Philosophischer Alltag:Uralter Ratgeber

Philosophischer Alltag: "Diese Leute nennst du der Muße ergeben, deren ganze Tätigkeit zwischen Kamm und Spiegel geteilt ist": Seneca macht sich hier auch über jene Männer lustig, die ständig nur daran denken, dass ihre Frisur richtig sitzt.

"Diese Leute nennst du der Muße ergeben, deren ganze Tätigkeit zwischen Kamm und Spiegel geteilt ist": Seneca macht sich hier auch über jene Männer lustig, die ständig nur daran denken, dass ihre Frisur richtig sitzt.

Wir haben alle ein Zeitproblem, Stunden und Tage zerrinnen zwischen unseren Fingern. Was ist da los? Warum ist das Leben so verdammt kurz? Statt der modernen Ratgeberliteratur fragen wir doch lieber mal Seneca.

Von Christian Mayer

Wie schön war doch das Leben, als es noch kein Internet, keine sozialen Netzwerke, keinen Selbstoptimierungswahn und keinen Freizeitterror gab. Wie viel Zeit hatte man für die wesentlichen Dinge. Eine typische Klage der dauergestressten Menschen im 21. Jahrhundert?

Ach was, das Thema ist uralt, älter als die gesamte moderne Ratgeberliteratur, die man getrost zur Seite legen kann. Schlagen wir lieber bei Seneca nach, dem Großmeister der Weltweisheit. Der Vorteil bei diesem Autor: Er ist eher sparsam mit Worten, hält nichts von Satzungeheuern und rhetorischen Spielchen, sondern kommt immer auf den Punkt. Keiner kennt die Schwächen seiner Leser besser als er.

"Von der Kürze des Lebens" heißt das schlanke Büchlein, das gerade in 12. Auflage bei dtv erschienen ist. Seneca spricht hier einen gewissen Paulinus an, dem er rät, wie er seine Zeit besser nutzen kann, doch im Grunde sind wir alle die Adressaten. Wir, die Überbeschäftigten und von der Fülle der Aufgaben Überforderten, die vergessen haben, wie man gut lebt, weil ständig etwas vermeintlich Wichtiges dazwischen kommt. Berufliche Verpflichtungen, falsche Freunde, Ehestreitigkeiten, krankhafte Eitelkeit und "dienstbeflissenes Umherrennen" (damals gab's kein Whatsapp) rauben uns Zeit und Kraft, und noch schlimmer ist die Gier nach Erfolg, Geld, Wildschweinbraten und anderen saftigen Genüssen. Arme Hedonisten: "Die Tage verlottern sie in Erwartung der Nacht, die Nacht in der Furcht vor dem Tage." Ja, Seneca ist ein strenger Lehrer, aber er zielt ja auch auf eine vergnügungssüchtige, narzisstisch veranlagte Generation, die im Zeitalter von Caligula und Nero jegliches Maß verloren hat.

Seneca spricht die Satten und zugleich Unzufriedenen direkt an, vor allem jene Erfolgsmenschen, die sich ständig darüber beklagen, keine Zeit mehr für sich zu haben. Die Lebenszeit sei an sich reichlich bemessen: "Leben zu lernen, dazu gehört das ganze Leben, und, was du vielleicht noch wunderbarer finden wirst, sein Leben lang muss man sterben lernen." Was daraus folgt? Seneca fordert seine Leser auf, sich nicht damit zu vertrösten, dass ja später noch genügend Zeit ist, sein Leben zu ändern (spätestens bei der Pensionierung) - das wird nie der Fall sein, wenn man das Vergangene vergisst, die Gegenwart verträumt und vor der Zukunft Angst hat.

Wo aber findet der Mensch, der ein Sklave seines Terminkalenders geworden ist, Trost und Ermunterung? Bei den Philosophen, genauer gesagt: den griechischen Stoikern, die den Weg zur inneren Freiheit, zur Selbstgenügsamkeit und zur Gelassenheit weisen. Lässt man sich auf sie ein, sagt Seneca, gewinnt man Freunde fürs Leben. Freunde, die man jederzeit fragen kann, "keiner wird irgend einen mit leeren Händen von sich weggehen lassen, gleichviel ob des Nachts oder am Tage - jedermann kann sie immer besuchen".

Eine erkenntnisreiche Lektüre, selbst wenn man meint, eigentlich keine Zeit zum Lesen zu haben. Vielen Dank, Seneca.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: