Porträt:Was bleibt

Seit fast 30 Jahren entrümpelt Billy Hutter Wohnungen - und taucht dabei jedes Mal in das Leben von Fremden ein.

Von Titus Arnu

Wenn Billy Hutter die Wohnung eines kürzlich verstorbenen Menschen betritt, fühlt er sich oft wie ein Schatzsucher. "Unberührte Wohnungen sind so selten wie unentdeckte Grabkammern im Tal der Könige", sagt er, "denn meistens waren die Verwandten schon da, um nach dem Sparstrumpf zu suchen." Hutter ist Entrümpler, er durchforstet hauptberuflich Nachlässe von Menschen, die er nicht kennt. Manchmal stößt er dabei auf ein Geheimfach im Schreibtisch, in dem Bargeld versteckt ist, ab und zu entdeckt er ein wertvolles Gemälde. In der Regel geht es ihm um Möbel, Lampen und Design-Objekte, die er restauriert und dann verkauft.

Billy Hutter, 58, entrümpelt seit fast 30 Jahren Wohnungen, die meisten davon in und um Ludwigshafen. Ursprünglich war das nicht sein Traumberuf, er studierte Politik und wollte gern Künstler werden. Das Entrümpeln war ein Job, um die Miete zu bezahlen - doch das Geschäft lief so gut, dass er irgendwann sein Studium abbrach und seine eigene Entrümpelungsfirma gründete. Jetzt ist er ein künstlerischer Entrümpler oder ein entrümpelnder Künstler. Er schreibt Bücher, erforscht die Geschichte seiner Heimatstadt und veranstaltet Kunstaktionen. "Beim Entrümpeln habe ich vielleicht auch einen intellektuellen Blick", sagt Billy Hutter, während er durch sein kleines "Heimatmuseum" führt, das er in der Ludwigshafener Seilerstraße eingerichtet hat. Darin bewahrt er alltägliche Dinge, Tagebücher, Bilder und Bücher aus entrümpelten Wohnungen auf, die er für interessant hält.

Bilder für Entrümpler Geschichte

In seinem Museum stellt Hutter mysteriöse Funde aus seinen Entrümpelungen aus, wie dieses Foto.

(Foto: Billy Hutter/Metrolit)

Hutter hat keine schrankartige Figur wie ein Möbelpacker, im Gegenteil, er ist erstaunlich schmächtig, ein kleiner Mann mit grauen Haaren und verschmitztem Blick. Beim Treffen in seinem Heimatmuseum in Ludwigshafen trägt er kurze Hose, T-Shirt und schwarze Punker-Stiefel mit roten Schnürsenkeln. Nach einem Rundgang durch die drei Räume fischt er in dem nahen Biergarten eine Zigarette aus dem zerknitterten Päckchen und beginnt zu erzählen - von skurrilen Funden, von Messie-Wohnungen, von unbekannten Menschen, in deren Biografien er herumwühlt. Seine Arbeit ist traurig, banal und spannend zugleich, denn er taucht jedes Mal in das gerade zu Ende gegangene Leben eines Menschen ein. Bei seiner Tätigkeit stellt sich eine philosophische Frage: Welchen Wert haben die Gegenstände, die ein Mensch hinterlässt? Was ist wichtiger, was überdauert länger - der emotionale Wert oder der finanzielle? Und, allgemeiner betrachtet: Was bleibt von einem Leben übrig?

Auf materieller Ebene lässt sich das gut beantworten. Der einzelne Mensch in Deutschland hinterlässt nach seinem Ableben im Durchschnitt etwa 15 bis 20 Kubikmeter Restmüll. Was Hutter in einer zu entrümpelnden Wohnung wertlos erscheint, wird zertrümmert, zersägt und entsorgt - Glas, Metall und Sondermüll kommt in die jeweiligen Sammelcontainer, der Rest landet in der Müllverbrennungsanlage. Schwieriger ist es mit ideellen Werten, die erkennt man als Außenstehender nicht so leicht, und sie lassen sich meistens auch nicht so gut aufbewahren.

Bilder für Entrümpler Geschichte

Das seltsame Tagebuch des Karlheinz N.

