städten viel zu eng. Das Weideland für die Herden zu knapp. Um mehr Land von der Israel Lands Authority (ILA) zu pachten, seien sie zu arm. "Außerdem", fügt er hinzu, "pachtet man doch nicht sein eigenes Land!"

Die Beduinen werden von der israelischen Regierung nicht als Bauern anerkannt. Sie bekommen weder die üblichen Agrarsubventionen, noch dürfen sie ihre Wolle, ihr Fleisch oder ihre Milch verkaufen. Die meisten leben von Subsistenzwirtschaft und dem Tauschhandel untereinander.

Faisal sitzt auf einem buntbestickten Kissen in einem großen, mit schwarzen Plastikplanen verhangenen Zelt. Irgendwo in der Nähe von Be'er Sheba. Die kleine Ansammlung von Zelten, Hütten und Verschlägen, in der immerhin 3000 Menschen leben, ist auf keiner Karte zu finden.

Einer seiner acht Söhne bringt Kaffee. Faisal sagt: "Wir waren hier als die Türken kamen und gingen. Wir waren hier als die Briten kamen und gingen. Jetzt sind die Israelis hier. Warum sollen wir weg?"

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"Ich habe Angst"

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Der Sonnenuntergang über dem See von Genezareth kann man getrost als quasi-religiöses Erlebnis bezeichnen.

(Foto: Foto: Heyer)

"Ist das gefährlich?"

Besuch ist wie Fisch, sagt man. Nach drei Tagen fängt er an zu stinken. Meistens ist das ein bisschen wahr. Hier ist das anders: Ich freue mich über Besuch - und er sollte definitiv länger als drei Tage bleiben.

Denn Israel ist flächenmäßig zwar nicht größer als Hessen, aber doch ein bisschen komplexer. Auch ist man in den seltensten Fällen als Angela Merkel mit einer Glückwunsch-Agenda unterwegs. Vielleicht möchte man ja bei seinem Besuch über den Kernland-Tellerrand hinausschauen.

Tatsächlich lebt es sich hier ein bisschen anders. Weil sich manches einfach nur sehr blass mündlich überliefern lässt, freue ich mich, wenn Familie/Freunde/Bekannte mich besuchen kommen. Den Flug nicht scheuen und mir schließlich ziemlich aufgeregt in der Ankunftshalle des Ben-Gurion-Flughafens in die Arme laufen.

"Ganz genau wollten die wissen, was du hier machst - und warum ich/wir jetzt hier sind." Viele Fragen seien gestellt worden: Wo man übernachte. Welchen Reiseführer man habe. Ob der im Koffer sei oder im Handgepäck. Und höflich seien "die" nicht gerade gewesen. Es gibt große Unterschiede bei dieser Art von Einreise-Erfahrung. Am liebsten höre ich die Geschichten von El-Al-Passagieren mit syrischem Stempel im Pass.

Mir wird, wenn ich Besuch habe, immer klar, dass ich schon eine ganze Zeit lang hier lebe. Dass ich viel gereist bin in Israel/Palästina. Dass ich sehr viele sehr unterschiedliche Situationen und Menschen erlebt habe. Ob in Metula, dem pittoresken, von Minenfeldern umgebenen Städtchen in den Golan-Höhen, oder in Eilat, dem israelischen Club Med, an der Südspitze des Landes. Ob in Hebron, Nablus, Tamoun oder Taybeh. In dieser ganzen mit Konnotationen beladenen Nahost-Region.

Sich selbst der Nächste

Ich saß im Winter kälteblau am Golf von Aqaba und lauschte den elegischen Ausführungen eines jordanischen Tauchlehrers: "We don't have a problem with Israel. We just love our King." Vorige Woche schwitzte ich im Greek Club am Midan Tahrir in Kairo, während mir ein ägyptischer Elitensprößling in breitem amerikanischen Akzent versicherte, er sei jederzeit bereit, gegen Israel in den Krieg zu ziehen.

Nichtsdestotrotz bin ich weit davon entfernt, ein nur annähernd umfassendes Bild von diesem Fleckchen Erde zu haben. Und deswegen auch immer ein bisschen ratlos, was ich meinem Besuch von diesem Land, in dem ich lebe, vermitteln soll. Eine Art touristischer Ausgewogenheit ist hier schwer. Das "Reiseziel" eines jeden ist unterschiedlich - und jeder wird mit entsprechend unterschiedlichen Eindrücken wieder gehen.

