Porträt:Auf die sanfte Tour

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Der Vielseitige: Ulrich Noethen zählt schon lange zu den besten Schauspielern in Deutschland. Und ist dennoch kein Star geworden. Ein Treffen.

Von Harald Hordych

Pünktlich steht da ein etwas schüchtern wirkender Herr im Café Haberland in Berlin-Schöneberg. Dieses Café passt zu Ulrich Noethen, es ist unspektakulär und unaufdringlich eingerichtet, dabei aber zweckdienlich und von freundlicher Helligkeit. Ulrich Noethen macht keinen Auftritt aus seinem Eintreten, eigentlich macht er das Gegenteil: Er legt einen perfekten Nicht-Auftritt hin. Noethen steht mitten im Raum, nicht weil er Alltagsapplaus sucht, sondern seinen Gesprächspartner. Der mittelgroße, eher schmächtige Mann von 56 Jahren wirkt nicht so, als würde er damit rechnen, gleich um ein Autogramm gebeten zu werden.

Die Sorge wäre auch unbegründet. Niemand gibt zu erkennen, soeben einen der am häufigsten ausgezeichneten deutschen Schauspieler ausgemacht zu haben. Als der freundliche Ulrich Noethen schließlich seine Verabredung begrüßt, tut er es mit der Stimme, die man kennt, die etwas Leises, Weiches hat, darin aber eine fein vibrierende, mühelos jedes Detail akzentuierende Schärfe. Es ist nicht die Stimme eines Exzentrikers, das ist nach den ersten Worten klar, in denen Ungläubigkeit mitschwingt: "Sind Sie extra aus München gekommen?" Sein Gesicht sagt den Rest: doch nicht etwa meinetwegen?

Ulrich Noethen ist so etwas wie die Idealbesetzung des Durchschnittsmannes geworden - und somit fast zwangsläufig des Familienvaters, der sich dem Kampf mit der Pubertät stellt, und zwar in allen fiktionalen Spielarten: Als zum realen Leben erweckte Comicfigur Pettersson, der sich mit einem sprechenden Kater herumschlägt, als etwas einsamer Herr Taschenbier, der unfreiwillig zu einem zaubernden schweinenasigen Gnom namens Sams kommt, oder als Journalist, der unversehens eine Tochter hat, als eine 17-Jährige aus zerrütteten familiären Verhältnissen Aufnahme bei ihm und seinem kranken Sohn findet. Und wen spielt er in "Das Tagebuch der Anne Frank", der Anfang März ins Kino kommt? Kommt keiner drauf.

Sicher, Noethen war auch Heinrich Himmler im "Untergang", der ja im Grunde auch so ein Durchschnittsmensch war, und er war der Dichter Kurt Tucholsky. Aber viel öfter ist er der Mann von nebenan, um den man sich nicht weiter schert. Das prägt natürlich auf Dauer, auch jetzt schaut er auf eine mal belustigte, mal skeptische Weise ein bisschen zerknautscht zum Journalisten, was denn das jetzt hier werden soll. "Ich halte ja dieses Interesse an Schauspielern grundsätzlich für übertrieben. Es steht auch im Widerspruch dazu, dass, wenn es schiefgeht, immer andere von der Kritik angriffen werden, die Regie, die Drehbuchautoren, die Kamera. Die Schauspieler werden heute für das Scheitern nicht verantwortlich gemacht. Ich denke, der Beruf des Schauspielers könnte ruhig wieder etwas gefährlicher werden."

Erstaunlich, dass gerade er das sagt. Wo doch gerade seine Rollen risikolos erscheinen, so wohltemperiert sind sie, so ganz und gar fern von jedwedem extremen menschlichen Abgrund.

Schon gut, undankbarer kann eine Lobrede auf einen Schauspieler wohl kaum beginnen, weil sie jede Brillanz von vornherein auszuschließen scheint. Dabei lässt man außer acht, dass Durchschnittsmenschen in der darstellenden Kunst einen hohen Wert haben, weil sie so viel über uns gewöhnliche Menschen aussagen. Charismatische Persönlichkeiten sind selten. Menschen zuzuschauen, die mit ihren Sehnsüchten, Zweifeln und Bitterkeiten tapfer weiter durchs Leben marschieren - und dabei nicht langweilig sind, sondern berührend und vielschichtig: Da sticht Ulrich Noethen nun mal weit aus der Masse heraus.