(Foto: Billy Hutter/Metrolit)

Manchmal kommt selbst Billy Hutter, der schon viel gesehen hat in seinem Job, ins Grübeln. Zum Beispiel in der Wohnung von Karlheinz N., der bis zu seinem Tod alleinstehend war und anscheinend keine nahen Verwandten hatte. Seine Habe wirkte zwar nicht besonders luxuriös, es gab keine Kunstwerke oder erlesenen Antiquitäten. Aber doch schien sie etwas Besonderes zu sein. Warum zum Beispiel hatte der Mann dreißig bis vierzig Dosen Sauerkraut gehortet? Wieso hatte er unbenutzte Papiertüten mit der Aufschrift "Frisch aus erster Hand" gestapelt? Was hatten die mysteriösen Aufzeichnungen auf den Zetteln zu bedeuten - und was war das für eine seltsame Päckchen-Parade? Etwa hundert Pakete, jedes einzelne sorgsam in Packpapier geschlagen und mit Schnüren verknotet, hatte Karlheinz N. offensichtlich in einem Regal aufgereiht. Hutters professioneller Schatzsucher-Ehrgeiz war geweckt. Später beim Auspacken dann die Ernüchterung: Meist nur Schachtel in Schachtel in Schachtel, dann Holzwolle, "ein blöder Kindergeburtstagsscherz", erzählt Hutter lachend, denn im Kern der Kokons waren Holzscheite, Steine oder gar nichts, jedenfalls nichts Wertvolles. Die Sauerkrautdosen hatte er anscheinend nur gehortet, weil sich Sauerkraut eben jahrelang aufheben lässt. Und dann die Wursttüten: In den ordentlich gefalteten Papierhüllen waren keine Geldscheine, sondern vergilbte Pornofotos, so viel zum Thema "Frisch aus erster Hand". Hutter fragte sich, was dieser komische Karlheinz für ein Mensch gewesen war, bevor er 1990 im Rhein ertrank. War er nur etwas wunderlich oder ein psychisch kranker Mann? Die Umstände des Todes blieben damals ungeklärt. Fest steht, dass er am Ende bankrott war.

Die Sachen in der Wohnung waren auf eine seltsame Art geordnet. "Er war ein Bewahrer", sagt Hutter. Karlheinz, Sohn eines Chemikers bei der BASF, hatte sein Leben akribisch dokumentiert, kritzelte in winziger Schrift tagebuchartige Einträge auf Zettel und in Taschenkalender. Wer sich die Einträge anschaut, hat ein ähnliches Gefühl wie bei den leeren Paketen: eng beschriebene Seiten, die eigentlich inhaltsleer sind. Jede Anschaffung, vom Hosenknopf bis zur Hotelrechnung, wird einzeln aufgelistet, auch die gelegentlichen Besuche bei Prostituierten sind ordentlich verbucht ( "bei Ingrid, 20 Mark"). Aus den Dokumenten, Fotos und Erinnerungen hat Hutter das Leben des Unbekannten rekonstruiert und ein lesenswertes Buch über das Wesen des Entrümpelns im Allgemeinen und Karlheinz im Speziellen geschrieben ("Karlheinz", Metrolit Verlag).

Billy Hutter_© Tobias Koeck

Nachlassverwalter der anderen Art: Billy Hutter.

(Foto: Tobias Koeck)

In Hutters Heimatmuseum ist das ausgestellt, was von Karlheinz' Leben noch übrig geblieben ist. "Vielleicht hätte ich den ganzen Kram einfach wegschmeißen sollen", sagt Hutter. Seine Familie hat ihn oft gedrängt, die Sachen wegzuwerfen, doch irgendetwas hielt ihn zurück: "Meine Tochter ist quasi mit Karlheinz aufgewachsen, das Thema war immer präsent." Und das, obwohl das Besondere an diesem Leben war, dass es nichts Besonderes gab. Karlheinz war jemand, den man gerne übersieht, eine traurige Randfigur, der Hutter ein Denkmal setzen wollte.

Billy Hutter hat selbst eine leichte Tendenz zum Horten. Im Lauf der Jahre fing er an, Dinge zu sammeln, etwa Murano-Vasen oder Rororo-Leinenrücken-Bände. Doch von diesen Sammlungen hat er sich längst wieder getrennt. Immer wieder träumt er von vollgestellten Wohnungen, überquellenden Schreibtischschubladen und chaotischen Bücherhaufen. Für ihn ist das ein Warnsignal, im echten Leben auf möglichst viele Dinge zu verzichten. "Wenn ich in meinem Beruf eines gelernt habe", sagt er, "dann das: möglichst reduziert zu leben."

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