Das "A priori" allerdings ist immer dasselbe:

"Und du meinst, es ist jetzt kein Risiko nach Israel zu kommen?" Jeder ist sich selbst der Nächste: Das Risiko, nach Israel zu kommen, scheint manchen ungleich größer, als bereits in Israel zu sein. Man verzeihe die verbal zur Schau getragenen Abgeklärtenmiene, aber, ganz ehrlich, ich antworte auf diese Frage nicht so gern. Wir alle lesen Nachrichten. Ich fühle mich 80 Kilometer nördlich des Gazastreifens nicht gefährdeter als nachts um halb drei an der S-Bahn-Station Neukölln.

Für die Unentschlossenen ohne große politische Ambitionen habe ich neben den beiden Haupt-Städten einen Vorschlag zur Güte: Ich fahre gerne auf dem Highway 2 nach Norden. Ins grüne, fruchtbare Galiläa - wo das Abendlicht sich so golden-glänzend über Felder und Hügel legt wie der Heiligenschein auf naiven Ikonenbildern Jesus Christus Kopf umstrahlt. Den Sonnenuntergang am See Genezareth darf man getrost als quasi-religiöses Erlebnis bezeichnen. Eine Besuchs-Prämisse gibt es allerdings: Nie wieder werde ich diesen See auf einem Zweirad umrunden. Schon gar nicht auf einem geliehenen. Ein Mal und nie wieder. Jetzt genieße ich die Serpentinen beim Anstieg zum Berg der Seligpreisungen ausschließlich zurückgelehnt auf einem dickgepolstertem Autositz.

Haifa ist ebenfalls einen Besuch wert. Auch wenn sich die vielgepriesene Koexistenz zwischen Juden und Arabern in der Küstenstadt am Karmelberg meiner Ansicht nach darauf beschränkt, dass beide während des zweiten Libanonkriegs ohne Unterschied von der Hisbollah großzügig mit Katjuschas versehen wurden. Für Humanismus live empfehle ich einen kleinen Imbiss in Wadi Nisnas: Dort kann man frei nach Lessing eine Ringfalafel essen. Mit Juden, Christen, Muslimen und vielleicht sogar mit einem oder einer Ba'hai.

Apropos Essen und Religion: Meinem Besuch lege ich nahe, in Nazareth eher die Restaurants aufzusuchen als die Schulbank, die Klein-Jesu drückte.

Schluss mit dem Reiseführer-Blabla: Meine Berliner Freunde, mit denen ich im Herbst zusammen mit den "Rabbis for Human Rights" bei palästinensischen Bauern in der West Bank Oliven ernten war, sind mit anderen Eindrücken nach Hause gefahren als mein Papa, mit dem ich gerade durch die Ruinen der antiken Herodes-Stadt Cäsarea gestapft bin. Prioritäten sind eben unterschiedlich. Und in einer Woche sieht man auch nicht viel mehr als in drei Tagen.

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"Ich habe Angst"

Miriam Weissenstein

Miriam Weissenstein vor dem wertvollsten Stück ihres Mannes: Israels erster Ministerpräsident David Ben-Gurion bei der Proklamation des Staates Israel.

(Foto: Foto: Heyer)

Besuch bei einer sehr alten Dame

Frau Weissenstein ist eine sehr gepflegte alte Dame. Sie sitzt hinter ihrem ziemlich beladenen Schreibtisch, blättert in einem vergilbten Fotoalbum und deutet ab und zu mit einem altrosa lackierten Zeigefingernagel auf ein Bild. "Da war ich mager", sagt sie dann.

Miriam Weissenstein ist 94 Jahre alt und seit 68 Jahren Inhaberin von "Photo-Prior".

Jedes Mal, wenn ich vom Strand komme oder zum Strand gehe (was ich zur Zeit sehr oft tue), bleibe ich fasziniert vor dem staubig-trüben Schaufensterglas dieses kleinen Lädchens in meiner Straße stehen. Andächtig betrachte ich die dort ausgestellten großformatigen Schwarzweißabzüge. Aufreizend posiert da eine Fünfziger-Jahre-Schönheit mit Schmetterlingsbrille und Spitz-BH am Strand, es lachen Angler mit hochgekrempelten Hosen von einer Jolle im Hafen von Jaffa, und Jitzchak Rabin schaut faltenlos und mit festem Blick in die Kamera. Selten ist der Ausdruck "Momentaufnahme" treffender. Selten ist das Bannen vergangener Momente auf Papier unmittelbarer. Mit dem Blick durchs staubige Glas geht man auf Zeitreise.

Als ich wieder einmal so stehe und denke, dass Rabin ein wirklich schöner Mann war, winkt mich die alte Frau Weissenstein in ihren Laden. "Ata me Germania?", fragt sie mich. "Ken", antworte ich: Ja, aus Deutschland. Sie lächelt. "Willkommen in Israel", sagt sie auf Deutsch ohne Akzent.

Miriam Weissenstein, geboren im Jahre 1913 als Fabrikantentochter in einem Prager Vorort, ist mit acht Jahren mit ihrer Familie nach Israel gekommen. "Was wollt ihr in Palästina?" haben die Freunde der Eltern damals gefragt. Dort gebe es doch nichts als Sand. "Ich warte nicht, bis man uns hier umbringt", hat die Mutter schlicht geantwortet.

Frau Weissenstein ist Protagonistin, lebendes Archiv nicht nur der Entstehungsgeschichte, sondern des gesamten Werdegangs von Eretz Israel - das in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert. Nicht nur, weil sie seine Geschichte als ihre erzählen kann - sondern auch, weil sie dieselbe durch Licht auf chemisch behandelter Oberfläche dokumentiert hat: Eine Viertelmillion Negative lagern fein säuberlich sortiert in kleinen Holzschubladen im Lädchen mit der hohen Decke in der Allenby Street. Sütterlinbeschriftet.

1936 heiratet Miriam Arnstein den nach Israel emigrierten Fotografen Rudolph Weissenstein aus Iglau in Mähren. Von der Zeit des Jischuw, der jüdischen Bevölkerung in Palästina, über die Staatsgründung Israels hin zum Wachsen und Gedeihen der jüdischen Nation, dokumentiert er in seinen Bildern den Alltag. Keine Kriege. Keine Propaganda. Menschen und Landschaften.

60 Jahre Israel, das seien 60 Jahre großartiger Aufbauarbeit der Menschen unter schwierigen Bedingungen, hat Angela Merkel in ihrer Rede vor der Knesset gesagt. Rudolph Weissensteins Bilder sind Zeugen dieser Zeit. Er und seine Frau die Foto-Pioniere. Auf Eseln seien sie in den vierziger Jahren durchs Land geritten, erzählt Frau Weissenstein. Mehr Kameras und Objektive als Kleider am Leib.

Auf den Aufnahmen sieht man Ghandi-ähnliche Brillenträger Pflüge durch die Wüstenei ziehen. Frauen mit Kopftuch, die versuchen, in steiniger Einöde Gärten anzulegen. Seit dem Tod ihres Mannes 1992 verwaltet Miriam Weissenstein seinen Nachlass.

Im Augenblick hat das Lädchen in der Allenby Hochkonjunktur. Rudolph Weissenstein war der Einzige, der David Ben-Gurion - unter einem Porträt Theodor Herzls stehend - fotografieren durfte, als dieser am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel verkündete. Das Bild ist so etwas wie die offizielle Geburtstagskarte des Landes. Seit 60 Jahren geht es um die Welt. Ein riesiger Abzug hängt direkt neben dem Eingang. Während Miriam Weissenstein in sanftem Tonfall von vergangenen Zeiten erzählt, betritt eine Gruppe Israelis das Geschäft und bleibt ehrfürchtig davor stehen.

"Wenn ich Sie sehe, Miriam, sehe ich Israel", habe einmal jemand zu ihr gesagt. Die Faszination, der Geschichte seines Land in die Augen zu schauen, spiegelt sich wider in den viel jüngeren Gesichtern der Gruppe. Sie sind bewegt.

Es ist faszinierend, mit einem so alten Menschen zu sprechen. Manchmal auch ein bisschen anstrengend. Wenn Frau Weissenstein erschöpft ist, fällt sie ins Tschechische. Sie erzählt, springt manchmal in ihren Geschichten - erinnert sich aber ganz genau, wie die bestellte Badewanne 1940 heil in Jaffa ankam. Und dann beim Verladen auf den Eselskarren in zwei Teile brach.

Über den Holocaust spricht Miriam Weissenstein nicht. Sie sagt nur: "Dann kamen immer mehr Menschen hierher. Das war schön." Sie spricht das ö als e. Dass Glaube ihr nichts bedeute: "Ich frage die Religiösen immer, wo ihr lieber Gott war, als man sie ermordet hat."

Als ich sie frage, was Israel für sie bedeute, sagt sie bloß: "Israel ist der Name des Staates, in dem ich lebe." Sie sei stolz, dass ihr Mann bei der "Taufe" dieses Landes zugegen war und diesen Moment mit seiner Kamera für die Ewigkeit gebannt hat.

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