Gerade wenn der Durchschnittsmensch vielleicht auf den ersten Blick so aussieht, als sei er eben nur ein etwas zur Körperfülle neigender älterer Herr, von den Strapazen des Lebens schon ein wenig durchgeschüttelt und schiefgehauen, der seinen Beamtenjob möglichst ehrbar, korrekt und unbestechlich erledigt, so einer wie der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Richtig, das ist der, über den es jetzt schon den dritten abendfüllenden Film innerhalb eines Jahres zu sehen gibt.

Der Anlass ist, dass die von Bauer initiierten Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1968 sich fortwährend zum fünfzigsten Mal jähren. Und dass dieser Fritz Bauer mit geheim weitergegebenen Hinweisen dafür gesorgt hat, dass der israelische Geheimdienst den Organisator des bürokratisch organisierten Massenmords an Millionen jüdischen Mitmenschen, Adolf Eichmann, in Argentinien festnehmen und ihm in Jerusalem den Prozess machen konnte. Fritz Bauer ist ein verkannter Held des bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschlands. Als der große, kurz darauf verstorbene Bühnenstar Gert Voss ihn spielte, sah man: den großen Gert Voss, was immer toll ist. Nun spielt ihn Noethen, und man sieht auf einmal den Menschen Fritz Bauer.

Noethen hat aus diesem kettenrauchenden Disziplinmenschen mit schwäbischem Akzent einen einerseits mürrisch die Worte herausmaulenden, andererseits brillant wie besessen laut nachdenkenden Geistesmenschen und ein Schauspielereignis gemacht. Sogar eine andere Nase haben sie Noethen ins Gesicht geklebt. Das ist alles ziemlich heikel und kann fürchterlich schiefgehen, aber Noethens homosexueller jüdischer Generalstaatsanwalt Dr. Bauer, der von vielen Kollegen umgeben war, die aus dem Nazi-Verwaltungsapparat stammten, übersteht diese Verwandlung als ein glaubwürdiger Mensch.

Vernunft, Mäßigung, Bedächtigkeit, Intelligenz, Aufmerksamkeit - das sind so die Attribute, die einem zu Noethens Figuren einfallen. All die Väter-Rollen oder der stille Freund im "Fliehenden Pferd", der so höllisch darunter leidet, dass der ehemalige Klassenkamerad zum Treffen seine mindestens 20 Jahre jüngere, bildhübsche Freundin mitbringt - man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einer wie Noethen immer wichtige Rollen spielt, stützende Rollen, aber dass ihn in Deutschland als Star überhaupt niemand wahrnimmt.

Oder wie sehen Sie das, Herr Noethen?

"Ich werde ja immer gewarnt vor solchen Gesprächen: mach dich nicht kleiner, als du bist. Aber damit habe ich meinen Frieden gemacht. Der Chef der Stuttgarter Schauspielschule, Dr. Felix Müller, der hat für viele Studierende Lebensweisheiten parat gehabt. Ob sie die nun hören wollten oder nicht! Mich mochte er, und ich mochte ihn. Aber einer dieser Sätze, wo ich gedacht habe, so ein Idiot, war: Du bist ein guter zweiter Mann."

Hat das wehgetan?

"Ja, das tat weh. Und dann hat er noch gesagt: Du bist ein guter Wurm, aber kein guter Ferdinand. Kabale und Liebe."

Ferdinand ist der jugendliche Held, Wurm ist der Sekretär des niederträchtigen Vaters von Ferdinand. Man braucht beide.

"Man brauchte beide. Um der Held zu sein, um der Star zu sein, braucht man aber eine gewisse Physis. Bei Fritz Bauer habe ich das Privileg, eine Perücke tragen zu dürfen. Aber wenn Sie sich mal umschauen, wer die Helden spielt, das sind Leute wie Sie, die volles Haar haben. Und nicht solche wie ich, die eine hohe Stirn haben."

Jetzt hat der Herr Möller das damals zu Ihnen gesagt. . .

"Es ist nicht so, dass ich mein Leben danach ausgerichtet habe."

Für seine sparsamen Verhältnisse hat der vernünftige und kluge Ulrich Noethen gerade so etwas wie einen Gefühlsausbruch hingelegt. Er bewegt sich sehr vorsichtig im Gespräch, formuliert bedächtig und manchmal am Rand der Förmlichkeit. Dr. Felix Müller hat er gesagt. Nicht "der Müller". Als er vom nach drei Semestern abgebrochenen Jurastudium erzählt, sagt er mit fast schon streberhafter Genauigkeit: "Ich habe den großen Strafrechtsschein und den großen BGB-Schein gemacht." Schnoddrigkeit geht anders.

Seine Helden sind eher still, wie der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in "Die Akte General". (Foto: SWR/UFA FICTION/Hardy Brackmann)

Überlegt erzählt er von seiner Kindheit in einem Augsburger Pastorenhaushalt als jüngstes von fünf Kindern. Vom Schultheater und vom Dogma der Bescheidenheit in schwäbisch-pietistischen Gegenden und vom Druck, sich gefälligst niemals aufzuspielen und trotzdem den Wunsch nach Spielleidenschaft nachzugeben. Er erzählt von Hang zur Tagträumerei, die einen außerhalb der Disziplin-Gesellschaft stellt und von dem Privileg, bis heute, zehn Jahre vor dem Eintritt ins Rentenalter, wie er ungläubig grinsend sagt, immer noch sehr kindisch sein zu dürfen. In Frank Castorfs erster Inszenierung im Westen hat er mitgespielt. 1989 in Köln zerfetzte Castorf den Hamlet mit Noethen in der Titelrolle. Der Hamlet! Die große Heldenrolle, endlich! Allerdings arbeitete der Rote-Faden-Vernichter Castorf mal wieder so konsequent, dass vom Hamlet und auch von Noethen kaum etwas übrig blieb, nur ein Foto: " Theater heute hat mich ein einziges Mal abgebildet - und das war, als ich kopfüber in der Mülltonne steckte und nur meine Beine zu sehen waren. "

"Die Bäckerblume des deutschen Theater", hat er die Bibel der Theaterleute verschmitzt genannt. Natürlich kann er jetzt darüber lachen. Aber es hätte ja auch schiefgehen können. Denn Noethens Theaterkarriere war 1993 nach drei Stationen beendet, als die Staatlichen Bühnen Berlin pleitegingen und er beschloss, Filmschauspieler zu werden. 33 war er da. Und er nennt es Glück, dass ihm die Auftritte in der ersten Fernsehserie die nötige Bekanntheit brachten, dass er für Vilsmaier "Comedien Harmonists" mit der Rolle des Juden Harry Frommermann gecastet wurde.

Die Rolle in diesem Film war sein Durchbruch. Der erste große Darstellerpreis. Die vielen Filme, die folgen sollten. Die Möglichkeit, als sehr guter Hörbuchleser zu reüssieren. Aber trotzdem fällt ihm sofort wieder ein, wie er am Anfang zu den Filmcastings kam und dabei immer den Eindruck hatte, er müsse zu den Damen am Empfang sagen: "Man sieht es mir vielleicht nicht an. Aber ich bin hier, weil ich Schauspieler bin." Weil ein Schauspieler eine andere Form von Bellezza mitbringt, wie er erzählt. "Ich hatte anfangs oft das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, dass ich da bin. Natürlich wird nicht alles erspielt. Viel bringt man ja auch als Persönlichkeit mit. Dagegen kann ich mich auch nicht mehr wehren. Das ist so. Was nicht heißen soll, dass ich so bin. Die Persona, also das, was durchtönt, ist eben kein strahlender Jupiter. "

Und ist da etwas Verzagtes, als er erzählt, dass er letztes Jahr um diese Zeit schon wusste, dass zwei große Projekte anstehen - und in diesem Jahr eben noch keines? Dass er gern einfach mal nur faul die Wand anstarre. Dass der schauspielernde Mensch immer kämpfen muss, dass Träume zu leben nicht nur schön, sondern auch mit Existenzangst verbunden ist: Bei Noethen spürt man es. Vielleicht macht ihn auch das in seinen Rollen so stark. Das große Missverständnis über Schauspielerei ist ja, dass sie landläufig mit Verstellung in Verbindung gebracht wird. Genau das darf ein guter Schauspieler nicht. Er kann, wenn's drauf ankommt, nichts verbergen.

Es wird wohl noch eine Weile so bleiben, dass Ulrich Noethen ein heimlicher Star in Deutschland ist. Aber nach der Ausstrahlung von "Die Akte General" werden wieder ein paar Menschen mehr wissen, was für ein großartiger Schauspieler dieser Ulrich Noethen ist.

"Die Akte General", ARD, Mittwoch, 20.15 Uhr

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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